Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen |
Autor |
Nachricht |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Mittwoch, 03. Dez. 2003 00:31 Titel: Rheinischer Merkur |
|
|
IM VISIER
Acht Präsidenten und die Orthografie
Das erste Opfer der Rechtschreibreform war die Norm.
Und mit ihr starb die Verbindlichkeit, die sie gestiftet hat.
Von Hans-Joachim Neubauer
Wem gehört die Sprache? Vor acht Jahren, am 1. Dezember 1995, beschlossen die deutschsprachigen Länder eine Reform, die seither als bildungspolitischer Schildbürgerstreich die Schreibenden beschäftigt: Zum 1. August 1998 trat die Rechtschreibreform in Kraft. Seither lernen unsere Kinder ihre Muttersprache nicht mehr so wie ihre Eltern und Großeltern, sondern so, wie es die von den Kultusministern bestellten Sprachhüter diktieren. Anders als die Franzosen mit ihrer Académie française haben die Deutschen kein Institut, das über den Kulturmachthabern anzusiedeln wäre. Aber immerhin: Wir hatten den Duden.
Neben diese Instanz sind seit der Reform andere Werke getreten; längst nicht immer sind sie sich darüber einig, was richtig ist. Das erste Opfer der Reform war die Norm. Und mit ihr starb die durch sie gestiftete Verbindlichkeit. Die Mängel sind bekannt: Getrennt- statt Zusammenschreibung, Großschreibung bei adverbialen Verbindungen, Abspaltung einzelner Buchstaben bei der Silbentrennung. Die Älteren resignieren, die Jüngeren relativieren, und die „FAZ“ kehrte nach einem Jahr zurück zur traditionellen Praxis. Autoren wie Günter Grass verbieten den „reformierten“ Abdruck ihrer Texte. So ist eigentlich keiner zufrieden. Und alle sind es leid.
Wie groß die Not ist, zeigt ein gemeinsamer Brief der Präsidenten von acht deutschen Kunst- und Wissenschaftsakademien. Darin drängen sie die deutschen und österreichischen Kultusminister und den Schweizer Präsidenten, eine „Reform der Reform“ einzuleiten. Sie wissen: Mit ihrem Eintreten für den Status quo ante können sie keine Lorbeeren gewinnen; schließlich sind sie weitgehend abhängig von den Zuwendungen derer, die sie kritisieren. Dennoch fordern sie die Rückkehr zum präreformerischen Duden von 1991 oder, wahlweise, den Rückzug auf den Entwurf der Rechtschreibkommission der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Der lässt zwar das Doppel-s nach kurzen Vokalen auch vor Konsonanten und am Wortschluss zu, behält aber ansonsten weitgehend die alten Regelungen bei. Ein Kompromiss, mit dem sich leben ließe.
Die acht Präsidenten sind sanft in der Form, aber eisern in der Sache: Geschickt legen sie nahe, die letzten Jahre als „Großversuch“ zu betrachten – und unterstreichen gleichzeitig den pädagogischen Nutzwert eines revidierten Experiments. Bei einem Rückzug „aus freier staatlicher Einsicht“ verliere niemand sein Gesicht, sagen sie. Doch ihr fachliches Urteil steht fest: Im „Interesse der Sprache“ muss die Reform rückgängig gemacht werden. Der Brief der Präsidenten ist mehr als ein Zeitdokument, er ist ein Warnruf. Er spricht aus, was schon jetzt in Gefahr ist und was unwiederbringlich verloren sein wird: die kulturstiftende und einigende Macht der Norm.
Die Franzosen hören, in allen Fragen der Sprache, auf ihre Académie française; bis vor kurzem hatten wir dafür den Duden. Dessen Rückkehr nun fordern, mit ihrem ganzen symbolischen Gewicht, unsere Akademien. Man sollte ihnen genau zuhören, denn sie erinnern daran, wem die Sprache gehört: nicht den Bürokraten, die sie diktieren, sondern denen, die sie schreiben und sprechen, also uns allen. Die Vorlage der Präsidenten war gut; nun liegt der Ball bei den Politikern.
Rheinischer Merkur Nr. 48 vom 27. November 2003, S. 19
www.merkur.de
redaktion@merkur.de
_________________________
Dr. Hans-Joachim Neubauer, geboren 1960, studierte in Berlin und Paris Literaturwissenschaft und ist als Redakteur des Rheinischen Merkur für Kultur (Berlin) zuständig. 2000: Habilitation, seither Privatdozent für Neue deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft.
