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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Samstag, 28. Feb. 2004 19:46 Titel: Deutscher Lehrerverband (DL) |
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<B>„Kein Land der Welt geht so mickrig mit der eigenen Muttersprache um wie Deutschland.“
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„Die Schule wird zum Rechtschreib-Elfenbeinturm“</B>
Die neue und alte Orthographie, Berufswandel und Fächerkanon:
Fragen an Josef Kraus, den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes
Die meisten Deutschen wollen wieder die alte Schreibweise. Gehören dazu auch die Lehrer?
Die Stimmungslage der Lehrer ist sehr differenziert. Ich gehe von den Deutschlehrern aus, die ja am meisten mit den neuen Regelungen zu tun haben. Wenn ich 100 davon frage, wie sich das neue System bewährt hat, ob weniger Fehler gemacht werden, dann gibt es ein Viertel, die meinen, es werden weniger Fehler gemacht. Wenn man nachfragt, in welchen Bereichen, dann wird ausschließlich gesagt: in der Kommasetzung. Ist ja auch klar: Wenn es keine Regeln mehr gibt, dann kann ich keine Regelverstöße haben.
Und wenn man weiter fragt?
Dann gibt es etwa ein Viertel, das glaubt, es ist alles besser geworden, die Schüler tun sich vor allem in der s-Schreibung leichter. Und dann gibt es die Hälfte von Lehrern, die sagt, die Fehler häuften sich. Wenn man die Kommata außer acht läßt, dann, so diese Gruppe, tauchen vielleicht in der s-Schreibung ein paar typische Fehler weniger auf, aber es werden zusätzliche gemacht. „Außen“ wird jetzt mit Doppel-s geschrieben oder „Schoß“ mit Doppel-s. Oder die Konjunktion „daß“ und das Relativpronomen „das“ werden noch mehr verwechselt. Mein Eindruck ist zudem, daß alle, ob erstes Viertel, zweites Viertel oder dann der große Block der anderen 50 Prozent, offensichtlich resigniert haben, was den eigenen und den Durchblick der Schüler bei der Zusammen- und Getrenntschreibung betrifft.
Und welchen Schluß ziehen Sie daraus?
Daß diese Reform nicht eindeutig ist und viele Geburtsfehler hat. Was aber viel ärgerlicher ist: Wir sind jetzt in einer Situation, daß Schule zum Rechtschreib-Elfenbeinturm wird. Das ist das, was mich auf die Palme bringt. Wir lehren in der Schule etwas, was über kurz oder lang außerhalb der Schule niemand mehr praktiziert. Wir Deutschlehrer stehen vor einer ernsten Glaubwürdigkeitsfrage, nämlich unseren Schülern etwas beizubringen, von dem die Schüler, vor allem die älteren Schüler wissen, daß es außerhalb der Schule nicht akzeptiert wird. Meines Wissens haben wir 22 verschiedene Schreibweisen bei Zeitungs- und Buchverlagen. Ich halte es für das Gravierendste, daß sich allmählich dieses diffuse Gefühl einnistet, es gebe keine sprachliche Exaktheit mehr. Ich prophezeie den Tag, an dem wir in der Schule kein benotetes Diktat mehr durchsetzen können.
Momentan geht es sowieso nur eingeschränkt.
Richtig. Denn wenn sich bei Schülern die Vorstellung breitmacht, das, was mir der Lehrer beibringt, ist nicht unumstritten, dann wird sich auch die Einstellung festsetzen, man könne die Schreibung ein bißchen locker handhaben. Das ist das Ende einer exakten Diktatbenotung. Das ist ungefähr so, wie wenn ich in der Mathematik sagen würde, vier mal vier ist 16, aber ich lasse auch 15 und 17 gelten. Was mich wurmt, das ist diese Rechtschreib-Elfenbeinturmmentalität, die jetzt noch vom Vorsitzenden der Rechtschreibkommission Augst mit seinem lächerlichen Vorschlag zugespitzt wurde, die Hochschule sollte die alte Rechtschreibung anwenden, im Arbeits- und im Berufsbereich solle die alte Schreibung beibehalten werden. Aber die Schule müsse bei der neuen Regelung bleiben.
Heißt das, daß Sie für eine Rückkehr zur alten Schreibregelung plädieren?
Ich kann den Schülern beibringen, warum man „außen“ mit scharfem s schreibt und „Schloss“ mit Doppel-s und „Schoß“ mit scharfem s. Da muß ich halt vermitteln, was ein langer oder kurzer Vokal ist. Das ist in sich schlüssig. Was völlig wirr ist, das ist die Zusammen- und Getrenntschreibung. Da blickt auch der erfahrene Deutschlehrer nicht mehr durch. Da würde ich sagen: zur alten Regelung zurück!
Und bei der neuen Schreibweise, die sich am Wortstamm orientiert?
Weg damit! Außerdem haben wir da ja auch sprachlich geschichtliche Böcke. Verbleuen, nach Neuschreibung „verbläuen“, hat nichts mit Blau zu tun. Und ich möchte wieder eine verbindlichere und exaktere Kommasetzung, und zwar mit Blick auf den Leser. Es wird tausendmal mehr gelesen als geschrieben. Konkurrenzblätter der F.A.Z., die sich in Sachen Orthographie avantgardistisch gaben, haben die alte Kommasetzung beibehalten, weil sie wissen, daß der Leser das als Strukturierung und Sinnhilfe braucht. Zum Beispiel Komma vor erweitertem Infinitiv.
Und was ist mit den Schulbüchern?
Kein Problem. Wir hatten ein paar Jahre Übergangsphase, da ist die neue Regelung unterrichtet worden, und die Schüler hatten alte Bücher. Damit ist man auch klargekommen. Außerdem haben die Befürworter der Rechtschreibreform immer gesagt, es seien so wenige Wörter betroffen. Also dürfte es keine Probleme geben, das wieder zurückzudrehen.
Apropos zurückdrehen: Kann man im heutigen Zeitalter des Computers Eltern noch raten, ihre Kinder auf ein altsprachliches Gymnasium zu schicken?
Vielleicht gerade deswegen. Weil ein altsprachliches Gymnasium mit Latein und Griechisch und einer besonderen Vertiefung im literarischen und philosophischen Bereich auch eine Chance der Emanzipation von der heute um sich greifenden Flüchtigkeit ist.
Aber brauchen die Kinder für ihre Zukunft nicht mehr Mathematik statt Latein?
Nein, das ist nie die Alternative gewesen. Wir haben immer schon festgestellt, daß Schüler, die in Latein und Mathe gut waren, in allen Studiengängen und allen Berufsfeldern bestens reüssierten.
Das altsprachliche Gymnasium geht also nicht einem Tod auf Raten entgegen?
Leider muß man ein bißchen Sorge haben, weil die Nachfrage nicht mehr die von früher ist. Sowohl die Schulpolitik als auch ein großer Teil der Elternschaft lassen sich heute von reinem Nützlichkeitsdenken leiten. Die Schulpolitik ist mittlerweile - ob rot oder grün oder schwarz - doch überwiegend auf Utilitarismus, auf Ökonomismus ausgerichtet. Dabei hat in der Bildung das Nichtökonomische seinen Eigenwert. Wir haben, um es mit einem Schlagwort des alten Hegel zu sagen, in der deutschen Schulpolitik das Wirken einer Furie des Verschwindens.
Was verschwindet?
Es ist in erheblichem Maße die anspruchsvolle Literatur verschwunden, ebenso verschwinden die alten Sprachen. Es verschwindet das ganz konkrete Wissen, und man gibt sich mordsmodern, indem man sagt, wir brauchen kein Vorratswissen mehr, sondern Just-in-time- und Download-Wissen. Die Exaktheit in der Sprache, in der Grammatik, in der Rechtschreibung - das schwindet alles dahin. Bis hin zum Kopfrechnen. Heute sagt man, wir haben die Taschenrechner dafür.
Sie halten also ein Umwandlung des Fächerkanons angesichts des Berufswandels nicht für notwendig?
Das halte ich nicht für notwendig. Aber ich möchte die Muttersprache gestärkt haben. Kein Land der Welt geht so mickrig mit der eigenen Muttersprache um wie Deutschland. In jedem Land der Welt wird die Muttersprache intensiver und umfangreicher, rein von der Quantität her, unterrichtet als bei uns.
