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Sprachprofessoren gegen die Rechtschreibreform

 
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Manfred Riebe



Registriert seit: 23.10.2002
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Beitrag: Montag, 05. Jul. 2004 22:25    Titel: Sprachprofessoren gegen die Rechtschreibreform Antworten mit Zitat

„Orthographie ist etwas Grunddemokratisches“
__________________________________________

Stoppt diese behemmerte neue Rechtschreibung


Die Reform der deutschen Rechtschreibung ist gründlich misslungen. Nun sind eine rigorose Denkpause und ein demokratischer Neustart nötig, schreibt Rudolf Wachter.

Hätte man vor zehn Jahren die Warnungen nicht in den Wind geschlagen, hätte die unselige »Neue deutsche Rechtschreibung«, die die Schweiz nun übernehmen oder ablehnen soll, keinen derartigen Schaden anrichten können. Sie ist gleich in mehrfacher Hinsicht völlig misslungen: inhaltlich, im Vorgehen und in ihrem Resultat. Warum?

Ein kurzer Blick in die Geschichte: Die heutigen europäischen Sprachen sind fast alle im Mittelalter dank dem lateinischen Alphabet zu Schriftsprachen geworden. Einige von ihnen haben dann jedoch noch während längerer Zeit keine »klassische« Literatur mit einer standardisierten Orthographie hervorgebracht. So wurde ihre Schreibweise laufend der sich verändernden Sprache angepasst. Aus diesem Grund war Kriemhilde im Nibelungenlied »ein schöne wîp«, und viele Helden mussten ihretwegen »verliesen den lîp«. Heute aber schreiben wir »Weib« und »Leib«, weil die inzwischen herausgebildete Standardaussprache sich in diesem Punkt verändert hat (nicht aber in unseren Schweizer Dialekten!). Im Englischen ist das anders gelaufen. Da hat sich zwar derselbe Lautwandel ereignet, aber man schreibt noch heute mittelalterlich »wife«, obwohl man längst »[waif]« ausspricht. Verblüffendes Fazit: Die englische Orthographie ist höchst altertümlich und traditionell, die deutsche im Vergleich dazu topmodern!

Im englischen Sprachraum denkt heute kein Mensch daran, per Dekret die Orthographie zu reformieren, wie das in deutschen Landen durchgeboxt werden soll. Das heisst nicht, dass im englischen Sprachraum nichts geschieht! Aber die Orthographiereform ist dort kein Donnergrollen aus Elfenbeintürmen, Regierungspalästen und Wörterbuchverlagen, sondern eine frisch-fröhliche Jugendbewegung. Und sie zeigt in ganz natürlicher Weise die Hauptmerkmale, die für den Erfolg jeder Orthographiereform ausschlaggebend sind: Vereinfachung und Verkürzung, kurz Ökonomie.

Orthographie ist etwas Grunddemokratisches, das zeigt die Geschichte unseres Alphabets hundertfach. Prinzipiell können wir nämlich genauso schreiben, wie wir wollen. Nur werden wir, wenn wir ein Privatsystem verwenden, feststellen, dass andere unsere Texte nicht lesen wollen - und wir die der anderen auch nicht, weil sie ja alle falsch schreiben. (Kinder sind, wenn man sie auf Orthographiefehler nicht frühzeitig aufmerksam macht, in dieser Hinsicht besonders gefährdet!)

Aus diesem Grund drängt sich ganz natürlich ein Konsens in Form eines Regelwerks auf, und ein modernes Staatswesen kann, ja soll sich über seine Schulen für die Einhaltung eines solchen Regelwerks stark machen. Auch für die Printmedien, privat und öffentlich, ist es von grossem Vorteil, wenn alle Leute gleich schreiben - und ihnen das Lesen leicht fällt. Ein solches Regelwerk muss jedoch sorgfältig durchdacht sein, ebenso sehr mit Blick auf das Lesen wie auf das Schreiben: Die Regeln müssen eindeutig nachvollziehbar, die Schreibungen möglichst unverwechselbar und zusätzliche Lesehilfen wie das Komma geschickt dosiert und ebenfalls klar geregelt sein.

