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Theodor Ickler: Die Rechtschreibreform ist bankrott

 
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Manfred Riebe



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Beitrag: Sonntag, 28. Dez. 2003 21:14    Titel: Theodor Ickler: Die Rechtschreibreform ist bankrott Antworten mit Zitat

Theodor Ickler: Die Rechtschreibreform ist bankrott
Die Öffentlichkeit war nicht über den vollen Umfang der Reform unterrichtet
„Wer kollaboriert, kann hinterher nicht gut protestieren.“
____________________________________________________________

Wie wir schreiben sollten - Die Rechtschreibreform ist bankrott
Die Erneuerung der deutschen Orthographie stürzt nicht über ihre Lächerlichkeit, sie geht an ihren Widersprüchen zugrunde
/ Von Theodor Ickler

Es gibt Brücken, über die keine Straßen führen, Kernkraftwerke, die nie in Betrieb gingen, und Jahrhundertromane, die den Schreibtisch nie verließen. Zu den gigantischen Bauruinen gesellt sich nun die Reform der deutschen Rechtschreibung. Mehrere Jahrzehnte wurde daran gebastelt, Hunderte von Experten wurden bemüht, und am Ende wurde ein zum Reförmchen geschrumpftes Werk gegen massiven öffentlichen Widerstand mit Hilfe der politischen Exekutive durchgesetzt. Es bedurfte offenbar des praktischen Umgangs mit der Reform, daß den wirklich Betroffenen deutlich wurde, was ihnen angetan wird. Die Folgen sind offensichtlich: so sehr, daß die beiden dominierenden Wörterbücher sich selbst und einander widersprechen. Nun erst formiert sich ein Widerstand, der weit stärker und artikulierter ist, als alle Proteste gegen das Unternehmen waren. Der Erlanger Linguist Theodor Ickler zieht das Resümee. F.A.Z.

„Orthographie ist das Haxl, bei dem die Schullehrer das Schreiben erwischt zu haben meinen, und es also da festhalten; es hinkt dann freilich bei ihnen auf den drei übrigen Beinchen. Dudens deutsche Rechtschreibung ist das dümmste deutsche Buch.“ Nun, es gibt, wie wir sehen werden, dümmere Bücher als den Duden, aber in Heimito von Doderers bissiger Bemerkung hat die deutsche Haßliebe zur Rechtschreibung ihren dichtesten Ausdruck gefunden. Besonders seit der Vereinigung der Schulrechtschreibung mit dem „Buchdruckerduden“ (1915) beherrscht niemand mehr das immer komplizierter gewordene Regelungswerk, aber als Waffe, mit der man jederzeit dem lieben Mitmenschen eins auswischen kann, erfreut sich der Duden anhaltender Beliebtheit. Als vor einem Vierteljahrhundert der emanzipatorisch gesinnte Zeitgeist einen Weg zu weisen schien, den Schullehrern diese Geißel zu entwinden, waren viele begeistert, während andere naturgemäß den Untergang des Abendlandes heraufziehen sahen. Ein von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft beherrschter Kongreß „vernünftig schreiben“ (1973) lenkte die scheinbar radikalen, in Wirklichkeit denkbar bescheidenen Wünsche der zweihundert, wie es hieß, „reformwilligen“ Teilnehmer auf die Einführung der Kleinschreibung: „Die reaktionäre großschreibung fällt nicht, wenn wir sie nicht niederschlagen!“ Wer ein gutes Wort für das Bestehende einlegte, war „dem traditionellen bildungserbe der kaiserzeit verhaftet“. Das war verrückt, aber es hatte immerhin Stil und Schwung.

Dann kam die Epoche der Kommissionen und Unterkommissionen. Forschungsarbeiten wurden angeregt, und sie brachten Erstaunliches zutage: Die deutsche Rechtschreibung ist nicht so dumm, wie sie auf den ersten Blick aussieht, es steckt eine geheime, von den Schreibenden intuitiv gefundene Rationalität darin - wie in der Sprache selbst.

Schreiben für Leser

Hatte man gerade noch in blanker Naivität die eindeutige Zuordnung von Laut und Buchstabe gefordert - mit der gefällig schlichten Konsequenz „Schreib, wie du sprichst!“ -, so sah man nun ein, daß die Rechtschreibung noch andere Ziele verfolgt. Man kann nämlich nicht alles schreiben, was man spricht, und zum Ausgleich schreibt man manches, was nicht gesprochen wird. Wir schreiben Kind, obwohl man weder den Großbuchstaben noch das stimmhafte t am Ende hört, und doch ist beides tief sinnvoll und ein gewaltiger Fortschritt gegenüber kint, wie unsere Vorfahren im Mittelalter zu schreiben pflegten. Das d verdankt sich dem „Stammprinzip“: Der eigentliche Wortstamm, Träger der Bedeutung, endet, wie man an Kindes, Kinderei usw. sehen und hören kann, tatsächlich auf d; das t der Grundform ist bloß die automatische Folge einer die ganze deutsche Sprache durch herrschenden mechanischen Regel, der sogenannten „Auslautverhärtung“. Daraus lernt man zweierlei: Eine kultivierte Rechtschreibung dient dem Leser, denn sie macht die Bedeutung für das Auge sinnfällig. Für den Schreiber jedoch stellt sie eine Erschwernis dar, denn sie setzt nichts Geringeres voraus als eine fast schon wissenschaftliche Analyse der Sprache.

Und die Großschreibung der Substantive? Die zeigt dem Auge, von welchen konkreten oder abstrakten Gegenständen in einem Text die Rede ist. Sehr sinnvoll auch dies.

Noch ein drittes Prinzip wurde allmählich anerkannt: die Unterscheidungsschreibung. Wiederum hört man keinen Unterschied zwischen das und daß, seid und seit, faßt und fast. Es ist kein Zufall, daß dem Leser gerade im Kernbestand der allerhäufigsten Wörter diese Orientierungshilfe gegeben wird. Der Schreibende muß natürlich um so mehr lernen, ja manchmal sogar nachdenken.

Das sind die wichtigsten Grundsätze der deutschen Rechtschreibung; andere, wie die Loyalität gegenüber den Herkunftssprachen, die uns solche Schrecknisse wie Diphthong aufs Papier bringen heißt, sind im Grunde unwesentlich, auch wenn die Fremdwortschreibung am ehesten geeignet ist, Laien und Kultusminister auf die Palme zu bringen.