Aber Sie haben doch selbst ein zweites naturwissenschaftliches Fach als Pflichtfach bis zum Abitur gefordert.
Ja, klar ...
... die Arbeitgeber sagen jetzt schon, in ein paar Jahren brauchen wir auch eine Green Card für Ingenieure ...
... aber ich bin zum Beispiel nicht überzeugt, daß wir ein Fach Informatik brauchen. Aber ich möchte, daß der Gymnasiast bis zum Abitur Deutsch, zwei Fremdsprachen als Pflichtfach hat, Geschichte, zwei Naturwissenschaften und Mathematik. Dann ist immer noch Luft für gewisse individuelle Schwerpunktsetzungen.
Und warum haben die Schüler so wenig Lust auf Chemie und Physik?
Erstens haben Physik und Chemie den Ruf, erheblich schwieriger zu sein als Biologie. Und zweitens wissen unsere jungen Leute mit ihren 17 oder 18 Jahren auch, daß zwar ein Ingenieurmangel beklagt wird, aber gleichzeitig in der Statistik der Bundesanstalt für Arbeit nach wie vor monatlich mehr als 50.000 arbeitslose Ingenieure ausgewiesen werden. Unsere jungen Leute wissen natürlich, daß es 40.000 IT-Fachkräfte arbeitslos auf den Listen der Arbeitsämter gibt, die niemand mehr nimmt, weil sie 42 Jahre alt sind und in der IT-Branche diese blödsinnige Redewendung um sich geht, am besten nimmst du einen Achtundzwandzigjährigen, den kannst du zehn Jahre für ein System brauchen, und dann schickst du ihn weg. Unseren jungen Leuten ist auch nicht verborgen geblieben, daß im Jahr 1997 die Wirtschaft gerade mickrige 4.000 Ausbildungsplätze im IT-Bereich angeboten hat.
Jetzt hat also die Wirtschaft den Schwarzen Peter und nicht die Schule.
Nein, wir müssen Physik oder Chemie, fakultativ ergänzt durch Biologie, verbindlicher machen. Und ich appelliere an die Wirtschaft, dieses Glaubwürdigkeitsproblem aufzulösen und den jungen Leuten zu erklären, wie es kommt, daß man angeblich 50.000 oder 100.000 Ingenieure sucht, aber gleichzeitig 50.000 arbeitslos sind. Und es muß einmal dargestellt werden, wie vielfältig Ingenieurberufe sind. Meines Wissens gibt es an die 60 verschiedene Fachrichtungen von Ingenieuren.
Die Lehrer vergeben ja tagtäglich Noten und beurteilen andere Menschen. Die CDU hat gerade analog zur „Stiftung Warentest“ eine „Stiftung Bildungstest“ gefordert, allerdings nur für weiterbildende Angebote. Was spricht dagegen, auch die Lehrer und Schulen zu testen?
Der Vorschlag der CDU ist relativ überflüssig, denn wir haben mit der Aktion Bildungsinformation in Stuttgart eine solche Einrichtung. Das weiß offensichtlich leider Frau Schavan nicht so genau, obwohl sie in Stuttgart Ministerin ist. Bei dieser Aktion Bildungsinformation kann man Informationen über Privatschulen, über Sprachkurse oder über bestimmte Nachhilfeangebote abrufen. Ein Leistungstest von Schulen liefe auf eine Art Ranking-System hinaus, wie wir es in Großbritannien haben. Ich halte jedoch ein Ranking-System für ungerecht, da das Leistungsvermögen einer Schule von vielen Faktoren abhängt, beispielsweise von der Schülerschaft einer Schule, von ihrer sozialen Herkunft.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 6. August 2000
http://www.lehrerverband.de/rechtsch.htm
Siehe auch:
* Josef Kraus: Verlierer in Schulbänken. Die schulischen Argumente der Schreibreformer tragen nicht. In: FAZ vom 28. August 2000. Wiederabdruck in: Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland: Die Reform als Diktat. Zur Auseinandersetzung über die deutsche Rechtschreibung. Hrsg. von der Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Auflage, Frankfurt am Main, Oktober 2000, 120 Seiten, 87-89
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Deutscher Lehrerverband (DL) - Burbacher Straße 8 - 53129 Bonn - Tel. (02 28) 21 12 12 - FAX 21 12 24, info@lehrerverband.de
Der Deutsche Lehrerverband (DL) ist die größte Lehrerorganisation in Deutschland außerhalb der Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Der DL ist die Dachorganisation von 150 000 Lehrern, die in Bundesverbänden organisiert sind. Diese sind: 1. Deutscher Philologenverband e. V. (DPhV), 2. Verband Deutscher Realschullehrer (VDR), 3. Bundesverband der Lehrer an Wirtschaftsschulen e. V. (VLW), 4. Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen e. V. (BLBS)
JOSEF KRAUS, geboren 1949, Abitur 1969, Studium für das Lehramt an Gymnasien (Deutsch und Sport), 1977 Erstes Staatsexamen, 1978 Diplom Psychologie; 1980 Zweites Staatsexamen; ab 1980 fünfzehn Jahre lang Gymnasiallehrer, Seminarlehrer und Schulpsychologe in Landshut; seit 1995 Oberstudiendirektor am Maximilian-von-Montgelas-Gymnasium Vilsbiburg.
Seit 1987 ist er Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL), der Dachorganisation der Verbände der Lehrer an Gymnasien, Realschulen, beruflichen Schulen und Wirtschaftsschulen. Zu schulpolitischen Themen schreibt er regelmäßig im "Rheinischen Merkur" und in der "Welt am Sonntag".
Seine Anschrift: Zikadenweg 6b, 84034 Landshut; e-mail: josef.kraus@landshut.org
http://www.altphilologenverband.de/renovatio4.html
http://bayernonline2004.fast.de/BayernOnline/Kongress/Lebenslauf/Forum4/Josef_Kraus.htm
* Aktion „Lebendiges Deutsch“ - http://www.aktionlebendigesdeutsch.de/
Aus dem Medienecho
* Jan Fleischhauer und Christoph Schmitz: Hit und Top, Tipp und Stopp. In: DER SPIEGEL 1/2006 vom 2. Januar 2006, S. 124-132 - http://www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?p=4428#4428
Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Freitag, 04. Aug. 2006 18:26, insgesamt 13mal bearbeitet |
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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Samstag, 28. Feb. 2004 19:59 Titel: Erleichterungspädagogik und Machbarkeitswahn |
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<b>Pädagogik im Gewande der Erleichterungspädagogik oder des Machbarkeitswahns
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Verlierer in Schulbänken
Die schulischen Argumente der Schreibreformer tragen nicht</b>
Von Josef K r a u s
Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL)
Wenn in Deutschland etwas im Gewande „moderner“ Pädagogik, zumal im Gewande der Erleichterungspädagogik daherkommt, dann ist es nahezu sakrosankt. Nun kam die Rechtschreibung in den Genuß solcher Immunität. Seit den „Achtundsechzigern“ gilt sie als „Herrschaftsinstrument“. Was Wunder, daß sich Reformer aufmachten, diese Bastion zu schleifen. Dabei hätte es eine andere Möglichkeit gegeben: die Rechtschreibung in den Schulen konsequent zu üben, anstatt sie zu diskreditieren und anstatt das Schreiben auf das Ausfüllen von Lückentexten zu reduzieren. Jedenfalls sei die These gewagt, daß mit einem ernsteren Orthographieunterricht bessere Rechtschreibergebnisse erzielt worden wären als mit der „Reform“. Wundersam sind deshalb die „pädagogischen“ Argumente, mit denen sie verteidigt wird.
Behauptung 1: Die Schüler würden mit der neuen Schreibung weniger Fehler machen.