Die Initiative zu einer Veränderung des Regelwerks zu ergreifen, ist dagegen nicht Sache der gelehrten und politischen Obrigkeit. Die muss von der Basis kommen, und Veränderungen müssen vor einer Sanktionierung Punkt für Punkt sorgfältig evaluiert werden. So hat das früher der Duden gehalten. Diesmal aber hat eine Kommission für ihn völlig willkürlich Erfindungen getätigt: »Gämse«, »behände«, »Stängel«. Bringen uns diese Neuerungen irgendeinen Vorteil?

Und warum dürfen wir nicht auch »Mänge« (wegen »manch»), »Mänsch« («Mann»), »klämmen« («Klammer») usw. schreiben? Genauso sinnlos wäre selbstverständlich die umgekehrte Stossrichtung gewesen: »Senger«, »Stender«, »hemmern«.

Eine historisch gewachsene Orthographie kann eben nie ganz konsequent sein, nur schon weil sie immer wieder Rücksicht auf andere Sprachen nimmt und ihnen Gastrecht gibt: »Chance«, »Gnocchi«, »Handy« usw. Die Sprachgemeinschaft weiss solches intuitiv und akzeptiert es.

Die von den Reformern vorgeschlagene neue Rechtschreibung tritt dagegen alle wichtigen Orthographieprinzipien mit Füssen: Die Forderung nach Eindeutigkeit («schief gehen«; »das ist ihm wohl bekannt»), nach Ökonomie («Schifffahrt«, »selbstständig») und Internationalität («Spagetti») oder nach beidem («platzieren«, »nummerieren«,«Tipp»). Sie macht generell das Lesen schwieriger, vor allem
«dank« den Möglichkeiten, auf Kommasetzung zu verzichten, die in der Praxis nun übertrieben genutzt werden – speziell in Kinderbüchern!

Die neuen Regeln sind zudem komplizierter und schwerer verständlich als die bisherigen, teils auch schlicht falsch oder inkonsistent. Widerstand hat sich denn auch sofort erhoben: Wichtige Verlagshäuser haben eigene Regelungen geschaffen (zum Beispiel die NZZ) oder sind rasch wieder zur herkömmlichen Rechtschreibung zurückgekehrt (zum Beispiel die »FAZ»).

Sogleich sind die Reformer in vielen Punkten zurückgekrebst - ein eindrückliches Eingeständnis ihrer Fehlleistung. Die schreckliche Konsequenz daraus sind jetzt zahllose »So-oderanders- Regeln«. Diese mögen der heutigen Zeitgeistpädagogik entsprechen, für eine Orthographie sind sie untauglich.

Hier gilt vielmehr: Je klarer geregelt, desto unauffälliger, und je unauffälliger, desto besser. Oder sollen wir beim Lesen eines Textes primär über dessen Orthographie nachdenken?

Wir stehen vor einem Scherbenhaufen. Eine schöne Propaganda für die deutsche Sprache! Meiner Meinung nach gibt es nur einen Ausweg: Stop. Update. Neustart.

Prof. Dr. Dr. Rudolf Wachter
Rudolf Wachter, 48, lehrt historisch-vergleichende Sprachwissenschaft
an den Universitäten Basel und Freiburg i.Ü.
Er wohnt in Langenthal (BE). Weitere Beiträge aus seiner Feder
finden Sie auf: http://www.unibas.ch/klaphil/idg

NZZ am Sonntag, dem 4. Juli 2004, S. 19 - MEINUNGEN

rudolf.wachter@unibas.ch
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Manfred Riebe



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Beitrag: Dienstag, 27. Jul. 2004 12:46    Titel: Nicht nur das konservative Bildungsbürgertum Antworten mit Zitat

Nicht nur das konservative Bildungsbürgertum

Die beste Nachricht in Monaten kam aus Frankfurt: Die F.A.Z. kehrt von der gegenwärtig allenthalben praktizierten Falschschreibung zur deutschen Rechtschreibung zurück. Man kann diesen Schritt nicht genug loben. Die F.A.Z. hat begriffen, dass es bei der so genannten Rechtschreibreformüberhaupt nicht um eine Neufassung von Regeln ging, deren Normierung wünschenswert oder gar notwendig gewesen wäre, sondern um eine unverfrorene Attacke auf die Substanz der deutschen Sprache selbst. Gewiss waren die neuen Regelungen von unterschiedlicher Qualität, und es gab unter ihnen sicherlich auch die eine oder andere Veränderung, die man akzeptieren könnte. Aber das Gros der Bestimmungen lief auf eine Beschränkung der Aussagemöglichkeiten des Deutschen hinaus, durch die dieser – ohne Übertreibung gesagt - Weltkultursprache in ihrer unvergleichlichen Präzision der Garaus hätte gemacht werden können.