Bücher:
„Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert” (1994);
„Fama. Eine Geschichte des Gerüchts” (1998, mehrfach übersetzt);
„Zeitenwechsel. Das Berliner Künstlerprogramm des DAAD” (2001);
„Einschluss. Bericht aus einem Gefängnis” (2001, als Taschenbuch 2003)
HJNeubauer@merkur.de
http://www.merkur.de/aktuell/se/red_neub.html
|
|
Nach oben |
|
 |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Sonntag, 15. Feb. 2004 18:35 Titel: Wem schadet die Reform? |
|
|
<b>Wem schadet die Reform?
- Gerhard Augst: „Diese jetzt durchgeführte Reform sei in ihrem Geist und ihrem Ansatz die, die auch im Nationalsozialismus geplant war“
- „Emotionale Betroffenheit“ durch die neue komplizierte Beliebigkeitsschreibung, Herr Augst!</b>
_____________________________________________________________________________
PRAXIS I / Der Vordenker der neuen Rechtschreibung erklärt, worin ihre Vorteile liegen
</b>Für die Schüler wird es leichter</b>
Gerhard Augst gilt als die führende Stimme unter den Reformern. Den harten, oft verletzenden Ton der Kritik hält er für unsachlich und unfair.
<i>RHEINISCHER MERKUR: Warum wurde die Rechtschreibung reformiert?</i>
GERHARD AUGST: Weil sie von der Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung nur schwer beherrscht wurde und weil sie sehr schwer lernbar war. Es hat 1902 eine ganz einfache Rechtschreibreform gegeben, die jedoch in den letzten hundert Jahren immer komplizierter wurde. Einmal musste das durchforstet werden. Wir haben 1992 weitreichendere Reformen vorgeschlagen, zum Beispiel die Kleinschreibung der Substantive oder die Aufgabe des Unterschieds von „daß“ und „das“, also von Konjunktion und Relativpronomen. Aber einiges ist übrig geblieben. Der Wechsel von „ß“ zu „ss“, zum Beispiel in „Fluß“ und „Flüsse“, war immer ein Fehlerschwerpunkt und widersprach auch einem Grundprinzip der deutschen Rechtschreibung, dass nämlich ein Wort in unterschiedlicher Umgebung immer gleich geschrieben wird.
<i>Nützt die Reform den Lernenden?</i>
Ja, so wenig Reform es auch gegeben hat. Da gibt es viele Beispiele. Der „frisch gebackene“ Ehemann und das „frisch gebackene“ Brot. Der metaphorische Gebrauch eines Wortes muss sich doch nicht darin ausdrücken, dass ich es deshalb zusammenschreibe. In der gesprochenen Sprache hört sich das völlig gleich an. Und ähnlich ist das mit dem „wohl bekannt“. „Was Gott tut, das ist wohl getan“, heißt es in der Lutherbibel. Das ist immer auseinander geschrieben worden und hat niemandem wehgetan. Man geheimnisst manchmal etwas in die Schreibung hinein, was sie angeblich leisten soll; man befrachtet sie mit völlig unnötigen Leistungen.
<i>Wem schadet die Reform außer den Älteren, die sich umstellen müssen? </i>
Niemandem! Wenn Sie bisher für die ß-Schreibung vier Regeln brauchten und jetzt nur noch drei, dann kann es nur einfacher geworden sein, auch lerntechnisch.
<i>Nennen Sie uns noch ein Beispiel? </i>
„Behende“ wurde in der alten Rechtschreibung immer als Ausnahme von der Regel angegeben: Wenn der Grundlaut mit a geschrieben wird, muss der abgeleitete Laut mit dem Umlaut geschrieben werden. Wörter wie „behende“, „Stengel“ und so weiter standen als Ausnahmen dabei. Jetzt nicht mehr. Dass es in der Übergangszeit Probleme gibt, hat ja auch Harald Marx gezeigt. Die Leistungen wurden schlechter, jetzt sind sie wieder gleich; und sie werden besser werden. Aber man kann von dem bisschen Reform nicht erwarten, dass jetzt plötzlich alle Deutschen alles richtig schreiben.