Ein frommer Wunsch! Eine empirisch solide Untersuchung hat nicht stattgefunden. Euphorische Schätzungen der Jahre 1995 und 1996 („40 bis 70 Prozent Fehler weniger“) werden nicht mehr referiert. Falls es überhaupt zu einer Verringerung der Fehler kam, dann hat das mit den Prinzipien „Beliebigkeit“ und „Zufall“ zu tun. Beliebigkeit heißt: Wenn ich ein Komma setzen kann, aber nicht muß, dann passieren hier eben weniger Fehler. Und Zufall heißt: Wenn bis zum Jahr 2005 „naß“ und „nass“ richtig sind, dann schreiben viele Kinder bis 2005 eben per Zufall richtig. Geringfügig erleichtert wurde allenfalls die Schreibung substantivierter Adjektive (im Übrigen; allerdings – falls ohne Artikel – bei weitem). Die s-Schreibung hat sich bei Schülern wohl nicht verbessert, wiewohl sie der eindeutigste Teil der Reform ist. Hier bleiben die Probleme beim Wechsel des Stammvokals erhalten (ließ - lässt, weiß - wusste). Überhaupt nicht erleichtert hat sich die Schreibung von das/daß bzw. das/dass. Darüber hinaus machen Schüler neue Fehler: Sie schreiben fälschlicherweise aussen, grössere, Preussen, Strasse, Massnahme usw. Hier unterscheiden sich nicht einmal „reformierte“ Zeitungen von den Schülern. Ansonsten blieben die häufigsten Fehlerquellen von der Reform unberührt, denn erfahrungsgemäß entfallen rund 25 Prozent der Fehler auf fälschliche Groß- bzw. Kleinschreibung; ca. 25 Prozent auf die Verwechslung von Konsonanten (d/t, f/v/w, g/k, tz/tzt/z, b/p); ca. 20 Prozent auf eine fälschliche oder fehlende Konsonantenverdoppelung (vor allem bei p/pp, t/tt); ca. 15 Prozent auf eine fälschliche oder fehlende Dehnung (ie/h). Nur was die s/ss/ß-Schreibung betrifft, gibt es eine verläßliche Studie. Der Erziehungswissenschaftler Harald Marx, zuletzt Universität Bielefeld, jetzt Universität Leipzig, hatte 1995/96 insgesamt 318 Zweit-, Dritt- und Viertklässler nach alter Rechtschreibung getestet. Dieser Stichprobe ließ er zwei Jahre später 329 Altersgenossen folgen. Ergebnis: Die in neuer Rechtschreibung unterrichteten Schüler machen mehr Fehler in der s/ss/ß-Schreibung, weil sie die neuen Regeln „übergeneralisieren“.
Behauptung 2: Die Schulen kämen mit der neuen Rechtschreibung gut zurecht, weil sie überschaubarer sei.
Eine unbewiesene Behauptung! Zwar wird gesagt, die Reform sei in den Schulen "ohne Probleme" eingeführt worden. Diese Feststellung ist aber im Lichte dessen zu betrachten, daß es für Schulen Alltag ist, Neues einzuführen, z.B. Curricula, Lehrbücher. Zur Rechtschreibreform wird aus den Lehrerkollegien freilich sehr Unterschiedliches berichtet – von Zustimmung bis zu kategorischer Ablehnung. Wie sollte es bei deutschlandweit 700.000 Lehrern anders sein! Nicht ehrlich ist der Anspruch der Reformkommission, daß das neue Regelwerk mehr Übersichtlichkeit biete, indem aus bislang 212 Rechtschreibregeln nunmehr 112, in Sonderheit aus 52 Regeln zur Kommasetzung neun wurden. Dabei handelt es sich jedoch nur um einen Numerierungstrick. Beispiel: § 77 der Neuregelung (Komma bei Appositionen) enthält sieben Unterregeln, in denen elf bisherige Duden-Regeln eingearbeitet sind. Der Umfang des Regelwerkes hat sich also nicht reduziert.
Behauptung 3: Ein Zurück zur alten Schreibung stürze die Schüler ins Chaos.
Falsch! Es gab in den Schulen kein Chaos bei der Umstellung von der alten auf die neue Schreibung, wiewohl letztere anfangs parallel zu „alten“ Büchern unterrichtet wurde. Also wird der umgekehrte Weg auch kein Chaos bringen. An den Grundschulen wird deutlich, wie gering die rein schulische Reichweite der Reform ist. In Niedersachsen sind von 1.400 exakt 32 Wörter von der neuen Schreibung betroffen, davon 29 hinsichtlich s/ss/ß-Schreibung. Bayerns "Grundwortschatz für die Jahrgangsstufe 1 bis 4" umfaßt knapp 1.000 Wörter; davon sind 9 Wörter von der Reform betroffen, und zwar in der 1. Klasse kein Wort, in der 2. Klasse nass; in der 3. Klasse bisschen, Fluss, Schloss; in der 4. Klasse Fass, Kuss, Nuss, rau, Riss. Im übrigen ist das sog. Chaos Alltag in anderer Hinsicht. Denn mehrere bedeutende Literaturverlage haben es Schulbuchverlagen untersagt, Texte ihrer Autoren - der Reform entsprechend - verändert nachzudrucken. Dazu gehören Andersch, Brecht, Dürrenmatt, Enzensberger, Frisch, Grass, Hesse, Tucholsky u.a.m.
Behauptung 4: Es sei Zeit genug gewesen, auch seitens der Lehrer die Bedenken gegen die Rechtschreibreform zu artikulieren.
Falsch! Als es im Frühjahr 1993 zu einer Anhörung der Kultusministerkonferenz (KMK) und des Bundesministeriums des Innern kam, standen völlig andere Optionen zur Debatte: eine weitgehende Kleinschreibung von Substantiven; der Wegfall der Unterscheidung von das/daß zugunsten des einheitlichen das sowie eine weitreichende Eindeutschung von Fremdwörtern (z.B. Pitza). Das Wörterverzeichnis war allgemein zugänglich erst ab Frühsommer 1996. Das heißt, die Reformkritiker hatten vor Unterzeichnung der Vereinbarung zur Neuregelung vom 1. Juli 1996 in Wien keine Möglichkeit, hierzu Stellung zu nehmen. Gerade das Wörterverzeichnis hat es aber in sich. Eine öffentliche Diskussion um die Wörterliste entzündete sich nur sehr punktuell im Herbst 1995, als der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair durchsetzte, daß bei ca. 30 Wörtern (z.B. Katastrofe, Alfabet, Tron, Packet, Restorant, Frefel) die herkömmliche Schreibung wiederhergestellt wurde.
Behauptung 5: Ein Zurück zur alten Schreibung koste Milliarden.
Aus der Luft gegriffen! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVG) zur Rechtschreibreform vom 14. Juli 1998 ist eindeutig: „Durch die Neuregelung wird weder die Berufsfreiheit ... noch die ... wirtschaftliche Betätigungsfreiheit berührt.“ Auch für die Schulbuchverlage gelte: Sie haben „keinen Anspruch ..., für das Ergebnis wirtschaftlicher Betätigung einen Abnehmer zu finden“, so das BVG. Schadensersatzforderungen kann es also nicht geben. Auch müssen die Schulen nicht sofort alle Bücher neu kaufen. Das regelt sich gerade bei den Sprach- und Lesebüchern über die recht rasche Fluktuation des schulischen Buchbestandes durch Verschleiß.
Entscheidung fällig
Es gibt Wichtigeres als die Rechtschreibung. Natürlich, alles ist relativ. Gesundheit ist wichtiger als Erfolg. Rechtsstaatliche, freiheitliche Schule ist wichtiger als Schulstruktur. Der Streit um die Rechtschreibung muß dennoch gelöst werden. Entscheidend ist, daß es keine Spaltung der Sprachgemeinschaft gibt. Schule darf nicht zum Rechtschreib-Elfenbeinturm werden. Schule hat die "Aufgabe, das Wissen der Gesellschaft zu reproduzieren ... Für die Schule zu lernen (gemeint ist: nur für die Schule zu lernen; d.V.) paßt nicht zum Reproduktionsauftrag der Schule" (Gerd Roellecke, FAZ vom 30.9.1997). Es wäre pädagogisch höchst bedenklich, wenn Schule etwas vermittelte, was außerhalb der Schule nicht akzeptiert und von führenden Repräsentanten des Staates nicht praktiziert würde. Die Glaubwürdigkeit schulischer Bildung wird damit auf eine harte Probe gestellt, die Leidtragenden sind die Kinder.