Nach den - überwiegend inkompetenten - Vorstellungen der Rechtschreibreformkommission, die von den Beamten in den Kultusverwaltungen der deutschen Länder bedenkenlos akzeptiert wurden (merkwürdigerweise sogar im konservativen Bayern), wäre es dasselbe, ob jemand einen Preis „wohlverdient“ habe oder einen „wohlverdienten“ Preis bekomme - es sind aberzwei völlig verschiedene Aussagen: im ersten Fall hat er ihn vielleicht verdient, im zweiten Fall ganz bestimmt - und solche Beispiele finden sich zu Tausenden. Gerade die Auseinanderschreibung von zusammengesetzten Wörtern hat die Aussagemöglichkeiten des Deutschen stark vermindert. Ebenso haben die neuen Kommaregeln, etwa die Aufhebung des Kommas zwischenselbständigen Hauptsätzen, die Lesbarkeit von Texten stark beeinträchtigt. Die unzähligen falschen Etymologien kamen hinzu: „Aufwendig“ sollte jetzt mit „ä“ geschrieben werden, weil es von „Aufwand“ käme, obwohl dieses letztere Wort als Supinum von nichts anderem als von „aufwenden“ abgeleitet worden war, und so fort.

Einzelne Mitglieder der Reformkommission haben jetzt in ersten Stellungnahmen zum Schritt der F.A.Z. kühn angemerkt, dass es das konservative Bildungsbürgertum sei, dem gegenüber die F.A.Z. eine Verbeugung mache. Diese Anmerkung ist aber grundfalsch: Die F.A.Z. hat begriffen, dass die deutsche Sprache ein hochrangiges Kulturgut darstellt, das nicht der Willkür von ein paar Eiferern, die sich modern dünken, aufgeopfert werden kann. Die Rechtschreibreform bildete nur das letzte und eklatanteste Beispiel für einen - auch im Schulunterricht praktizierten -Sprachverfall, für den man viele Beispiele bringen könnte.

Die bayerische Staatsregierung verleiht seit Jahren einen Karl-Vossler-Preis, mit dem der Einsatz für „vorbildliches Deutsch“ gewürdigt werden soll. Es wäre sinnvoll, diesen Preis der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zuzuerkennen - weil sie sich durch ihren Schritt zur Wiedereinführung der deutschen Rechtschreibung um die deutsche Sprachehochverdient gemacht hat.

Professor Dr. Dietz-Rüdiger Moser,
Lehrstuhl für Bayerische
Literaturgeschichte,
Universität München

F.A.Z. Nr. 173, Freitag, 28. Juli 2000, S. 7, - Briefe an die Herausgeber -
www.faz-verlag.de/IN/INtemplates/Verlag/text_rsf.asp?rub={B9371331-640A-11D4-
B990-009027BA226C}&doc={5EEACDF7-64B6-11D4-A3B0-009027BA22E4}
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Manfred Riebe



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Beitrag: Montag, 09. Aug. 2004 11:46    Titel: Sprachwissenschaftler Wolfgang Sternefeld Antworten mit Zitat

Sprachwissenschaftler Wolfgang Sternefeld: Lehrer kommen nicht zurecht

Tübingen (dpa) - Der Tübinger Sprachwissenschaftler Wolfgang Sternefeld rechnet mit einer zunehmenden Aushöhlung der Rechtschreibreform. Vieles am neuen Regelwerk sei «vom linguistischen Standpunkt aus wenig sinnvoll» und werde sich in der Praxis nicht durchsetzen, sagte der Universitätsprofessor am Samstag in einem dpa- Gespräch.

«Wer am wenigsten damit zurecht kommt, sind die Lehrer. Sie haben einfach keine Kompetenz bei der Rechtschreibung.» Für die Schüler dagegen wäre eine Rückkehr zu den alten Regeln kein besonders großes Problem.