<i>Welche soziale Bedeutung hat Rechtschreibung heute? </i>
Wir werden immer mehr ein schreibendes Volk. Ab 1970 wurde Schreiben für fast alle im Beruf und darüber hinaus sehr wichtig. Früher haben viele das Schreiben praktisch wieder verlernt, weil sie es in ihrem Beruf nicht brauchten. Heute können immer mehr Menschen durch Lesen und Schreiben am gesellschaftlichen Prozess teilnehmen. Daher rührt der ungeheure Stellenwert der Rechtschreibung. Und deshalb sind wir es den Leuten schuldig, dass sie keine nicht notwendigen Komplikationen enthält.
<i>Aber die Orthografie bleibt doch ein soziales Unterscheidungskriterium? </i>
Auf jeden Fall. Das werden wir durch so kleine Reformen nicht ändern können. Schreiben kann nur, wer sehr viel schreibt. Schwache Schreiber und Kinder aus Häusern, in denen Schreiben und Lesen nicht zum sozialen Alltag gehören, sind benachteiligt. Diese Differenzen kann man nicht aufheben. Und wohl auch nicht die soziale Bedeutung der Rechtschreibung.
<i>Richtig schreiben zu können bedeutet aber doch auch eine Aufstiegschance? </i>
Ja natürlich, das ist eine Chance, wenn man kein Geld hat oder kein Adelsprädikat. Einer französischen Untersuchung zufolge ist der beste Indikator für eine erfolgreiche Karriere der Kinder die Anzahl der Bücher im Elternhaus. Weil in einem Haushalt mit Büchern Schriftlichkeit das Grundkriterium der Rollendefinition ist. Die Unterschiede aber bleiben bestehen: Die einen spielen halt Geige, die anderen Schifferklavier.
<i>Muss sich der Staat wirklich in die Rechtschreibung einmischen? </i>
Als die allgemeine Schulpflicht in der Mitte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt wurde, stellte man fest, dass man von der Nordsee bis nach Bayern und Österreich verschieden geschrieben hat, oft innerhalb einer Schule. „Brot“ etwa schrieb man mit d, mit dt oder eben mit t. Also haben sich die Lehrer geeinigt, dann ganze Schulen, und so ging das weiter. In der Schweiz, in Preußen, in Sachsen und so weiter wurden vereinheitlichende Verordnungen erlassen, bis man 1901 eine erarbeitete, die galt, wie es Konrad Duden so schön sagte, „so weit die deutsche Zunge klingt“.
<i>Wie verpflichtend ist die neue Ordnung der Orthografie? </i>
Rein theoretisch kann jeder Deutsche, der nicht in der Schule ist oder kein Staatsbeamter, schreiben, wie er will. Aber keiner macht das, alle schreiben nach der Norm. Wenn ich wissen will, wie man etwas schreibt, ist nicht maßgeblich, was ich fühle oder denke, sondern was in einem Rechtschreibwörterbuch steht. Eine amtliche Normierung hat auch ihre Schattenseiten.
<i>Wie kommen Sie persönlich mit der oft sehr harschen Kritik an Ihrer Reform zurecht?</i>
Wir haben es mit allen Arten von Beschimpfungen und Verunglimpfungen zu tun. Der frühere Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung hat in seiner Schriftenreihe ein Buch veröffentlichen lassen, in dem gesagt wird, diese jetzt durchgeführte Reform sei in ihrem Geist und ihrem Ansatz die, die auch im Nationalsozialismus geplant war, aber dann nicht mehr verwirklicht wurde. Es gibt seit 1945 zwei Schleudervokabeln, mit denen Sie alles platt machen können: Entweder sagen Sie, es ist kommunistisch oder nationalsozialistisch. Und wenn Sie diese Etiketten anbringen, haben Sie einen strittigen Punkt emotional abgestempelt. Die Bitterkeit, mit der manche Leute gegen die Reform vorgehen, zeigt, wie emotional sie getroffen sind.
Professor Gerhard Augst lehrt Sprachwissenschaft an der Universität Siegen. Bis 2004 leitete er die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung.
Die Fragen stellte Hans-Joachim Neubauer.