Ein wichtiges – auch pädagogisches - Kriterium für eine Sprachreform ist der Erhalt der Ausdrucksvielfalt und der semantischen Differenzierung. Allerdings wird es laut Reform viele Unterscheidungsmöglichkeiten nicht mehr geben, beispielsweise zwischen wohl bekannt und wohlbekannt, fertig bringen und fertigbringen, schlecht machen und schlechtmachen. Und ein sehr wichtiges – ebenfalls pädagogisches – Kriterium ist die Systematik. Dieses Ziel ist in nur wenigen Reformbereichen erreicht, etwa durch Stärkung der Groß- bzw. Getrenntschreibung bei folgenden bislang geltenden Beispielen: Auto fahren versus radfahren, mit Bezug auf versus in bezug auf, Klavier spielen versus kopfstehen. Diesen kleinen Gewinnen an Systematik stehen erhebliche Verluste an Systematik gegenüber, vor allem bei der Zusammen- und Getrenntschreibung; hier steht nunmehr bekannt machen versus kundmachen, Probe laufen versus paarlaufen, Blut saugend versus blutstillend, Maß haltend versus maßgebend. Wie in Zeugnissen die zufriedenstellende (oder zufrieden stellende?) Mitarbeit geschrieben wird, ist den meisten Schulen ebenfalls nicht klar. Dergleichen eröffnet jedenfalls gerade in der Schule orthographischen Interferenzen und Kontaminationen Tür und Tor.
Die Reformer haben zudem hauptsächlich an den schreibenden Schüler gedacht (z.B. bei der Kommasetzung). Aber: Das Schreiben bleibt - abgesehen vom übenden Schreiben und vom Tagebuchschreiben - kein Selbstzweck, sondern es ist auf einen Leser angelegt. Es wird tausendfach mehr gelesen als geschrieben. Dieser Aspekt muß ins Zentrum der Überlegungen kommen. Das gilt im besonderen für die Setzung der Kommata als Sinn- und Strukturierungshilfe sowie für eine Silbentrennung, die das Lesen über den Zeilenumbruch hinweg nicht erschweren darf (siehe reformierte Beispiele: A-bend, E-sel, durcha-ckern).
Notwendig ist eine rasche politische Entscheidung. Die in Aussicht gestellten Nachbesserungen müssen die reformiert-unsystematischen Schreibweisen bereinigen. Das kann nicht erst im Jahr 2005 geschehen, denn bis dahin haben sich die unausgegorenen Schreibweisen weiter metastasiert. Die Schulen brauchen sofort Klarheit, wenn nicht die Sprache und die Kinder die Verlierer sein sollen. Sprachliche Exaktheit wird schließlich um so weniger ernst genommen, je mehr die Rechtschreibung das Image des Beliebigen bekommt. Schüler entwickeln dann das diffuse Gefühl, daß man etwas "so oder so oder auch anders" schreiben darf. Wie lange Lehrer dann noch Diktate durchsetzen können, bleibt fraglich.
Vor allem sollte man Sprache - auch im Interesse der Schule - endlich wieder und zunächst vom Standpunkt der Sprachsystematik aus betrachten. Wie viele andere Kultur- und Wissensbereiche ist Sprache zu komplex, als daß sie sich einem rein pädagogischen Zugriff beugte. Pädagogisch ist es, diejenigen Elemente der Sprache auszuwählen, die sich Kindern je nach Alter erschließen. Mit einer Instrumentalisierung der Kinder für eine unausgegorene Sprachreform, mit einer bloßen „Pädagogisierung“ der Sprache aber verarmt sie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. August 2000, Feuilleton
http://www.lehrerverband.de/reform.htm
Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Samstag, 28. Feb. 2004 23:11, insgesamt 4mal bearbeitet |
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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Samstag, 28. Feb. 2004 20:13 Titel: „Wohl durchdacht, aber nicht wohldurchdacht“ |
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<B>„Wohl durchdacht und viel versprechend, aber nicht wohldurchdacht und vielversprechend“</B>
Von Josef K r a u s
Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL)
BEHAUPTUNG 1:
Die Schulen und die Schüler kämen mit den Regeln der neuen Rechtschreibung gut zurecht, weil sie einfacher seien.
BEHAUPTUNG 2:
Die Schüler würden mit der neuen Schreibung weniger Fehler machen.
BEHAUPTUNG 3:
Ein Zurück zur alten Schreibung stürze die Schüler ins Chaos.
BEHAUPTUNG 4:
Ein Zurück zur alten Schreibung koste die Schulen Milliarden Mark.
BEHAUPTUNG 5:
Die Lehrer und ihre Organisationen seien mit überwältigender Mehrheit für die Rechtschreibreform.
BEHAUPTUNG 6:
Es sei Zeit genug gewesen, auch seitens der Lehrer und Schulen die Bedenken gegen die Rechtschreibreform zu artikulieren. Das sei versäumt worden.
GEFORDERT:
Pragmatismus, Aktzeptanz und Einheitlichkeit
GEFORDERT:
Lesbarkeit
WIE GEHT ES WEITER?
Wenn in Deutschland etwas im Gewande „moderner“ Pädagogik daherkommt, dann ist es nahezu sakrosankt. Alle möglichen pädagogischen Visionen wurden damit in den vergangenen Jahrzehnten für immun gegen Kritik erklärt. Die integrierte Gesamtschule, die autonome Spaßschule, der sog. Projektunterricht, der Anti-Noten-Affekt, die Abitur-Vollkasko-Politik - all dies und vieles mehr sind Beispiele einer Pädagogik, der es manchmal um das Kind, zumeist aber gequält um „Modernität“, um das eigene Pädagogen-Ego oder im Namen der Weltverbesserung um bloße Abräumlaune geht.
Der schlichte und einfache Menschenverstand hat hier keine Chance. Vor allem hat er keine Chance mehr, wenn Pädagogik im Gewande der Erleichterungspädagogik oder des Machbarkeitswahns einherschreitet. Früher lief das unter dem Etikett der Chancengleichheit. Da aber Chancen bei aller Bedeutung sozialstaatlicher Gebote nun einmal unterschiedlich verteilt sind, weil die Begabungen unterschiedlich sind, ist man seitens der Pädagogik offiziell von der Politik der Gleichmacherei abgerückt.
Herstellung von Gleichheit findet nunmehr nach dem Grundsatz statt: Was nicht alle können, darf keiner können. Womöglich schwingt in offizieller deutscher Pädagogik sogar der alte Rousseau mit seinem Diktum mit: Der Mensch müsse von der Kultur befreit werden, dann werde er sich gut entwickeln.
Nun hat es solchermaßen die deutsche Rechtschreibung erwischt. Seit es die Achtundsechziger gab, galt sie als Herrschafts- und Selektionsinstrument, dem der Gauraus zu machen sei. Außerdem mutet die Orthographie manchen als starres Regelsystem an und damit als unkreativ. Was Wunder, daß sich Reformer aufmachten, diese Bastion zu schleifen. Dabei hätte es doch eine andere Möglichkeit gegeben: die Rechtschreibung in den Schulen wieder ernst zu nehmen und konsequenter zu üben (ohne sie deshalb überzubewerten), anstatt sie zu diskreditieren und das Schreiben auf das Ausfüllen von Lückentexten zu reduzieren. Kniefälle also vor einer fortschreitenden Legasthenisierung der Gesellschaft? Jedenfalls sei die These gewagt, daß auch ohne Rechtschreibreform und mit einem ernsteren Orthographieunterricht bessere Ergebnisse in den Orthographieleistungen erzielbar wären. Bei solider Unterrichtung und bei soliden Grammatikkenntnissen wäre es möglich, sogar viele als unsystematisch erscheinende Schreibweisen verständlich zu machen: selbst pleite gehen (pleite als Adverb) versus Pleite machen (Pleite als Akkusativ-Objekt).
Wundersam jedenfalls ist die Inflation an „pädagogischen“, schulpolitischen und ähnlichen Argumenten, mit denen die Rechtschreibreform verteidigt wird. Die Auseinandersetzung damit lohnt, denn sie zeigt im Ergebnis, daß bei der Verteidigung der Rechtschreibreform nicht einmal die erleichterungspädagogische Attitüde Bestand hat.
Behauptung 1: Die Schulen und die Schüler kämen mit den Regeln der neuen Rechtschreibung gut zurecht, weil sie einfacher seien.