Nach Ansicht Sternefelds ist die Rechtschreibreform schon früh «ein Politikum geworden, das sich verselbstständigt hat». Auf die Sprachwissenschaftler habe man kaum gehört. Einige von ihnen hätten sich daher frustriert zurückgezogen. «Meine Prognose ist: Stillschweigend wird die Reform zu einem großen Teil wieder zurückgenommen - einfach durch die Praxis», sagte Sternefeld. Nur das Vernünftige werde sich durchsetzen.
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Manfred Riebe



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Beitrag: Mittwoch, 06. Okt. 2004 20:21    Titel: Auf die Sprache hören Antworten mit Zitat

Auf die Sprache hören
Ein Plädoyer für eine Lockerung der Fronten

Von Peter von Matt

Die Schweizer Erziehungsdirektoren warnen vor einer Katastrophe, wenn die von ihnen verordneten Rechtschreibevorschriften nicht in Kraft gesetzt würden. Schön wär’s. Die Katastrophe ist bereits da, hier und jetzt und ausgewachsen.

Die Katastrophe, meinen die Erziehungsdirektoren, trete ein, wenn die Kinder in Zukunft nicht mit schlechten Noten bestraft werden, falls sie die deutschen Wörter anders schreiben, als die neuen Vorschriften es verlangen. Das heisst: Die Kinder werden bestraft, wenn sie so schreiben, wie sie es in vielen Zeitungen sehen, die zu Hause herumliegen, und in fast allen Büchern, die ihre Eltern lesen.

Ich habe drei Tageszeitungen abonniert, angesehene Blätter aus dem In- und Ausland. Jede dieser Zeitungen befolgt erklärtermassen andere orthographische Regeln, und nur eine hat die Vorschriften der Erziehungsdirektoren übernommen. Ich habe auch mit den Büchern der deutschen Gegenwartsliteratur viel zu tun. Keines dieser Bücher ist nach den Rechtschreibevorschriften gedruckt, deren Nichteinhaltung den Kindern nach dem Willen der Erziehungsdirektoren rote Striche am Heftrand und gegebenenfalls die Nichtversetzung in eine höhere Klasse eintragen soll.

Die sogenannte Umsetzung der Reform bedeutet nur eines: den Beginn der Sanktionen gegenüber den Kindern, die nicht nach den obrigkeitlichen Vorschriften schreiben. Denn Sanktionen gegenüber Schriftstellern und Zeitungen gibt es nicht. Glücklicherweise. Die Aufgabe der Schulen ist es, die Kinder einzuführen in das Lesen und Schreiben der deutschen Sprache, so wie sie in der Gegenwart gebraucht wird. Die Schule hat das Deutsch zu unterrichten, das in den wichtigen Zeitungen und Büchern steht, nicht das Deutsch der Korrekturprogramme, mit deren Hilfe die Verwaltung ihre Reglemente redigiert.

Der grössere Teil der Schreibenden, die sich regelmässig in persönlich verantworteten Texten der Öffentlichkeit stellen, weigert sich, nach den neuen Vorschriften zu schreiben. Faktum. In den Texten dieser Schreibenden erscheint nun aber die deutsche Sprache, die in der Gegenwart gebraucht wird. Wenn die Mehrheit der deutschsprachigen Presse- und Buchproduktion die Reform ablehnt, darf die Schule sie gar nicht mehr vorschreiben. Sonst vergeht sie sich gegen ihren Auftrag.

Es ist denkbar, dass eine Orthographiereform ohne Eingriffe in den Wortschatz breite Anerkennung gefunden hätte. Die albernen Gämsen und Stängel vielleicht sogar inbegriffen. Da nun aber massiv in den Wortschatz eingegriffen, Wörter zerstört und nicht ersetzbare Wortverbindungen verboten wurden, kam es zum Aufstand. Wenn ein Dieb »im Dorf wohl bekannt ist«, heisst das etwas anderes, als wenn er »im Dorf wohlbekannt ist«. Der Unterschied kann juristische Konsequenzen haben. Jetzt darf man ihn aber nicht mehr zum Ausdruck bringen. Die Erziehungsdirektoren verbieten es. Wenn mir einer »eine Hand voll Dornen« zeigt, heisst das etwas anderes, als wenn er mir »eine Handvoll Dornen« zeigt. Das schöne Wort »eine Handvoll«, ein Mengenmass, das im Schweizer Dialekt sogar den Diminutiv kennt, es Hämpfeli, wurde liquidiert. Dieses Wüten gegen den gewachsenen Wortschatz hat die Wut der Schreibenden hervorgerufen, hat den Widerstand am Leben erhalten und wachsen lassen. Dieses Wüten gegen den gewachsenen Wortschatz verdeckt jetzt viele durchaus vernünftige Vorschläge der Kommission.