Rheinischer Merkur Nr. 5, 29.01.2004
MERKUR SPEZIAL - DIE NEUE ORTHOGRAFIE
http://www.merkur.de/aktuell/do04/orth_040505.html
____________________________________________
Anmerkungen:
Gerhard Augst: „Diese jetzt durchgeführte Reform sei in ihrem Geist und ihrem Ansatz die, die auch im Nationalsozialismus geplant war“. Gemeint ist das Buch
Birken-Bertsch, Hanno und Markner, Reinhard: Rechtschreibreform und Nationalsozialismus. Ein Kapitel aus der politischen Geschichte der deutschen Sprache.
www.vrs-ev.de/literatur.php#rsr
Professor Christian Meier, seinerzeit Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, weist darauf hin, daß ein gezielter staatlicher Eingriff in die Entwicklung der Schriftsprache vom Ausmaß der heutigen „Reform“ zuletzt während der Nazi-Diktatur versucht worden sei (Christian Meier: Einleitung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die Reform als Diktat. Zur Auseinandersetzung über die deutsche Rechtschreibung. Frankfurt am Main, Oktober 2000, S. 7 f.).
Vgl. im Strang „Sprachpreise für den Kampf gegen die Rechtschreibreform“ den Beitrag „Jacob-Grimm-Preis 2003 für Christian Meier“ vom 07.02.2004 –
www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?t=240
|
|
Nach oben |
|
 |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Sonntag, 12. Sep. 2004 23:05 Titel: Kompromiß hinter den Kulissen? |
|
|
Kompromiß hinter den Kulissen?
Auf meinen Brief, in dem ich meine Zustimmung und Freude ausdrückte, daß der Rheinische Merkur zur „klassischen Rechtschreibung“ zurückkehrt, schrieb mir Michael Rutz unter anderem:
„In der neuen Rechtschreibung gibt es Vernünftiges“ ...
„Zweifellos wird es in den nächsten Monaten zu einer Kompromisslösung kommen, die den bisherigen Sprachstandards wieder eher gerecht wird.“
„Es zeichnet sich im Übrigen ab, dass alle Verlage, die zur Front des Protestes gegen zahlreiche Regeln der neuen Rechtschreibung gehören, sich einigen sinnvollen Regeln (etwa der ss-Schreibung) nicht widersetzen werden.“
Mir fällt dazu nur ein: Man stelle sich einen Bankangestellten vor, der tausend Euro aus der Kasse entwendet. Nach langer Zeit fällt der Diebstahl auf. Der Richter schlägt vor, der Dieb solle die Hälfte davon zurückgeben, das sei ein fairer Kompromiß.
Klaus Eicheler
12.09.2004 17:13 Rechtschreibforum > Sammlung: Probleme der ss/ß-Schreibung
www.rechtschreibreform.de/php/einzelner_Datensatz.php?BeitragNr=25972
_______________________________________
Anmerkung:
Dies stimmt mit der Bemerkung der Kultusministerin Karin Wolff in Frankfurt im Hessischen Fernsehen überein. Siehe den Bericht über die hessische Kultusministerin Karin Wolff:
Meinungs- und Stimmungsmache des Hessischen Fernsehens
Hessisches Bildungsniveau: Kultusministerin betreibt Propaganda, Desinformation und Volksverdummung und betrachtet Rechtschreibreform als Machtkampf
www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=2135&highlight=#2135
Über das autoritäre Verhalten der Kultusminister wundert man sich ja nicht mehr. Aber es sieht ganz so aus, als hätten auch die Journalisten und Verleger bezüglich ihres bisherigen antidemokratischen Verhaltens nichts dazugelernt. Soll das Volk weiterhin von ihnen bevormundet werden? |
|
Nach oben |
|
 |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Freitag, 15. Okt. 2004 21:13 Titel: Worte und Taten |
|
|
Worte und Taten – Macht und Ohnmacht der Chefredakteure
_____________________________________________________
Rheinischer Merkur
Der Rheinische Merkur wird, wie der Chefredakteur brieflich mitteilt, nicht zur klassischen Rechtschreibung zurückkehren. Er vertraut vielmehr, wie der SPIEGEL und die „Süddeutsche Zeitung“, auf die Arbeitsergebnisse des „Rates“. Daß diese Ergebnisse bereits feststehen und sogar schon in den letzten Duden eingearbeitet sind, ist den drei Redaktionen leider nicht nahezubringen.
Gewiß, alle drei hatten kürzlich etwas anderes angekündigt. Ist das heut zu Tage und hier zu Lande von Belang? Naive Frage! Man muß politisch denken ...
__________________
Th. Ickler
Theodor Ickler
13.10.2004 17.45
Forum > Rechtschreibforum > Hilfstruppen
www.rechtschreibreform.de/php/einzelner_Datensatz.php?BeitragNr=26827 |
|
Nach oben |
|
 |
|
Powered by phpBB © 2001, 2002 phpBB Group
|