Eine unbewiesene Behauptung! Zwar wird vielfach - vor allem von seiten der Reformkommission und der Schulverwaltung - argumentiert, die Reform der Rechtschreibung sei in den Schulen „ohne Probleme“ und „klaglos“ eingeführt worden. Diese Feststellung ist aber im Lichte dessen zu betrachten, daß es für Schulen selbstverständliches „Geschäft“ ist, permanent Neues einzuführen (z.B. neue Curricula, neue Lehrbücher, neue Software, neue Geräte usw.). Außerdem verhält sich die Lehrerschaft bei angewiesenen Neuerungen weitestgehend loyal gegenüber dem Dienstherrn und weiß darum, daß es diesbezüglich keinerlei Widerstandsrecht gibt. Ansonsten aber wird aus den Lehrerkollegien sehr Unterschiedliches berichtet: Die Einstellung zur Reform reicht von unbedingter Zustimmung bis zu kategorischer Ablehnung. Wie sollte es bei deutschlandweit 700.000 Lehrern anders ein!
Geflissentlich übersehen wird von den Reformern die auch schulisch relevante Tatsache, daß viele reformierte Regeln oder deren Interpretationen nicht eindeutig sind. Sonst wäre es nicht zu den erheblichen Abweichungen zwischen verschiedenen Wörterbüchern gekommen, sonst fühlte sich der Dudenverlag nicht bemüßigt, jetzt die 22. Auflage herauszugeben. Die Reformkommission nimmt zwar für sich in Anspruch, daß durch die Reform mehr Übersichtlichkeit erfolge, indem aus bislang 212 Rechtschreibregeln nunmehr 112 Regeln, in Sonderheit aus 52 Regeln zur Kommasetzung 9 Regeln wurden. Aus rechtschreibdidaktischer Sicht handelt es sich bei diesem Numerierungstrick aber nicht um einen Gewinn an Übersichtlichkeit. Nur ein Beispiel: Der § 77 der Neuregelung (zum Komma bei Appositionen) enthält sieben Unterregeln, in denen elf bisherige Duden-Regeln eingearbeitet sind. Der Umfang des Regelwerkes hat sich also keineswegs reduziert. Wie bei all dem ein Vertreter des Grund- und Hauptschulbereichs behaupten mag, mit der Rechtschreibreform hätten die Lehrer mehr Zeit, sich ihren Schülern zu widmen, bleibt freilich sein ganz persönliches Geheimnis.
Behauptung 2: Die Schüler würden mit der neuen Schreibung weniger Fehler machen.
Falsch! Eine den Kriterien empirischer Forschung genügende Untersuchung des Umfangs der Fehlerreduzierung nach Einführung der Rechtschreibreform hat kaum stattgefunden. Sie wäre sinnvoll gewesen, und sie wäre machbar gewesen (und zwar mit Hilfe von parallelisierten Schülergruppen, die nach einem Pre-Test unterschiedlich in herkömmlicher oder reformierter Schreibung unterrichtet worden wären und sich nach dieser Schulungsphase einem Re-Test unterzogen hätten). Dergleichen Untersuchungen können jetzt nicht mehr stattfinden, weil die Vergleichsstichproben aus der Zeit vor Einführung der Reform fehlen.
Zahlen von Prozentanteilen vermiedener Fehler, die noch 1997 referiert wurden, werden zwischenzeitlich wohlweislich nicht mehr referiert, weil sich herausstellte, daß diese „Untersuchungen“ methodische Artefakte waren, indem dabei Diktattexte verwendet wurden, die hochverdichtet mit Rechtschreibproblemen durchsetzt waren, aber den üblichen Alltagstexten kaum entsprachen. Als utopisch erscheinen vor allem frühere Berechnungen oder Schätzungen, denen zufolge nach der Reform zwischen 40 und 70 Prozent der Fehler weniger gemacht würden. Solche Prozentsätze erscheinen schon deshalb als nicht möglich, weil ja nur 0,5 bis 0,8 Prozent der Wörter von der Reform betroffen sind. Eine Fehlerreduzierung von 40 bis 70 Prozent hieße, daß im Wort-Corpus außerhalb des reformierten Corpus nahezu keine Fehler mehr gemacht würden.
Falls es überhaupt zu einer Verringerung der Fehler kam, dann hat das vor allem mit den Prinzipien „Beliebigkeit“ und „Zufallstreffer“ zu tun.
Beliebigkeit heißt: Wenn ich ein Komma setzen kann, aber nicht muß, dann passieren hier eben erheblich weniger Fehler. Das ist in etwa so, wie wenn der Mathematiklehrer bei der Aufgabe „4 mal 4“ auch die Ergebnisse 15 und 17 gelten ließe. Und Zufallstreffer heißt: Wenn bis zum Jahr 2005 „naß“ und „nass“ richtig sind, dann schreiben viele Kinder im Moment eben per Zufall richtig; vor 1996 hätten die Unsicheren mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit falsch geschrieben, und nach 2005 tun sie das mit eben selber Wahrscheinlichkeit wieder.
Behauptung 3: Ein Zurück zur alten Schreibung stürze die Schüler ins Chaos.
Falsch! Es gab in den Schulen – nach Aussage der Reformer – kein Chaos bei der Umstellung von der alten auf die neue Schreibung, wiewohl die neue Schreibung größtenteils parallel zu „alten“ Büchern unterrichtet wurde. Also wird der umgekehrte Weg auch kein Chaos bringen. Am Beispiel der Grundschulen kann deutlich gemacht werden, wie gering die schulische Reichweite der Reform ist. In Niedersachsen sind von 1.400 exakt 32 Wörter von der neuen Schreibung betroffen, davon 29 im Zusammenhang mit der s/ss/ß-Schreibung. In Sachsen sind zwei Wortstämme (müssen und essen) in der 1. Klasse betroffen; bei Berücksichtigung der flektierten Formen dieser beiden Wörter ergibt das einige wenige Neuschreibungen mehr: muss/musste/müsste bzw. isst/esst. Bayerns „Grundwortschatz für die Jahrgangsstufe 1 bis 4“ umfaßt knapp 1.000 Wörter; davon sind 9 Wörter von der Reform betroffen, und zwar in der 1. Klasse kein Wort, in der 2. Klasse nass; in der 3. Klasse bisschen, Fluss, Schloss; in der 4. Klasse Fass, Kuss, Nuss, rau, Riss. Von den 9 Änderungen entfallen also 8 auf die s/ss/ß-Schreibung. Es kommen allerdings auch hier Neuschreibungen bei Verben hinzu, bei denen das Doppel-s des Infinitivs bei bestimmten Flexionen als Doppel-s bleibt und nicht - wie bislang - zu ß wird; zum Beispiel essen/isst, müssen/müsst; hinzu kommen Verben, bei denen das ß des Infinitivs bei bestimmten Flexionen zu Doppel-s wird und nicht - wie bislang - als ß bleibt (zum Beispiel gießen/goss, reißen/riss, schießen/schoss).
Im übrigen ist die Unterschiedlichkeit der Rechtschreibung (das sog. Chaos) jetzt schon schulischer Alltag in ein und denselben Deutschbüchern. Denn mehrere bedeutende Literaturverlage haben es Schulbuchverlagen untersagt, Texte ihrer Autoren in Schulbüchern - der Reform entsprechend - verändert nachzudrucken.
Behauptung 4: Ein Zurück zur alten Schreibung koste die Schulen Milliarden Mark.
Aus der Luft gegriffen! Es mag zwar ehrenhaft sein, sich mit Blick auf öffentliche Haushalte den Kopf des Steuerzahlers zu zerbrechen. Aber ansonsten verwundert es, wenn Sprecher von Pädagogenorganisationen erklären, es seien „milliardenschwere Schadensersatzforderungen von seiten der Schulbuchverlage“ zu befürchten. Sollte man etwa trotz eigener Stellungnahme dorthin das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVG) zur Rechtschreibreform vom 14. Juli 1998 nicht gelesen haben? Das BVG ist hier eindeutig: „Durch die Neuregelung wird weder die Berufsfreiheit ... noch die ... wirtschaftliche Betätigungsfreiheit berührt.“ Die Verlage könnten sich ja für oder gegen die neue Rechtschreibung entscheiden. Auch für die Schulbuchverlage gelte: Sie haben „keinen Anspruch ..., für das Ergebnis wirtschaftlicher Betätigung einen Abnehmer zu finden“, so das BVG. Das gilt selbstverständlich auch für eine Revision der Reform oder deren Rücknahme; beides wäre ja wiederum eine Neuregelung.