Die Schweiz hält sich etwas zugute auf ihre politische Kultur. Dazu gehört ein breites Vernehmlassungsverfahren bei neuen Gesetzesvorlagen. Da werden regelmässig alle Interessengruppen vom Flachland über die Hügelzone bis zur Bergregion begrüsst. Wo blieb das Verfahren bei der Rechtschreibreform? Warum ist man auf die Journalistenverbände, die Schriftstellerorganisationen, die Verlage nicht zugegangen? Sie verantworten die deutsche Sprache, wie sie in der Gegenwart gebraucht wird. Warum hat die Schweiz ihre Kultur der Vernehmlassung nicht eingebracht und auch die andern Ländern dazu angehalten?

Stattdessen ergeht heute von der Schweiz aus an die Nachbarstaaten die Forderung: »Hart bleiben!« Das ist Kasernenton. Es gibt Gründe, ihn für peinlich zu halten. Und es gibt Gründe, daraus abzulesen, was den Kindern droht.

Ruft man, wenn der Dachstock brennt: »Hart bleiben!«? Ruft man, wenn ein Bein gebrochen ist: »Hart bleiben!«? Nein, da müssen Spritzen her, und es muss geschient werden. So auch in der real existierenden Sprachkatastrophe. Es gibt Lösungen. Es gibt gründlich erarbeitete Kompromissvorschläge, die die vernünftigen Ideen aufnehmen und nur den blanken Unsinn beseitigen. Sie wurden vom Tisch gewischt. Kasernenton.

Der erste dieser Vorschläge kam aus der Schweiz, von der Redaktion der NZZ. Sie stellte übersichtlich die Orthographie vor, in der diese Zeitung jetzt gedruckt wird. Es wäre ein Ansatz gewesen für eine offene Diskussion, eine goldene Brücke zu einer vernünftigen Übereinkunft im ganzen deutschen Sprachgebiet. Diese Übereinkunft wollte man nicht. »Hart bleiben!»

Es ist die Aufgabe der Schweiz, die Fronten im letzten Moment zu lockern, den drohenden Termin in Frage zu stellen und ein neues Gesprächsklima zu schaffen. In der Schweiz kann man das, sonst gäbe es das Land schon lange nicht mehr. Der Prozess wird lang sein und soll auch lang sein. Es geht darum, auf die Sprache zu hören, statt ihr zu befehlen. Es geht nicht um die gedruckten Schulbücher. Mit denen können unsere Lehrerinnen und Lehrer in jedem Fall umgehen. Die haben noch ganz anderes am Hals und bestehen es besser, als die Öffentlichkeit wahrhaben will. Die Schweiz hat bei den internationalen Gesprächen versagt, als sie eine breite Vernehmlassung verhindern half. Jetzt kann sie das wettmachen, indem sie aktiv wird und die verhärteten Positionen unterläuft. Es ist im Interesse aller, nicht zuletzt der Kinder mit den roten Strichen im Reinheft.

Neue Zürcher Zeitung, Samstag/Sonntag, 14./15. August 2004, S. 43 - Feuilleton
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Peter von Matt, geboren 1937 in Luzern, aufgewachsen in Stans/Nidwalden, Studium der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in Zürich, Promotion bei Emil Staiger über Grillparzer, 1970 Habilitation über E.T.A. Hoffmann, ist seit 1976 Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich. 1980 Gastprofessor an der Stanford University, California, und 1992/93 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Peter von Matt ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, der Akademie der Wissenschaften Berlin und der Sächsischen Akademie der Künste. Er lebt in Zürich.

Neue Zürcher Zeitung
Falkenstrasse 11
Postfach 8021
CH-8021 Zürich
Tel. 01 258 11 11
Redaktion: Fax: 01 252 129
redaktion@nzz.ch
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Manfred Riebe



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Beitrag: Donnerstag, 14. Okt. 2004 20:25    Titel: Zu einem Fünftel uneindeutig Antworten mit Zitat

Zu einem Fünftel uneindeutig

Unterregeln, Spezifikationen, Kannbestimmungen: Ist eine Korrektur der Rechtschreibreform möglich?