Was brachte nun die Rechtschreibreform, deren Scheitern wir gerade erlebt haben? An der Zuordnung von Lauten und Buchstaben sollte sich nicht viel ändern. Am auffälligsten war die Ersetzung des ß durch ss nach betonten kurzen Vokalen: Hass, fasst und so weiter. Bisher galt: Doppel-s kann nicht vor Konsonanten und am Wortende stehen, sondern wird in diesen Fällen durch ß ersetzt. Wenn also ein Doppel-s wie in Wasser durch die Wortbildung plötzlich vor einem Konsonanten zu stehen kam wie in wäßrig, dann trat automatisch ß ein. Ebenso am Wortende: hassen, aber Haß. Das war eigentlich nicht so schwer zu lernen. Die Neuregelung machte die Verdoppelung von Konsonantenbuchstaben etwas systematischer. Die Freude darüber wurde allerdings stark gedämpft, wenn man erfuhr, daß es nicht weniger als acht Gruppen von Ausnahmen gab, bei denen nach kurzem betontem Vokal dennoch kein Doppelkonsonant stand, sowie vier Gruppen von Ausnahmen, bei denen trotz Unbetontheit des Vokals ein nachfolgender Konsonantenbuchstabe verdoppelt wurde. Die höchst sinnvolle Unterscheidungsschreibung das/dass sollte in dieser neuen Gestalt erhalten bleiben, obwohl mindestens einer der Reformer sie bis zuletzt bekämpft hatte, weil sie in der Tat seit je für einen ganz großen Teil der Rechtschreibfehler verantwortlich war. Ein Hauptanliegen der Reformer war die Ausdehnung der Stammschreibung auf weitere Wörter. Durch Erfahrungen mit der Durchsetzbarkeit gewitzigt, beschränkten sie ihre Neuerungen allerdings auf selten gebrauchte Wörter wie Bändel (wegen Band) und Gämse (wegen Gams), während sie an die Eltern (trotz alt) nicht Hand anzulegen wagten. Immerhin bescherten sie uns behände, schnäuzen und Stängel, obwohl kaum jemand bei diesen Wörtern an Hand, Schnauze und Stange denken dürfte. Dazu natürlich die bewußt falschen Verknüpfungen, die durch Schreibungen wie einbläuen, Quäntchen und Tollpatsch nahegelegt werden - eine Apotheose der Halbbildung, die viel Heiterkeit, aber auch Unmut hervorrief. Es ist erstaunlich, daß man von solchen Mätzchen partout nicht abzurücken bereit war, obwohl sie offensichtlich die Gefahr bargen, dem ganzen Unternehmen einen vorzeitigen Tod durch Lächerlichkeit zu bereiten. Heute sehen wir, daß die Ausweitung der Stammschreibung ein Irrweg war. Bringt man den Schreibenden erst einmal auf die Suche nach möglicherweise stammverwandten, umlautfähigen anderen Wörtern, so ist kein Halten mehr: sätzen (wegen Satz), märken (Marke) und so weiter - warum nicht? Nur Mut!

Daß in Zusammensetzungen wie Betttuch alle drei Konsonantenbuchstaben künftig geschrieben werden sollten, war vernünftig. Aber warum sollte weiterhin Knien, geschrien und so weiter geschrieben werden, ohne das zweite, das eigentlich hörbare e? (Ein ähnliches Nebeneinander von logischer Pedanterie und Großzügigkeit war in der Zeichensetzung zu finden: Der Abkürzungspunkt galt weiterhin als Schlußpunkt, aber auf das Frage-oder Ausrufezeichen der wörtlichen Rede sollte noch ein Komma folgen: „Komm!“, rief er.)

Rad fahren (wie Auto fahren) war in Ordnung, das sah wohl jeder. Aber das Problem der Getrennt- und Zusammenschreibung liegt tiefer. Im Deutschen haben wir eine sehr große und ständig noch anwachsende Zahl von sogenannten „trennbaren Verben“ wie aufsteigen, die nur im Infinitiv und Partizipzusammengeschrieben werden, sonst aber getrennt: Ich steige auf. Es war noch nie klar, welche Verben zu dieser Gruppe zu zählen sind: nebeneinandersitzen, klavierspielen? Genaugenommen ist der Begriff der „trennbaren Zusammensetzung“ ein Unding, und die sauberste Lösung wäre zweifellos, alles, was in irgendeiner Stellung getrennt geschrieben wird, immer getrennt zu schreiben. Andererseits würde man damit wichtige Bedeutungsunterschiede nicht mehr durch die Schreibung zum Ausdruck bringen, und das wäre auch wieder schade. Von der Bedeutung als Unterscheidungskriterium hielten die Reformer allerdings nicht viel, sie bevorzugten rein formale Kriterien: Wenn der erste Teil einer Wortfügung weder gesteigert noch erweitert werden kann, sollte zusammengeschrieben werden. Also schwer fallen, weil man sagen kann: Es fällt mir sehr schwer oder es fällt mir schwerer, am schwersten. Das ist einleuchtend; andererseits geht dabei aber der Unterschied zu schwer fallen (= einen schweren Sturz erleiden) verloren, ein Unterschied, der sich normalerweise auch durch verschiedene Betonungsverhältnisse bemerkbar macht und insofern durchaus auch ein formaler Unterschied ist. Dafür hatten die Reformer aber keinen Sinn. Dies erklärt zum Beispiel, warum übrig bleiben getrennt geschrieben werden sollte wie artig grüßen, obwohl jedes gesunde Ohr hört, daß eine solche Analogie überhaupt nicht möglich ist.

Nach derselben Regel sollte man schreiben schwer behindert, aber schwerstbehindert. Neben anderen Einwänden war hier der Einspruch der Juristen zu erwarten, denn schwerstbehindert im Sinne des Schwerbehindertengesetzes ist jemand, dessen Erwerbsfähigkeit um mindestens 50 Prozent gemindert ist, während die rein beschreibende Wortgruppe schwerbehindert nur die subjektive Einschätzung durch den Sprecher ausdrückt. In ähnlicher Weise sollten aus den allgemeinbildenden Schulen allgemeinbildende werden. Die Kultusminister hatten es unterschrieben.

Nach dem Scheitern der Kleinschreibung bekehrte man sich zu vermehrter Großschreibung, um die Zahl der Problemfälle zu verringern. Substantive verlieren in bestimmten Wendungen nach und nach ihren substantivischen Charakter: Ich lese Buch, kann man nicht sagen, wohl aber Ich führe Buch, und in dieser Wendung ist schon gar nicht mehr an ein richtiges Buch gedacht, das durch das „Substantiv“ Buch bezeichnet würde. Die Reform wollte viele Wörter, die längst keine konkreten oder abstrakten Gegenstände mehr bezeichnen, durch Artikel oder Präpositionen aber noch als Substantive gekennzeichnet sind, groß geschrieben wissen: auf Deutsch, im Allgemeinen. Aber damit verschob man nur die Grenzen ein wenig und meist in unvorhersehbarer Weise: auf Grund, aber nicht zu Liebe, aufs Schönste, aber nicht am Schönsten und so weiter. Zudem waren in vielen Fällen, aber beileibe (bei Leibe? Nein!) nicht in allen Varianten zur Wahl gestellt, so daß man hätte lernen müssen, was jeweils erlaubt war und was nicht.

Eigennamen und singuläre Bezeichnungen sollten weiterhin groß geschrieben werden. Die Abgrenzung gelang aber nicht, und schiere Willkür war die Folge: der Heilige Vater, das hohe Haus (= Parlament), die Große Strafkammer, die erste Hilfe. Wiederum wurde auch der Unterschied zwischen beschreibenden Ausdrücken (erste Hilfe = jede zuerst geleistete Hilfe) und neuen Kategorien (Erste Hilfe = besondere, in Kursen erlernbare Technik, deren Unterlassung strafbewehrt ist) durch die einheitliche Kleinschreibung verwischt, nach dem leserunfreundlichen Vorsatz der gesamten Reform.