Behauptung 5: Die Lehrer und ihre Organisationen seien mit überwältigender Mehrheit für die Rechtschreibreform.
Falsch! 700.000 Lehrer in Deutschland sind kein monolithischer Block, und sie sind auch in Sachen Rechtschreibreform ein Abbild dieser Gesellschaft. Wenn ein Lehrer – wie der Verfasser dieses Artikels in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 6. August 2000 – für eine partielle Rücknahme der Reform plädiert, dann vertritt er nicht nur seine Privatmeinung, und dann ist er schon gar nicht isoliert. Wie unabhängig manche Lehrerorganisation im übrigen bei ihrer öffentlichen Stellungnahme zu Werke ging, war allein schon an Äußerlichkeiten im Vorfeld der BVG-Entscheidung erkennbar: Eine Organisation ließ sich bei der Anhörung der Reformkommission von einem Ehepaar vertreten, das Eigentümer eines pädagogischen Verlages ist, und zwar eines Verlages, der bereits lange vor dieser Anhörung ein breites Sortiment an Trainingsbüchern zur neuen Rechtschreibung aufgelegt hatte. Und wie fachlich fundiert und glaubwürdig solche und andere Pro-Reform-Stellungnahmen sind, zeigen ansonsten Editorials so mancher Reformexponenten in ihren Verbandsorganen, die noch im Frühjahr 2000 pro Seite bis zu zehn Fehler nach neuer Rechtschreibung enthalten. Ein Stück dieser Kategorie hat die FAZ am 17.8.2000 ans Tageslicht gebracht. Die Vorsitzende des Bundeselternrates fabrizierte in einem Pro-Reform-Brief an den KMK-Präsidenten neben zwei Flüchtigkeits- und zwei Kommafehlern auf einer Seite immerhin fünf gravierende Fehler: das/dass-Verwechslung, peripher, zu zumuten usw. Dabei hilft die Reform doch angeblich, Fehler zu vermeiden! Wie auch immer: Es gibt Hunderttausende Eltern und Lehrer, die ein ernsthafteres Verhältnis zur Sprache haben.
Behauptung 6: Es sei Zeit genug gewesen, auch seitens der Lehrer und Schulen die Bedenken gegen die Rechtschreibreform zu artikulieren. Das sei versäumt worden.
Falsch! Als es im Frühjahr 1993 zu einer Anhörung der Kultusministerkonferenz (KMK) und des Bundesministeriums des Innern (BMI) kam, standen folgende Optionen im Zentrum der Diskussion: die Option einer weitgehenden Kleinschreibung von Substantiven (sog. Variante D3); die Option eines Wegfalls der Unterscheidung von das/daß zugunsten des einheitlichen das sowie die Option einer weitreichenden Eindeutschung von Fremdwörtern (z.B. Pitza). Diese Optionen wurden nicht zuletzt aufgrund der Widerstände bei der Anhörung ad acta gelegt. Das Schlimmste war damit zunächst verhindert.
Ansonsten lag zu dieser KMK/BMI-Anhörung noch kein Wörterverzeichnis vor; dieses erschien im Juni 1995 als „4. Zwischenergebnis“ (allgemein zugänglich im Narr-Verlag erst 1996 als Band „Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis“). Das heißt, die Reformgegner hatten vor 1996 keine Möglichkeit, in Gänze zu dem im Dezember 1995 von der KMK bzw. im März 1996 von der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) verabschiedeten Reformkonzept Stellung zu nehmen. Erst mit dem Erscheinen der kultusministeriellen Bekanntmachungen ab Mai 1996 bzw. der ersten Wörterbücher (Juli 1996) erfuhren Fachöffentlichkeit und Öffentlichkeit alle Wort-Details aus dem neuen Wörter-Corpus. Eine öffentliche Diskussion um die Wörterliste entzündete sich nur punktuell im Herbst 1995 bzw. zum Jahreswechsel 1995/96, als der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair intervenierte und durchsetzte, daß noch ca. 30 Wörter (z.B. Katastrofe, Alfabet, Tron, Packet, Restorant, Frefel) im Wörterverzeichnis geändert wurden bzw. hier die herkömmliche Schreibung wiederhergestellt wurde. Aber die Wörterliste kam erst im Sommer 1996 zum Vorschein. Und dann regte sich ja auch sofort – vor allem durch die „Frankfurter Erklärung“ – Widerstand. Vorher war eine fachliche Auseinandersetzung nicht möglich.
Behauptung 7: Es gebe viel wichtigere politische und pädagogische Sachthemen als das Thema Rechtschreibung.
Natürlich! Alles ist relativ. Es gibt immer etwas Wichtigeres. Gesundheit ist wichtiger als beruflicher Erfolg. Rechtsstaatliche, freiheitliche Schule ist wichtiger als jede Schulstruktur. Die Schulstruktur ist wichtiger als die Dauer des Schulbesuches. Aber gibt es viel Wichtigeres als das genuin menschliche Kommunikationsmittel der Sprache? Um so betrüblicher ist es, daß die sprachlichen Defizite der Heranwachsenden – und der Erwachsenen - immer größer werden. Gesellschaft und Schule müßten deshalb der sprachlichen - und der literarischen - Bildung wieder mehr Aufmerksamkeit widmen. Das gilt auch für die Rechtschreibung. Sprache – auch korrekte Sprache - ist neben dem Denken schließlich Vehikel zur Aneignung von Welt und zur Teilhabe an Welt. Über die Sprache vollzieht sich die Fixierung von Welt im Wahrnehmen und Erleben; außerdem gelingt über die Sprache die Distanzierung zur Welt, die wiederum Voraussetzung für das Verfügen über Welt ist. Sprache ist zudem Vehikel für die Entfaltung der Innerlichkeit des Erlebens. Schließlich hat die Schriftsprache mit der kulturellen Identität zu tun. Und Sprache ist das wichtigste Werkzeug des Menschen, um Kultur zu schaffen. Da sollte in Fragen der Schreibung nicht geschludert werden.
Gefordert: Pragmatismus, Akzeptanz und Einheitlichkeit
Der Streit um die Reform der Rechtschreibung muß pragmatisch gelöst werden. Als Kriterien sollten dabei gelten: die Einheitlichkeit der Schreibung, der Erhalt der Ausdrucksvielfalt sowie die Systematik und die Transparenz der Regeln. Nur unter Beachtung dieser Kriterien findet eine Reform bei der breiten Bevölkerung Akzeptanz. Diese Akzeptanz wurde freilich nie erreicht. Es wenden sich seit vier Jahren mehr als zwanzig Bürgerinitiativen gegen die Reform. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellte zum 1. August 2000 auf die alte Schreibung um, ebenso der Deutsche Hochschulverband, die Vertretung von 17.000 deutschen Professoren. Zahllose namhafte Autoren haben sich gegen die Reform ausgesprochen. 77 Prozent der Professoren halten die Reform nicht für sinnvoll. Je nach Umfrage sprachen sich 71 bis 95 Prozent der Bevölkerung gegen die Reform aus. Spitzen des Staates (der damalige Bundespräsident Roman Herzog, Ministerpräsidenten usw.) halten die Reform für „überflüssig wie einen Kropf“, oder sie kündigen an, sie würden auch zukünftig schreiben, wie sie es gelernt haben.
Entscheidend aus schulischer Sicht ist, daß es keine Spaltung der Sprachgemeinschaft durch eine Spaltung der Schriftsprache gibt. Eine Aufspaltung in eine Zweisprachengesellschaft - hier die amtliche und schulische Sprache, dort die öffentliche und private - muß auch im pädagogischen Interesse vermieden werden. Schule darf nicht zum Rechtschreib-Elfenbeinturm werden. Die Leidtragenden wären die Kinder.