Die Fremdwörter sollten ursprünglich weit stärker eingedeutscht werden, doch hatten die Kultusminister dies verhindert. Zugelassen wurden eine Reihe von Nebenformen: „Grafologie, Delfin, Buklee, Katarr, Panter, Tunfisch, Spagetti“. Daran hätte man sich wohl bald gewöhnt. Andererseits ist unsere Zeit weiteren Eindeutschungen nicht mehr so günstig, wegen der Allgegenwart des Englischen und anderer Fremdsprachen. Spaghetti ißt man beim Italiener, und so haben sich unsere italienischen Nachbarn denn auch schon über den Provinzialismus gewundert, das h weglassen zu wollen. Im Prinzip ist aber gegen Eindeutschungsversuche nichts einzuwenden, auch wenn sie bei vielen Leuten auf wenig Gegenliebe stoßen. Warum allerdings der längst eingedeutschte Tschardasch nicht mehr zulässig sein sollte, stattdessen aber Csardas (ohne Längenzeichen), war nicht recht einzusehen.

Hier ist vor allem die weitgehende Freigabe der Kommasetzung zu erwähnen, was allerdings dazu führte, daß Texte der Reformer selbst gelegentlich so aussahen, als seien die Kommas mit der Streusandbüchse über den Textverteilt worden. Die Entgrammatisierung der Kommasetzung zugunsten subjektiver „Akzentsetzungen“ führte in archaische Epochen der Schreibkunst zurück und schrie geradezu nach neuen Empfehlungen, wie sie, ohne Verbindlichkeit natürlich, der Duden zu geben versuchte.

Bertelsmann oder Duden?

Seit Sommer 1996 liegen zwei umfangreiche Rechtschreibwörterbücher vor. Bertelsmann war zuerst auf dem Markt, aber man merkt nur zu bald, daß es sich hier um einen Schnellschuß handelt. Schon aus dem Geleitwort springt dem Leser ein Rechtschreibfehler entgegen: soweit wie irgend möglich. Das Bertelsmann-Wörterbuch ist allerdings im Gegensatz zum Duden nicht imstande, den Unterschied zwischen soweit und so weit (wie) zutreffend zu erklären.

Knüppeldick kommt es dann in der kurzen, mit falschen Zitaten und Stilblüten verzierten „Geschichte der Rechtschreibung“ und in der Überblicksdarstellung des Bearbeiters. Er schreibt, die deutsche Sprache sei die Einzige auf der Welt, die Substantive groß schreibe. Hier muß einzige natürlich klein geschrieben werden. Der Autor weiß auch zu erzählen, 1901 habe man aus allen deutschen Wörtern das th entfernt und durch t ersetzt, nur nicht in Thron, „wohl auf Drängen des Kaisers“. Aber Thron ist griechisch, so daß es wie Theater usw. in jedem Falle sein th behalten durfte. Magnet hält der Bearbeiter für romanisch. In beiden Fällen weiß das Wörterverzeichnis es besser. Im übrigen stürzt aber dieses Wörterverzeichnis den Benutzer in tiefe Ratlosigkeit. Scientiarium wollen wir gnädig für einen Druckfehler halten, auch wenn es gleich zweimal vorkommt. Aber Bertelsmann verlangt zum Beispiel die Schreibung Alma mater, obwohl im amtlichen Regelwerk just Alma Mater auch unter dem richtiggeschriebenen Stichwort Ultima Ratio als weiteres Beispiel zitiert wird. Corpus delicti und Corpus iuris sind auch falsch. Bertelsmann erklärt, daß und warum man schreiben soll: an Eides statt. Aber wenige Zeilen später wird gelehrt: an Eides Statt.

Bertelsmann schreibt vor: glatthobeln, glattgehen, gleichbleiben usw., hochbegabt, hochgestellte Persönlichkeiten, hochgewachsen, hochachten/schätzen und viele andere, die getrennt geschrieben werden müssen, da der erste Bestandteil erweitert oder gesteigert werden kann. In allen diesen Fällen weicht der Duden ab und hat recht.

Besonders groß sind die Abweichungen bei der Worttrennung. Keines der beiden Wörterbücher führt alle Trennmöglichkeiten an. Duden erklärt dazu ganz offen, daß er oft nur diejenige Variante angibt, „die von der Dudenredaktion als die jeweils sinnvollere angesehen wird“. Bertelsmann verfährt ohne eine derartige Erklärung grundsätzlich ebenso. Duden sieht nur die Trennung abs-trakt vor, Bertelsmann kennt abs-trakt und ab-strakt. Umgekehrt läßt sich Reneklode laut Duden auf zwei Weisen trennen: Renek-lode (ja, tatsächlich so!) und Rene-klode; Bertelsmann kennt nur letzteres.

Duden trennt bevorzugt A-nämie und verweist auf die Regel, die eine andere Trennung zuläßt, kennt aber nur An-algesie, obwohl in beiden Wörtern dasselbe Negationspräfix an- enthalten ist; Bertelsmann hat außerdem noch die Trennung A-nalgesie. Dieser Zustand war völlig unhaltbar. Was sollte der Lehrer tun, wenn ein Schüler ihm mit einer Schreibung kam, die nicht im Wörterbuch steht, nach den amtlichen Regeln aber ableitbar gewesen wäre, zum Beispiel mit der Worttrennung abst-rakt? Natürlich spiegeln beide Wörterbücher auch die Ungereimtheiten der amtlichen Vorlage getreulich wider. Grizzlybär soll als Grislibär eingedeutscht werden; nach den Regeln müßte es Grissli heißen(Verdoppelung des s nach kurzem betontem Vokal).

Von den Hauptforderungen, mit denen die neuere Reformbewegung vor einem Vierteljahrhundert angetreten war, war in der Neuregelung fast nichts mehr zu finden. Die Kleinschreibung war seit langem vom Tisch. Die Schwierigkeit der das/daß-Unterscheidung war genau dieselbe wie seit je, und das läßt sich auch nicht ändern, wenn man die Interessen des Lesers nicht ganz verraten will. Groß- und Kleinschreibung sowie Getrennt- und Zusammenschreibung blieben so schwierig wie eh und je, es war zu keiner überzeugenden Lösung gekommen, und vielleicht ist sie gegenwärtig überhaupt nicht erreichbar.

Die neue Rechtschreibung war vielleicht geringfügig besser als die alte, obwohl diesem Vorteil auch neue Mängel entgegenstanden, so daß ein Aufrechnen schwerfiel. Verbesserungen in selten betretenen Randgebieten dürfen auch nicht überbewertet werden. Das auf den ersten Blick so angenehm liberale Zulassen mehrerer Varianten, besonders auf dem Gebiet der Eindeutschung, der Groß- und Kleinschreibung sowie der Getrennt- und Zusammenschreibung, erwies sich bei näherem Zusehen als Erschwernis, da es den Lernstoff vervielfachte. Gerade im Kernbereich änderte sich kaum etwas- die vielgerühmte „Behutsamkeit“! Unter diesen Umständen mußte aber gelten: „In dubio pro reo“, und der Angeklagte war hier die alte Rechtschreibung. Man mußte an die Masse des bereits Gedruckten denken, an die 100 Millionen Bürger deutscher Zunge, die sich an die geltende Rechtschreibung gewöhnt hatten, an die Umstellungsschwierigkeiten für Tausende von Registern und Katalogen, an die Kosten für die Neuanschaffung von Wörterbüchern, Schulbüchern und Software, an die erwähnten Schwierigkeiten mit Fachbegriffen.

Die Revolte

Und doch war alles so gut eingefädelt. Die rechtzeitige Einbeziehung der Kultusbürokratien nahm der stets zu fürchtenden Kritik von politischer Seite den Wind aus den Segeln: Wer kollaboriert, kann hinterher nicht gut protestieren. Da die Kultusminister selbst sich für den Inhalt der Reform nicht interessieren, bestand allerdings die Gefahr, daß sie sich später blamieren würden. Und sie taten es. Die jüngste Lachnummer des hessischen Kultusministers ist noch in frischer Erinnerung: Er kreidete dem Duden die Worttrennung ext-ra als eigenmächtige Pfuscherei an, obwohl sie doch zu den nachgerade allbekannten Neuerungen der Reform selbst gehörte. (Daß dieser Minister in seltsamer Verdrehung der wirklichen Verhältnisse den Duden abkanzelte und die Bertelsmann-Rechtschreibung rühmte, gehört zu den Rätseln, deren Lösung wohl eine ganz andere Art von Kenntnissen erfordert, als sie dem arglosen Linguisten zur Verfügung steht.)

Nur wenigen Zeitgenossen fiel der Widerspruch auf, der zwischen der groß herausgestellten Geringfügigkeit der Änderungen und der Behauptung bestand, die Reform sei längst überfällig und dürfe keinesfalls scheitern. Sehr geschickt wurde auch die Vorstellung von einem Zeitdruck suggeriert, unter dem man stehe. Inhaltlich, so hieß es nach der Wiener Konferenz, solle nun nicht mehr diskutiert werden, nur noch die Formalitäten und Termine der „Durchsetzung“ stünden zur Debatte. In Deutschland wurde verbreitet, wenn wir jetzt noch lange diskutierten, würden die Nachbarstaaten Schweiz und Österreich nicht mitmachen. Das war gelogen, aber es wirkte. Nach der „Frankfurter Erklärung“ vom Oktober 1996 hieß es: „Zu spät!“ Es wurde daran erinnert, daß die Abc-Schützen in einigen Bundesländern bereits nach der neuen Rechtschreibung unterrichtet würden - ein sehr schwaches Argument, da die Kinder drei Wochen nach ihrer Einschulung noch längst nicht so weit waren, daß die neuen Regeln sie überhaupt betroffen hätten. Die älteren Kinder hätte man ehrlicherweise warnen müssen, während der nächsten Jahre nicht zu viel zu lesen; es hätte ihre Rechtschreibleistungen verwirrt und zu Ärger Anlaß gegeben.

Zu keinem Zeitpunkt war die Öffentlichkeit über den vollen Umfang der Reform unterrichtet, bevor die jeweiligen Beschlüsse gefaßt wurden. Das für die Beurteilung unentbehrliche Wörterverzeichnis war noch längere Zeit in Arbeit, und auch das Regelwerk befand sich in ständiger Umarbeitung. Den Kritikern der bekanntgewordenen Neuerungen wurde die Reform übergestülpt, wie es bei Franzosen und Engländern unvorstellbar gewesen wäre.

Natürlich spielte, wie überall, auch das Geld eine wichtige Rolle. Einige Reformer vermarkteten ihr Insiderwissen sehr fix auf eigene Rechnung, was sie aber nicht hinderte, dem Duden seine kommerziellen Interessen anzukreiden. Die staatlichen Stellen wollten von Kosten nichts wissen. Und doch liefen in diesem Punkt alle Fäden zusammen. Paradox genug: Die Reform sollte „kostenneutral“ sein, aber am Ende erwiesen sich die bereits verursachten Kosten als letztes Argument dafür, die Reform doch noch durchzusetzen. „Nicht mehr zu stoppen!“ hieß es mit gespielter Schicksalsergebenheit aus den verantwortlichen Kultusbürokratien. Aber das kannte man schon vom schnellen Brüter, von Wackersdorf und anderen Investitionsruinen, die nicht mehr gestoppt werden konnten, bevor sie gestoppt wurden. Als die Leute dies merkten, war es mit der Reform vorbei.

Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 238, Samstag, 12. Oktober 1996, Feuilleton, S. 36, http://www.faz-verlag.de/IN/INtemplates/Verlag/text_rsf.asp?rub=
____________________________________

Theodor Ickler, geboren 1944, ist Professor für Germanistische Linguistik und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er referierte 1997 vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages über die Rechtschreibreform sowie 1998 vor der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung in Mannheim und vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Er vertrat in Mannheim die bundesweite Initiative „Wir Lehrer gegen die Rechtschreibreform“ - www.raytec.de/rechtschreibreform/ - und in Karlsruhe den Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V. sowie erneut die bundesweite Lehrerinitiative. Theodor Ickler erhielt den Deutschen Sprachpreis des Jahres 2001 für seine „konstruktive Kritik“ der mißglückten Rechtschreibreform und für seine „vorbildliche Darstellung“ der bewährten Rechtschreibung: www.deutsche-sprachwelt.de/sprachwahrer/sdj-ickler.shtml

Veröffentlichungen Theodor Icklers: www.vrs-ev.de/literatur.php#rsr

Einen besseren Berater hätte sich der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair
www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=170
www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=112
nicht wünschen können. Leider zog er Ickler nicht zu Rate, sondern hörte auf inkompetente Ministerialbeamte und CSU-Strategen.


Anmerkung:
In den VRS-Links wurde „viewtopic“ durch „themaschau“ ersetzt, damit sie wieder funktionieren.


Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Samstag, 05. Jun. 2010 14:44, insgesamt 1mal bearbeitet
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Manfred Riebe



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Beitrag: Freitag, 07. Mai. 2004 19:46    Titel: „Rechtschreibreform in der Sackgasse“ Antworten mit Zitat

„Rechtschreibreform in der Sackgasse“

Viele Grammatiken sind nach der RSR umgeschrieben worden, und die Verfasser verleugnen oft ihr besseres grammatisches (!) Wissen, um nicht mit der Reform in Widerspruch zu geraten. Das ist besonders beschämend. In der 2. Auflage meines Buches „Regelungsgewalt“ steht was darüber, auch hier auf den Rechtschreibseiten verstreut, vor allem zur Dudengrammatik, und im nächsten Buch, „Rechtschreibreform in der Sackgasse“ (im Druck) gibt es noch mehr davon. Leider kann ich nicht alles hier wiederholen, aber es ist, das kann ich schon mal sagen, eines der traurigsten Kapitel der Wissenschaftsgeschichte. Zur Germanistik insgesamt möchte ich fast sagen: „kann wegfallen“.
__________________
Th. Ickler
06.05.2004 16.24

Forum > Rechtschreibforum > „Neue“ Grammatik > Gibt es
http://www.rechtschreibreform.de/php/einzelner_Datensatz.php?BeitragNr=22887
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Manfred Riebe



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Beitrag: Dienstag, 27. Jul. 2004 13:12    Titel: Der Kaiser ist tatsächlich nackt Antworten mit Zitat

Der Kaiser ist tatsächlich nackt
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Allgegenwärtige „alte“ Rechtschreibung