Schule hat die „Aufgabe, das Wissen der Gesellschaft zu reproduzieren“ (vgl. Gerd Roellecke, FAZ vom 30.9.1997). Das heißt, Schüler haben ein Recht, das zu lernen, was die Gesellschaft will/braucht/akzeptiert. Und die Schulen haben die Pflicht, das zu vermitteln, was auch außerhalb der Schule gilt bzw. akzeptiert wird. („Non scholae sed vitae discimus.“) Das in der Schule vermittelte Wissen und die in der Schule vermittelten Fertigkeiten müssen also über die Schule hinaus gelten können und Bestand haben. Insofern darf es keine getrennten bzw. unterschiedlich verbindlichen Schreibungen geben. Es muß für die Schreibweise das gleiche gelten wie für curriculare Entscheidungen: Sie müssen außerhalb der Schule anerkannt sein. Insgesamt gilt also: „Für die Schule zu lernen (gemeint ist: nur für die Schule zu lernen; d.V.) paßt ... nicht zum Reproduktionsauftrag der Schule“ (Roellecke).
Das gilt auch hinsichtlich einer erforderlichen Kongruenz von deutscher und fremdsprachiger Schreibung, womöglich sogar mit Auswirkungen auf die Aussprache bei Schreibungen, die alternativ möglich sind: Spaghetti (alt)/Spagetti (neu). Im Falle mangelnder Kongruenz werden sich hier für Schüler Schwierigkeiten ergeben. Für Schreibende wie auch Lesende besteht dann die zusätzliche Herausforderung, daß sie aufgrund ihres Beherrschens einer Fremdsprache zwischen der Schreibung im Deutschen und in der Herkunftssprache unterscheiden lernen müssen. Insbesondere für Lesende kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu, wenn nämlich die Schreibung gegenüber der Herkunftssprache im Sinne einer ungewohnten Zusammenschreibung (Topten, Publicrelations) erfolgt.
Pädagogisch höchst bedenklich ist es darüber hinaus, wenn in der Schule etwas vermittelt wird, was außerhalb der Schule in weiten Bereichen bis hin zu den führenden Repräsentanten des Staates nicht akzeptiert wird. Die Glaubwürdigkeit von schulischer Bildung wird damit auf eine sehr harte Probe gestellt.
Gefordert: Lesbarkeit
Die Reformer haben hauptsächlich an den schreibenden Schüler gedacht (z.B. bei der Kommasetzung): Die Kommissionsmitglieder Augst und Schaeder sind gar der „Ansicht, dass alle RS-Regeln genau dann auf den Prüfstand gestellt werden können und müssen, wenn sie dem Leser zwar einen kleinen Vorteil bescheren mögen, dem Schreiber aber große Probleme bereiten. Es muss zu einem Interessenausgleich kommen!“ (Augst und Schaeder, 1997). Soll man darüber schmunzeln oder sich ärgern? Denn Schreiben bleibt - abgesehen vom übenden Schreiben in der Schule und vom Tagebuchschreiben - kein Selbstzweck, sondern es ist auf einen Leser angelegt. Es wird tausendfach mehr gelesen als geschrieben. Dieser Aspekt muß bei einer Revision der Reform ins Zentrum der Überlegungen kommen. Das gilt im besonderen für die Setzung der Kommata und für eine Silbentrennung, die das Lesen über den Zeilenumbruch hinweg nicht erschweren darf (Beispiele: Ins-tinkt, Pul-lover, A-bend, E-sel, durchackern). Und das gilt zumal für Schüler: Sie lernen das Schreiben ja kaum als Selbstzweck, sondern um sich anderen verständlich zu machen.
Wie geht es weiter?
Es wird nach wie vor gemauert. Im März 1997 war angekündigt worden, daß die Bereinigung der Widersprüche bis zum Beginn des Schuljahres 1997/98 erfolge; dies geschah nicht. Eine
Veröffentlichung einer korrigierten Wörterliste war laut Pressekonferenz der Reformkommission vom 12. September 1997 auch nicht vorgesehen; dies führe zu Verwirrungen, hieß es. Komplett aber wurde die Verwirrung, als die Kommission zum Jahreswechsel 1997/98 ihren Änderungsbericht vorlegte und für den 23. Januar 1998 zu einem Hearing einlud. Ergebnis: Die KMK wischte alle Revisionsvorschläge vom Tisch.
Notwendig ist jetzt eine rasche politische Entscheidung. Es muß der Anspruch gestellt werden, daß die in Aussicht gestellten Nachbesserungen die Auslegung der Regeln präzisieren bzw. eindeutig machen und daß neue unsystematische Schreibweisen dadurch bereinigt werden. Das kann nicht erst im Jahr 2005 geschehen. Die Schulen brauchen sofort fachliche und didaktische Klarheit.
Somit bleibt: Die Kommission und mit ihr leider auch die Sprachwissenschaften haben einen herben Verlust an Ansehen zu verzeichnen. Das wäre nicht weiter tragisch, wenn am Ende nicht die Sprache selbst der Verlierer wäre. Sprache bzw. sprachliche Exaktheit werden schließlich um so weniger ernst genommen, je länger sich der Streit hinzieht. Schüler entwickeln dann das diffuse Gefühl, daß man etwas „so oder so oder auch anders“ schreiben kann bzw. darf. Bis zum Jahr 2005 ohnehin. Rechtschreibung erhält damit das Image des Beliebigen. Wie lange Lehrer dann noch Diktate durchsetzen können, bleibt fraglich.
In der Kultusministerkonferenz beginnt es in Sachen Rechtschreibreform gottlob zu bröckeln. Minister aus Hessen, Thüringen, Berlin und Bayern haben zuletzt erklärt, es seien Nachbesserungen bei den Rechtschreibregeln notwendig.
Bis zum Jahr 2005 darf man aber nicht warten. Wenn man Wucherungen erkannt hat, ist alles zu tun, daß sie nicht noch weiter metastasieren. Im Zweifelsfall müssen sonst die Chefärzte, die Ministerpräsidenten, einschreiten. Vielleicht sollte man die Reformkommission auch entpflichten. Sie hat ihre Schuldigkeit getan und ist nicht mehr in der Lage, zu sich selbst auf kritische Distanz zu gehen. Aber: Ein gescheiter Journalist, ein versierter Lektor, ein erfahrener Deutschlehrer – diese drei eine Woche in ein Kloster in Klausur eingesperrt, das erbrächte auch jetzt noch praktikable Reformlösungen.
Vor allem sollte man Sprache endlich wieder vom Standpunkt der Sprachsystematik und der Sprachanalyse aus betrachten und dann erst vom Standpunkt der Grundschule. Wie viele andere Kultur- und Wissensbereiche ist Sprache zu komplex, als daß sie sich einer ausschließlichen schulpädagogischen Betrachtung beugte. Man kann weder die gesamte Physik noch die gesamte Mathematik, weder die gesamte Geschichte noch eine komplette Fremdsprache nur noch so hintrimmen, daß sie schülergerecht ist. Das gilt auch für die Sprache insgesamt. Pädagogisch ist es, diejenigen Elemente aus diesen Bereichen auszuwählen, die sich Kindern je nach Alter erschließen.
Mit einer Instrumentalisierung der Kinder für eine unausgegorene Sprachreform, mit einer Vergrundschulung des Deutschen aber verarmt die deutsche Sprache.
Es gibt schließlich ein Leben auch außerhalb der Schule, und das ist weitaus komplexer. Und es gibt eine Sprache außerhalb der Schule, und die ist ebenfalls komplexer, als es Erleichterungspädagogen annehmen möchten.
Wohldurchdacht und vielversprechend jedenfalls war die Reform auch nach zehnjähriger Kommissionsarbeit nie; sie könnte allenfalls von sich behaupten, wohl durchdacht und viel versprechend zu sein. Aber behaupten kann man viel.