Es gibt zahllose Gründe, den Anschluss an die Erwachsenenorthographie wiederherzustellen. Der wichtigste ist, dass die lesende Bevölkerung es will und nie etwas anderes gewollt hat. Sie befindet sich damit in Übereinstimmung mit allen unabhängigen Fachleuten, die der bewährten Rechtschreibung höchste Leserfreundlichkeit und Ausdruckskraft zubilligen. Befürchtungen, der mutige Schritt der F.A.Z. könnte das Durcheinander noch vermehren, sind unbegründet und werden auch fast überall nur zur Stimmungsmache benutzt. In Wirklichkeit ist die zu Unrecht „alt” genannte Orthographie ja noch allgegenwärtig, sie beherrscht die gesamte seriöse Literatur außerhalb des engen Bereichs der Schul- und Kinderbücher und ist den Menschen auch noch hinreichend vertraut. Die vollständige Rücknahme ist also leicht möglich. Nur auf diese Weise lässt sich auch der „Rechtschreibfriede” wiederherstellen; niemand bezweifelt doch wohl, dass die herkömmliche Rechtschreibung, wenn man sie von den bekannten Duden-Haarspaltereien befreit, eine konsensfähige Grundlage für gegenwärtiges und künftiges Schreiben ist. Andernfalls würde es zu einem unendlichen Herumbasteln am misslungenen neuen Regelwerk kommen. Warum das so ist, erklärt sich aus der Vorgeschichte der Reform. Die Verfasser wollten jahrzehntelang etwas ganz anderes: Kleinschreibung, durchgreifende Fremdworteindeutschung, Tilgung der Dehnungszeichen und schließlich die Einheitsschreibung „das” (auch für die Konjunktion). Daran hat sich seit dem denkwürdigen Frankfurter Kongress der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft „vernünftiger schreiben” (1973) nichts geändert. Nachdem ihnen die Kultusbürokratie alle diese Ziele aus der Hand geschlagen hatte, arbeiteten sie schnell und lieblos etwas anderes und im Wesentlichen gerade das Gegenteil ihrer Herzenswünsche aus, um nicht mit leeren Händen dazustehen. Und dieses liederliche Flickwerk verteidigen sie jetzt mit allen verbliebenen Kräften, weil sie mit Recht den Augenblick fürchten, da die Gunst der Politiker sich von ihnen abwendet und alle Welt nicht nur sieht, sondern auch ausspricht, dass der Kaiser tatsächlich nackt ist.

Professor Dr. Theodor Ickler, Spardorf

FAZ vom 29. Juli 2000
www.faz-verlag.de/IN/INtemplates/Verlag/text_rsf.asp?rub={B9371331-640A-11D4-
B990-009027BA226C}&doc={5EEADA4E-64B6-11D4-A3B0-009027BA22E4}
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Manfred Riebe



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Beitrag: Samstag, 20. Nov. 2004 16:22    Titel: „Das ist ein Dammbruch“ Antworten mit Zitat

„Das ist ein Dammbruch“
Der Rechtschreibreformkritiker Theodor Ickler über die Rückkehr der FAZ zur alten Rechtschreibung und die politischen Hintergründe der Reform

Herr Professor Ickler, Sie sind einer der bekanntesten Rechtschreibreformgegner. So sind Sie etwa 1998 vom Bundesverfassungsgericht als Vertreter der Reformkritiker zur Anhörung geladen worden und haben Beiträge unter anderem für FAZ und „Welt“ geschrieben. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie nun erfahren haben, daß die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ die alte Rechtschreibung wieder einführt?

Ickler: Ich war nicht ganz so überrascht, da ich von den Vorbereitungen wußte. Ich freue mich allerdings sehr, daß eine der großen deutschen Zeitungen den Anschluß an die Erwachsenenorthographie, wie sie eben in der Literatur und von zig Millionen erwachsenen Menschen noch benutzt wird, wiederhergestellt hat.

Ist das nun der Sieg der alten Rechtschreibung?

Ickler: Das ist noch schwer zu sagen. Aber wir wissen, daß nun auch in vielen anderen Redaktionen nachgedacht wird. Ich glaube aber, das Vorbild der FAZ wird seine Wirkung tun. Diesen Schritt halte ich für ein ganz entscheidendes Ereignis, das ist ein Dammbruch und ich persönlich glaube, daß er zum baldigen Ende Rechtschreibreform beitragen wird.

Im „Spiegel“ vergangener Woche haben Sie gesagt, uns drohe nun „die Reform der Reform“?

Ickler: Ja, das sind die Korrekturen, die noch von den Reformern selbst bei der politisch durchgepeitschten Verabschiedung der Reform angemahnt wurden. Daneben gibt es aber tatsächlich auch den Gedanken, die Reform umfassend noch weiter zu revidieren. Bei jeder Korrektur entstehen genau dieselben hohen Kosten, die immer als Grund angeführt werden, warum die Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung nicht möglich sein soll.

Sie sind der Verfasser des umfangreichsten Kommentars zu den neuen Rechtschreibregeln, dazu haben Sie das gesamte Regelwerk durchgearbeitet. Wie ist Ihre Bilanz?

Ickler: Das neue Regelwerk stellt an Umfang und an Kompliziertheit alles in den Schatten, was es bisher gegeben hat. Wenn man es nämlich einmal genau nimmt, sind das nicht bloß 112, sondern über tausend Regeln, und die Ausnahmen sind nicht weniger, sondern mehr als vorher. Ich habe ein Jahr harte Arbeit gebraucht, um das neue Regelwerk einmal ganz zu durchdringen, weil ich mir eben die Frage gestellt habe, die sich die Reformer nicht gestellt haben, nämlich wie wirkt sich all dies auf den gesamten Wortschatz aus? Und da kann ich nur feststellen, daß durch die neue Schreibung grammatisch falsche Ausdrucksweisen entstehen – was ein Todesurteil über eine Rechtschreibreform ist.

Ist das von Ihnen verfaßte Wörterbuch nicht ein Konkurrenzunternehmen zum Reform-Duden?

Ickler: Nein, eigentlich nicht. Der Duden hatte durch sinnlos starres Reglement im Wörterverzeichnis viel Verdruß über die alte Rechtschreibung hervorgerufen. Ich habe mich deshalb einmal hingesetzt und ein eigenes, rein orthographisches Wörterbuch verfaßt, das zeigt, daß man die bisher übliche Rechtschreibung genauer und zugleich viel einfacher darstellen kann. Diesen praktischen Beweis wollte ich liefern, als zusätzliches Argument für die bewährte deutsche Orthographie.

Welches Verdienst an diesem ersten Sieg für die alte Rechtschreibung haben die Vereine, Initiativen und Einzelkämpfer, die den Kampf gegen die Reform auch nach deren Beschluß nicht aufgegeben haben?

Ickler: Ein sehr großes, das sich aber im einzelnen nicht auseinanderhalten läßt. Zum Beispiel haben wir unzählige Artikel und Leserbriefe für Zeitungen geschrieben und dadurch für Aufklärung gesorgt. Sehr verdienstvoll ist der „Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege“ (VRS) mit seinem Vorsitzenden Manfred Riebe. Denn der VRS hat eine enorme organisatorische Leistung erbracht. Die Vereine und Initiativen haben dafür gesorgt, daß wir zum Beispiel zur Anhörung des Bundesverfassungsgerichtes geladen wurden. Ich bin zwar nicht Mitglied in irgendeinem dieser Vereine, aber als sprachwissenschaftlicher Berater bin ich ihnen allen sehr eng verbunden. Besonders eingesetzt haben sich aber auch die Organisatoren der Volksbegehren, vor allem in Schleswig-Holstein und Niedersachsen, eine ungeheuer schwere Arbeit, von der man sich kaum ein Vorstellung machen kann. Da arbeiten Leute bis zur Erschöpfung für den Erhalt unserer schriftsprachlichen Kultur. Dieser Idealismus ist unglaublich eindrucksvoll.

Thomas Steinfeld, Literaturchef der „FAZ“, hat in einem Gespräch mit der „JUNGE FREIHEIT“ die Befürchtung geäußert, er könne durch die Präsenz seiner Person in den Medien seit der Umstellung der „FAZ“ zu einer komischen Figur wie der bekannte Einzelkämpfer Friedrich Denk werden. Ist es fair, jene, die sich so für die Sache der Kultur engagieren, solcherart zu qualifizieren?

Ickler: Das ist ganz und gar nicht fair. Ich bin mit Herrn Denk befreundet. Er ist absolut kein Wüterich, sondern ein umgänglicher Mensch voller Ideen, dazu ein weithin anerkannter Pädagoge und von zahllosen Schriftstellern hoch geschätzt. Er hat eben einen sehr ausgeprägten demokratischen Bürgersinn und hat für sein Engagement ja auch schon das Bundesverdienstkreuz erhalten. Außerdem hat er das literarische Leben in Bayern unwahrscheinlich beflügelt und unzähligen jungen Menschen gezeigt, was Deutschunterricht auch sein kann.

Was halten Sie von den Zeitungen, die gar nicht erst auf die Neuschreibung umgestellt haben?

Ickler: Außer der bedeutenden österreichischen Zeitung Die Presse haben einige kleinere deutsche Zeitungen sich geweigert, vor diesem Geßlerhut das Knie zu beugen, übrigens auf allen Seiten des politischen Spektrums. Aber das zeigt nur, es ist keine ideologische, sondern einfach eine Frage der Eigenständigkeit. Man traut sich bei den Großen, Konzerngebundenen eben einfach nicht, eine unabhängige Linie zu fahren. Nehmen sie zum Beispiel den Spiegel: anfangs hatte man lauthals getönt, man werde nie umstellen, aber dann hat man sich einfach angepaßt. Zuletzt hat noch Geo umgestellt, weil Gruner & Jahr, also Bertelsmann, es so befahl. Das Medienkartell hält eben zusammen, und nur unter dieser Voraussetzung konnten und können die Zeitungen den klaren Wunsch ihrer Leser nach der herkömmlichen Orthographie derart mit Füßen treten. Deshalb jetzt auch dieser Aufschrei wegen der „verantwortungslosen“ FAZ. Die Zeitungen waren doch die Hauptschuldigen, denn sie haben, wenn auch aus verständlichen Gründen, nach dem fatalen Verfassungsgerichtsurteil von 1998 geglaubt, sie müßten nun alle umstellen.

Nun gibt es Stimmen, etwa im „Rheinischen Merkur“, die sagen, die FAZ werde das nicht durchhalten.

Ickler: Gerade der Rheinische Merkur ist da eine ganz üble Quelle. Er wird mitherausgegeben von Wolfgang Bergsdorf, der einst im Bundesinnenministerium verantwortlich war für das Durchsetzen der Reform.

Die Rechtschreibreform war doch Angelegenheit der Landes-Kultusminister. Welche Rolle spielte das Bundesinnenministerium?

Ickler: Das Innenministerium war immer zentral beteiligt. Damals unter Manfred Kanther war es sogar die entscheidende Instanz bei der Durchsetzung. Das weiß ich aus verschiedenen Quellen, unter anderem von einem Bundestagsabgeordneten. Die Kultusminister hatten nämlich mehrmals kalte Füße bekommen, weil sie wußten, daß die Rechtschreibreform in ihrem jeweiligen Zustand noch keineswegs unterschriftsreif war. Und in diesen Augenblicken hat eine Beauftragte von Minister Kanther auf der Durchsetzung des Reformplans bestanden. Wolfgang Bergsdorf ist weiterhin Mitherausgeber des Rheinischen Merkur, der – übrigens mit wenig intelligenten Beiträgen – alles niederzumachen versucht, was nicht auf Reformkurs ist. Irgendwann wird wohl herauskommen, was wirklich dahintersteckt.

Sie sagen also, die Politik habe sich nicht gemäß ihres verfassungsmäßigen Auftrages im Sinne einer objektiven, sondern einer subjektiven Entscheidung eingemischt. Warum?

Ickler: Ja, wenn ich das wüßte. Es gibt zweifelsohne einige trübe Vorgänge, in die unbedingt noch Licht gebracht werden muß. Tatsache ist, daß die Kultusminister von ihrem eigenen „Internationalen Arbeitskreis für Orthographie“ nicht besonders angetan waren. Das zeigte sich schon darin, daß sie diesem Arbeitskreis, der jahrelang vor sich hinbastelte, eine eigene Arbeitsgruppe zur Seite gestellt hatten. Diese bestand aus Ministerialbeamten, also keineswegs aus Fachleuten für Sprache und Orthographie. Das sind jene Beamten, die dann in den einzelnen Kultusministerien die Minister, ich möchte sagen, beschwatzt haben, dieses Mißprodukt, das dabei herauskam, zu übernehmen. Nominell sind die Minister für ihr Werk verantwortlich, tatsächlich aber sind diese Ministerialräte, deren Namen fast niemand kennt, in gewisser Weise die Hauptverantwortlichen für die Reform, die wir heute haben. Minister kommen und gehen, Ministerialräte bleiben bestehen. Das haben die reformwilligen Deutschdidaktiker sehr früh begriffen und sich die Ministerialräte und (nicht zu vergessen!) –rätinnen in den Kultusministerien geneigt gemacht. Am Ende kam ein hastig, fast panikartig zusammengebasteltes Konglomerat heraus, von dem Augenzeugen und Eingeweihte zu berichten wissen, daß es bei der Verabschiedung der Reform im November 1994 hieß, man müsse jetzt damit zu Ende kommen, um etwas in der Hand zu haben. Und dann wurde das eben abgesegnet und ging seinen Gang. Mehr oder weniger ein Zufallsprodukt, worauf auch die unglaublichen Widersprüche und die schlechte Qualität des Machwerks beruhen. Man meint gerne, die Reform könne doch gar nicht so schlecht sein, schließlich habe sie jahrzehntelange Vorbereitung hinter sich. Das ist eine fatale Fehleinschätzung.

Wieso gelang es in so vielen Jahren nicht wenigstens, eine in sich schlüssige Reform auf die Beine zu stellen?

Ickler: Das ist eine lange Geschichte. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat 1973 den entscheidenden Kongreß veranstaltet, von dem die meisten Reformideen ausgingen. Der Gedanke war, den Unterschichtkindern das Schreiben zu erleichtern und ihnen damit den höheren Bildungsweg zu eröffnen. Das ist ja soweit auch ganz sympathisch gedacht, solange es nicht ideologisch überhöht wird. Ich stamme selbst aus einfachen Verhältnissen und weiß das durchaus zu schätzen. Das Ganze ist dann aber in die Hände von Leuten geraten, die reformieren wollten um des Reformierens willen oder weil sie sich einen Namen machen wollten. Die Reformer des Internationalen Arbeitskreises hatten hauptsächlich vier Ziele, nämlich die Kleinschreibung der Substantive, die radikale Eindeutschung der Fremdwörter, die Beseitigung der Dehnungszeichen – zum Beispiel „jar“ statt „Jahr“, „bot“ statt „Boot“ – und die Einheitsschreibung „das“ auch für die Konjunktion. Von diesen vier Zielen konnten sie allerdings keines durchsetzen. Was heute herausgekommen ist, war so nie auf der Tagesordnung gewesen. Die Reformer erkannten dann durchaus selbst die großen Unzulänglichkeiten der zweiten Reform, doch wie bereits gesagt, machte die Politik Druck. Übrigens auch hier maßgeblich durch das Bundesinnenministerium. So mußten die Reformer schließlich trotz der jahrzehntelangen Planung und trotz ihrer Ermahnung, daß wesentliche Veränderungen „unumgänglich notwendig“ seien, mitansehen, wie ihr Werk am 1. August 1998 unkorrigiert in Kraft trat.