Aus MedienDialog Nr. 8/2000 - September 2000
Deutscher Lehrerverband (DL) - Burbacher Straße 8 - 53129 Bonn - Tel. (02 28) 21 12 12 - FAX 21 12 24, info@lehrerverband.de
http://www.lehrerverband.de/medien.htm
Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Samstag, 28. Feb. 2004 20:36, insgesamt 2mal bearbeitet |
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Manfred Riebe
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: Samstag, 28. Feb. 2004 20:14 Titel: „Verzichtet auf die Rechtschreibreformkommission!“ |
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<b>„Verzichtet auf die Rechtschreibreformkommission und ihren Beirat!“</b>
Pardon! Ich weiß nicht warum, aber an dieser Stelle fällt mir die <b>Rechtschreibreform</b> ein. Sie wurde für sakrosankt erklärt, weil sie im Gewande „moderner“ Pädagogik, im Gewande der Kindgemäßheit daherkommt. Seit den „Achtundsechzigern“ gilt sie zudem als „Herrschaftsinstrument“. Was Wunder, daß sich Reformer aufmachten, diese Bastion zu schleifen! Dabei hätte es eine <b>andere Möglichkeit</b> gegeben zur Verbesserung der Rechtschreibleistungen: die Rechtschreibung in den Schulen konsequent zu üben, anstatt sie zu diskreditieren und anstatt das Schreiben auf das Ausfüllen von Lückentexten zu reduzieren! Und: Wenn es um Sprachwissenschaftliches geht, sollte man Sprachwissenschaftler und Sprachpraktiker fragen, aber nicht Erleichterungspädagogen. Deshalb bleibe ich bei meiner <b>Empfehlung</b>, auch wenn sie manch dilettierendem Orthographie-Funktionär nicht gefällt: Verzichtet auf die Rechtschreibreformkommission und ihren Beirat! Steckt je einen Lektor, Journalisten und Deutschlehrer eine Woche in ein Kloster, dann kommt Vernünftigeres heraus, als wir es jetzt haben!
Auszug aus Josef Kraus: Gymnasium zwischen kulturellem Auftrag und Nützlichkeitsdenken. Festvortrag des Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, beim Vertretertag 2000 des Philologenverbandes Niedersachsen - Goslar, 6. Dezember 2000
http://www.lehrerverband.de/fest.htm |
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Manfred Riebe
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: Dienstag, 15. Jun. 2004 12:14 Titel: Josef Kraus in der „Bayerischen Staatszeitung“ |
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Josef Kraus in der „Bayerischen Staatszeitung“:
„Die Hoffnungen ruhen auf dem Markt“
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Kultusminister und die Kommissare für Rechtschreibung
Josef Kraus schreibt in seinem Leitartikel:
(KMK) steht in schlechtem Ruf: Wegen ihrer an eine Schildkröte erinnernden Dynamik sei sie das überflüssigste Gremium, heißt es. Dennoch verkündete sie jetzt: „Die KMK hat dem 4. Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung zugestimmt und sich für einen ’Rat für deutsche Rechtschreibung’ ausgesprochen.“ Konkret heißt das: Die Rechtschreibreform tritt zum 1. August 2005 endgültig in Kraft: Schüler und Amtspersonen dürfen dann nicht mehr so schreiben, wie es in Milliarden von Büchern steht und wie es Thomas Mann, Günter Grass oder Martin Walser taten bzw. tun.
Widerwillig bewegt haben sich KMK und Kommission in der Getrennt- und Zusammenschreibung; hier schlägt man „Varianten“ vor. Statt „allein stehend“ und „Rat suchend“ sollen „alleinstehend“ und „ratsuchend“ wieder möglich sein. Damit halten rund dreitausend weitere Schreibungen Einzug ins Regelwerk. Mehr noch: Vereinzelt soll eine meta-reformierte Schreibung gelten. Symptomatisch hierfür ist die Sache mit „Leid/leid“. Früher schrieb man: „Die KMK könnte jedem leid tun.“ Seit 1998 schreibt man: „Die KMK könnte jedem Leid tun.“ Erstere Schreibung soll nun gar nicht mehr gelten, dafür zusätzlich die zusammengeschriebene: „Die KMK könnte jedem leidtun.“ Das Mitleid mit der KMK dürfte sich in Grenzen halten. Man erinnere sich: Schon 1987 hatte die KMK einen Reformauftrag erteilt, 1993 gab es eine Anhörung. Möglich geworden wäre damals: „im bot bot sie im das du an.“ So weit kam es nicht. Am 1. Juli 1996 aber wurde in Wien die Vereinbarung zur Reform unterzeichnet. Aus 112 Regeln wurden mehr als tausend Bestimmungen, Listen usw. Ab 1998 war dieses Konvolut für Schulen und Ämter verbindlich. Für eine Übergangsfrist bis 2005 sollten alte und neue Schreibung gelten.
Die KMK bekommt die Sache aber nicht in den Griff. Die Kritik namhafter Schriftsteller sowie Sprach- und Rechtswissenschaftler, den Appell von neun deutschen Akademien der Wissenschaften und der Künste und die Kritik des Goetheinstituts hat man in den Wind geschlagen. Zudem hätte man wissen können, daß die Zahl der Schreibfehler seit 1998 größer geworden ist: Man hätte nur tausend Schüleraufsätze der Zeit vor 1998 mit tausend Aufsätzen des Jahres 2003 fehlertypologisch auszuzählen brauchen. Wie geht es weiter? Schüler haben zunehmend das diffuse Gefühl, daß man etwas „so oder auch anders“ schreiben darf. Im übrigen verbessern viele Lehrer eigentlich nur noch die s/ss/ß-Schreibung. Ähnlich verhalten sich die zur neuen Schreibung verpflichteten amtlichen Schreiber; alles andere durchschaut ohnehin kaum einer.
Auf der KMK ruhen keine Hoffnungen mehr; sie hat sich von ihren „Experten“ an der Nase herumführen lassen. Statt ein Moratorium einzuschalten, faßt sie den Plan, den „Rat für deutsche Rechtschreibung“ Ende 2004 so besetzen zu wollen, daß er sich durch ein „hohes Maß an Pluralität“ auszeichnet. Proporz also statt Sach- und Fachkunde!
Die Hoffnungen ruhen auf dem Markt. Wenn noch eine große Zeitung der „Frankfurter Allgemeinen“ und deren Rückkehr zur bewährten Schreibung folgt, dann dürfte der Reform der Garaus gemacht sein. Sodann ruhen die Hoffnungen auf den Lehrern. Sie werden keinen Schüler durchfallen lassen, bloß weil er das Reformchaos nicht durchschaut. Aber sie werden hoffentlich die Varianten unterrichten, die grammatisch und semantisch richtig sind. Den Reformern aber sei gesagt: Eine Nation, die solche Experten hat, braucht keinen PISA-Test mehr!
Bayerische Staatszeitung - Aktuell , Ausgabe 24/2004 vom 11. Juni 2004
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www.bayerische-staatszeitung.de/index.jsp?MenuID=1&ArtikelID=1743
www.sueddeutscher-verlag.de/index.php?idcat=9
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Anmerkungen:
„Reformdämmerung in der Bayerischen Staatszeitung“ heißt es in www.rechtschreibreform.com: www.rechtschreibreform.com/Perlen/KraftBank/KraftBank.pl?SunJun1312:00:56CEST2004
Die „Bayerische Staatszeitung“ gehörte zu den wenigen Zeitungen, die durch ihren ehemaligen Feuilletonchef Hans Krieger über den Rechtschreibreform-Unsinn am besten informiert waren. |
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Manfred Riebe
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: Samstag, 23. Jul. 2005 10:47 Titel: Rechtschreibreform: „Belastung für Schulen“ |
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Meldungen
Rechtschreibreform: „Belastung für Schulen“
KÖLN. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, befürchtet angesichts des Streits um die Rechtschreibreform eine „Zwei-Klassen-Schreibung“. Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz (KMK) seien nur verbindlich für Schulen und Behörden, sagte Kraus am Freitag im WDR-5-“Morgenecho“. „Jeder Staatsbürger, jeder Journalist, jeder Autor kann schreiben, wie er will“, betonte er. Dies könne zu einer anerkannten und einer weniger anerkannten Schreibung führen. Es sei auch eine „Belastung für die Schulen“, daß es zeitgenössische Autoren gebe, die im Unterricht gern behandelt würden, ihre Werke aber nicht in neuer Schreibweise verfaßten. Die unionsgeführten Bundesländer hatten am vergangenen Donnerstag bei der Ministerpräsidentenkonferenz in Berlin gefordert, die Reform um ein Jahr zu verschieben. Die SPD-Länder lehnten dies jedoch ab. Damit treten wie Anfang Juni von der Kultusministerkonferenz beschlossen zum 1. August Teile des neuen Regelwerks in Kraft.
JUNGE FREIHEIT, Nr. 27/05 vom 1. Juli 2005, Seite 14
http://www.jf-archiv.de/archiv05/200527070144.htm |
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