Warum geradezu dieser Haß gegen die Rechtschreibung?

Ickler: Diese ganzen sozial- und kulturrevolutionären Ideen von damals sind ja inzwischen auch vergessen und vergeben. Damals war ein Furor am Werke, den man sich heute kaum noch vorstellen kann und der alle linguistischen Erkenntnisse beiseite geschoben hat. Den Vertretern der emanzipatorischen Pädagogik galt die herkömmliche Orthographie, als reaktionäres Überbleibsel aus feudalen Zeiten. Rechtschreibung habe hauptsächlich den Zweck, ein ungebildetes Industrieproletariat verfügbar zu halten, mit dem die Arbeitgeber nach Belieben schalten und walten könnten.

Sie bringen dem Gedanken, in die Sprache aus sozialen Gründen einzugreifen, durchaus Sympathie entgegen. Ist aber Sprache nicht ein Kulturgut mit eigenem Wert, der im Grunde jegliche sprachfremde Argumente verbieten sollte, solange sie ihre Grundfunktion erfüllt?

Ickler: Ja, richtig. Ich erkenne auch nur die Motive an, nicht aber den Begründungszusammenhang. Ich glaube auch gar nicht daran, daß eine Reform der Schriftsprache sich in irgendeiner Weise sozial vorteilhaft auswirkt. Diese Leute lassen völlig die Entstehungsgeschichte unserer Rechtschreibung außer acht. Schrift wurde entwickelt, um etwas mitzuteilen, also um möglichst gut lesbar und nicht um leicht schreibbar zu sein. Unsere gewachsene Orthographie ist anerkanntermaßen optimal lesbar, auch wenn sie an den Schreibenden verhältnismäßig hohe Anforderungen stellt. Deutsch, Englisch und Französisch sind die europäischen Sprachen, die eine stark bedeutungsbezogene Rechtschreibung haben. Das heißt nicht, daß sie nur den Laut wiedergeben, sondern gewissermaßen auf einer höheren Stufe operieren, indem sie den Sinn wiedergeben. Zum Beispiel: unsere berühmte Stammschreibung, „kalt“ und „kälter“, statt „kelter“, der Sinnzusammenhang mit dem Grundwort stellt sich gleich fürs Auge mit her.

Verbirgt sich hinter einem solchen Eingriff nicht von vornherein die Mißachtung von kulturell und traditional Gewachsenem, sowie von ästhetischem Empfinden?

Ickler: Durchaus, und die wirkliche Katastrophe liegt darin, daß die umgestellte Presse heute gebrochen hat mit der Literatur. Sehr bezeichnend ist hier der Oberreformer, Gerhard Augst, der wohl zu Recht die Reform als sein Lebenswerk betrachtet. Augst hat immer nur den Schreibanfänger im Auge gehabt, wobei ich ihm durchaus zubillige, daß er, wie gesagt, ein echtes soziales Engagement hatte, wenigstens am Anfang und bevor er vor lauter brennendem Ehrgeiz Maß und Ziel vergaß. Was er überhaupt nie erwähnt, das ist das Lesen oder die gesamte Kulturtradition. Das ist für ihn nichts, ein leeres Blatt. Was ich überhaupt nicht verstehe, ist, warum die Leute, erst am Montag wieder Herr Markwort im Focus immer nur die Schüler und den Nutzen für die Kinder im Auge haben. Alle Schüler hören doch auch einmal auf, Schüler zu sein, und werden Erwachsene und verlangen dann nach der Erwachsenenliteratur bzw. sollen an sie herangeführt werden. Stattdessen wird das Lesen doch kaputt gemacht. Und das Gefühl für Tradition, Kultur und Schönheit ist oft schon vorher zerstört worden. So kommt es dann zu dieser Infantilisierung: Daß Kinder Kinderbücher lesen wie „Harry Potter“, das ist ja ganz in Ordnung, meine Töchter sind davon auch ganz begeistert, aber heute werden diese Bestseller auch von Erwachsenen verschlungen.

Warum hat sich eigentlich der Widerstand der Dichter erst so spät geregt?

Ickler: Das neue Regelwerk wurde vorab gar nicht veröffentlicht, und man war auf fein dosierte Mitteilungen des Arbeitskreises angewiesen, so daß die Öffentlichkeit sich lange Zeit gar kein Bild machen konnte. Der Vorwurf, die Öffentlichkeit sei zu spät wach geworden, ist also völlig unberechtigt. Infam ist gar der Hohn, den manche Minister über Dichter und Schriftsteller ausgegossen haben. Das ist zum Glück jetzt vorbei, und die wenigen Minister, die das Debakel bis heute politisch überlebt haben, zittern vor Angst. Um auf das Jahr 1996 zurückzukommen: Ein wirkliches Bild konnte man sich erst nach dem Erscheinen der Wörterbücher von Duden und Bertelsmann machen, also ab Spätsommer 1996, und dann kam ja auch beinahe sofort die Frankfurter Erklärung, und der Wirbel ging los.

Das heißt, die Politiker haben nicht nur leichtfertig, sondern geradezu hinterlistig über das Volk hinweggesetzt?

Ickler: Sie haben zweifellos das Volk hintergangen. Es war durchaus gewollt, daß die Öffentlichkeit erst zu spät wach wird. Denn der vorige Versuch von 1989, das wissen wohl die meisten gar nicht, es ging um die oben genannten vier Punkte, war allein daran gescheitert, daß die FAZ den Inhalt dieser Reform vorzeitig bekanntgab. Diesmal hat es nur deshalb funktioniert, weil die Reform gleich bei ihrem Bekanntwerden in die Schulen gedrückt wurde. Also schon zwei Jahre vor dem offiziellen Inkrafttreten 1998 wurde dafür gesorgt, daß es angeblich kein Zurück mehr gab, „weil die Schüler schon nach den neuen Regeln schreiben“, wie es dummdreist hieß.

Wie begegnen Sie diesen Tricks?

Ickler: Entscheidend war über die ganze lange Zeit, daß wir im Bewußtsein der Bevölkerung halten: Die Reform ist umstritten. Der Erfolg war: Die Leute trauen der Reform nicht. Sie warten ab, ob nicht bald eine einschneidende Änderung kommt. Das hat den Duden zu einem nahezu unverkäuflichen Buch gemacht, auch wenn die absoluten Verkaufszahlen natürlich bei einem Rechtschreibwörterbuch immer noch höher sind als bei den meisten anderen Büchern. Diese Reform hat, wie ich schon vor Jahren vorausgesagt habe, den lexikographischen Buchmarkt weitgehend zerrüttet. Alle Wörterbücher und Lexika liegen seit vier Jahren wie Blei in den Regalen der Buchhändler. Das trifft natürlich einen spezialisierten Verlagskonzern wie Brockhaus-Langenscheidt-Meyer-Duden besonders hart; es gibt seit über drei Jahren erhebliche Umsatzeinbußen und auch schon Entlassungen. Davon geht dann auch wieder ein heilsamer Druck auf die Politiker aus, die der Sprachgemeinschaft diesen Unsinn aufgenötigt haben.

Das Interview führte Moritz Schwarz.

Dr. Theodor Ickler: geboren 1944 in Krauschwitz/ Oberlausitz. Studium der Germanistik, klassischen Philologie und Indogermanistik. Seit 1987 Professor für germanistische Linguistik/ Deutsch als Fremdsprache an der Universität Erlangen. Theodor Ickler ist einer der führenden Kritiker der Rechtschreibreform.

Veröffentlichungen: „Die sogenannte Rechtschreibreform. Ein Schildbürgerstreich.“, Leibniz-Verlag (1997); „Kritischer Kommentar zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“, Verlag Palm & Enke (1997); „Das Rechtschreibwörterbuch. Die bewährte deutsche Rechtschreibung in neuer Darstellung“, Leibniz-Verlag (August 2000)

JUNGE FREIHEIT Nr. 33/00 vom 11. August 2000, S. 3
www.jf-archiv.de/archiv00/330yy09.htm
www.jungefreiheit.de

Wiederabdruck in: Stein, Dieter (Hrsg.): Rettet die deutsche Sprache. Beiträge, Interviews und Materialien zum Kampf gegen Rechtschreibreform und Anglizismen. Reihe Dokumentation, Band 9, Berlin: Edition JF, Oktober 2004, S. 120-131
www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?p=2629#2629

Anmerkung:
In den VRS-Links wurde „viewtopic“ durch „themaschau“ ersetzt, damit sie wieder funktionieren.


Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Samstag, 05. Jun. 2010 14:45, insgesamt 1mal bearbeitet
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Peter Lüber



Registriert seit: 01.06.2004
Beiträge: 72

Beitrag: Freitag, 07. Apr. 2006 09:42    Titel: Diktatur Antworten mit Zitat

Stöckling kippt Rechtschreibkurs

Wegen reformkritischer Referenten: St. Galler Erziehungsdirektor verbietet Weiterbildung für Gymnasiallehrer

st. gallen. Der St. Galler Erziehungschef Hans Ulrich Stöckling hat einen Lehrer-Weiterbildungskurs zur Rechtschreibung verboten. Grund: Nur die Reformgegner seien vertreten. Ein Eingriff in die Lehrfreiheit?

peter surber

FORMI-Kurs 2006-58 ist abgesagt. «Von alt zu neu – von neu zu alt: Die neue Rechtschreibung – Hinweise, Klärungen und Stellenwert»: So sollte das Thema lauten. Anmeldeschluss wäre der heutige Mittwoch gewesen. Ein erster Block war der Rechtschreibung im Unterricht zugedacht, ein zweiter dem aktuellen Stand der Änderungen, ein dritter schliesslich kündigte «eine kritische Stellungnahme zur Reform» an: «Was ist gelungen, was nur teilweise oder gar nicht?»

Ein aktuelles Thema mit Klärungsbedarf: So sieht es der Kursleiter, Deutschprofessor Mario Andreotti. Die Anregung sei von der Fachschaft gekommen, und er habe sie aufgenommen. Als so genannter «Spontankurs» ausserhalb des Jahresprogramms ging die Ausschreibung den «einfachen Dienstweg» über den Präsidenten der FORMI-Kommission, den Rektor der Kanti Wil, Walter Akeret. Dieser sah keine Probleme und bewilligte den Kurs.

Für Stöckling «zu einseitig»

Anders Erziehungschef Hans-Ulrich Stöckling. Neben Andreotti waren als Kursleiter der in Gossau unterrichtende Gymnasiallehrer Stefan Stirnemann und der deutsche Germanist Theodor Ickler genannt. Beide treten als lautstarke Kritiker der Reform auf. «Drei ausdrückliche Gegner der neuen Rechtschreibung machen miteinander einen Kurs zulasten der Steuerzahler: So geht das nicht», begründet Stöckling seine Veto auf unsere Anfrage.

«Die Übung Rechtschreibreform ist abgeschlossen», sagt Stöckling. Sie sei unter Dach und Fach, letzte Änderungen werde die EDK im Juni beschliessen, vermutlich gebe es dann wie in Österreich noch eine dreijährige Frist, und damit fertig. Jetzt erneut Unsicherheit zu schüren, sei unverantwortlich. Die angebliche Verunsicherung über die neue Rechtschreibung hält Stöckling für «herbeigeredet»; die Schüler, die nur die neue Rechtschreibung kennen, hätten kaum Probleme und machten heute erwiesenermassen weniger Fehler als früher.

Es gehe nicht darum, eine Diskussion abzuklemmen; selbstverständlich hätte er nicht reagiert, wenn der Kurs ausgewogen besetzt gewesen wäre. So aber hätte man Lehrern und Eltern gegenüber ein «falsches Signal» gesetzt.

In seinem Ablehnungsschreiben an Andreotti präzisiert dies Stöckling so: «Wie kann der Staat an all seinen Schulen die neue Rechtschreibung umsetzen, wenn Lehrerinnen und Lehrer Kurse besuchen, die von Personen erteilt werden, welche grundsätzlich Kritik an den Neuerungen üben?»

«Die Unsicherheit ist gross»

Kursleiter Andreotti hält dagegen: Nicht um Ideologie, sondern um Sachinformation sei es ihm gegangen. Die seit Jahren schwelende Kontroverse sollte nicht das Thema sein, sondern die Darstellung des Ist-Zustands. «Es gibt unter den Lehrern eine starke Unsicherheit», sagt Andreotti. Dieser wollte er begegnen – und nicht etwa einen «Aufstand» anzetteln.

Warum dann ausgerechnet Stirnemann und Ickler, zwei prononcierte Gegner? Die beiden seien gewiss kritisch, aber zugleich auch zwei der besten Kenner der Materie. «Es gibt bei uns relativ wenig Leute, die sich mit der Reform so gut auskennen wie die beiden.» Dies hat Andreotti auch dem Erziehungschef in einer brieflichen «Unbedenklichkeitserklärung» dargelegt; sie blieb aber ohne Wirkung.

Stöcklings Entscheid sei natürlich zu akzeptieren – aber grundsätzlich problematisch als «Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit», sagt Andreotti. Denn klare Verhältnisse herrschten auf dem Feld der Rechtschreibung keineswegs; Schüler, Lehrer und Durchschnittsnutzer der Sprache «wollen nicht hundert Varianten, sondern möchten wissen, was gilt».

Das aber sollen sie, geht es nach ihrem Chef, im Moment nicht. Im November 2004 war das noch anders: Da fand ein fast gleich lautender FORMI-Kurs mit Andreotti, Stirnemann und dem Reformkritiker Munske statt.

Auf die jetzige obrigkeitliche Fürsorge reagiert der ausgeladene Gastreferent Theodor Ickler mit Ironie: «Die Schweizer Lehrer scheinen zu unreif zu sein, um mich zu ertragen.»

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