Von WERNER H. VEITH

Am 1. Juli 1996 wurde die „Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ durch Vertreter von acht Staaten, darunter Deutschland, Österreich und die Schweiz, unterzeichnet. Die Reform wird am 1. August 1998 wirksam, jedoch ist die bisherige Orthographie in einer Übergangszeit noch bis zum 31. Juli 2005 statthaft. In dem zurückliegenden halben Jahr sind viele Initiativen zur Abwendung der Reform ergriffen worden - erwähnt seien die „Frankfurter Erklärung“ vom Oktober 1996, das von Friedrich Denk auf den Weg gebrachte Volksbegehren und die z. T. noch anhängigen Gerichtsverfahren.

Theoretisch wäre eine Abmilderung der beschlossenen Neuerungen möglich, ohne daß Gerichte oder die beteiligten Regierungen bemüht werden, indem die in Wien laut Artikel III der Absichtserklärung mit beschlossene „Kommission für die deutsche Rechtschreibung“, der Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz angehören (Geschäftsstelle beim Institut für Deutsche Sprache, Mannheim), aktiviert wird. Diese Kommission „begleitet die Einführung der Neuregelung und beobachtet die künftige Sprachentwicklung. Soweit erforderlich, erarbeitet sie Vorschläge zur Anpassung des Regelwerks.“ Die Frage ist allerdings, ob eine solche „Anpassung des Regelwerks“ überhaupt geleistet werden kann oder ob die Normierungsgrundsätze der Neuregelung so widersprüchlich und inkonsequent sind, daß Beratungen auf dieser Grundlage in eine noch stärkere Verschlimmbesserung münden müssen.

Über Spitzfindigkeiten zur Laut-Buchstaben-Zuordnung, zur Groß- und Kleinschreibung, zur Zeichensetzung und zu den anderen neu geregelten Bereichen ist viel Negatives geschrieben worden. Hier ließe sich durch „Schönheitsreparaturen“ noch einiges bereinigen. Jedoch ergeben sich darüber hinausgehende tiefgreifende Probleme. Eines davon sind „spezielle Laut-Buchstaben-Zuordnungen in Fremdwörtern“ zum Zwecke der stärkeren Anpassung der Fremdwörter an die Schreibung deutscher Wörter. Für den schreibenden Laien ist ein System der intendierten Vereinfachung nicht zu erkennen - man vergleiche essenziell (zu Essenz), auch essentiell, aber immer essential; Orthografie, auch Orthographie, aber immer Graphostatik; Fon neben Phon, daher auch Fonologie - aber nicht Fonetik, sondern Phonetik; Exposee, auch Exposé, aber immer Abbé u. dgl. m. Auch dort, wo keine „Zweierlisten“ gemacht worden sind, ist die Integration unsystematisch; man bekommt keinen Hinweis, wann man z.B. ph durch f oder th durch t oder rh durch r ersetzen darf und wann nicht, welche Wörter bereits oder noch nicht integriert sind, so daß man diese nachschlagen bzw. auswendig lernen muß.

In vielen weiteren Fällen stehen bereits im Regelwerk zwei Varianten nebeneinander, z.B. Aberhunderte neben aberhunderte, Achtzigerjahre neben achtziger Jahre usf. Für den Buchstaben A ergeben sich bezüglich der in Wien verabschiedeten Wörterliste 64 Doppelschreibungen. Dies bedeutet - bei vorsichtiger Schätzung - für das gesamte Alphabet eine Anzahl von weit mehr als 1000 Doppelschreibungen, d.h., für die 12 000 Wörter des Wiener Verzeichnisses liegt die Zahl der Doppelschreibungen bei etwa zehn Prozent. Da man diese Menge beim Schreiben unmöglich parat haben kann, muß man in Wörterbüchern nachsehen.

In den Rechtschreibwörterbüchern aber schlägt sich dieses Nebeneinander bei den jeweiligen Stichwort-Eintragungen unterschiedlich nieder: In der „Rechtschreibung“ des Duden-Verlags von 1996 einzig als Schreibung, die erst ab 1998 gilt, während bei Bertelsmann („Die neue deutsche Rechtschreibung“) auch die alten, bis 2005 gültigen Schreibungen vielfach mit angegeben werden. Das hat aber zur Folge, daß man bis zum Juli 2005 mit einem Wörterbuch allein u. U. nicht auskommen wird - und dies in der verunsicherten Situation, in der die Übergangszeit schon jetzt anfängt, da die reformierte Orthographie in einer Reihe von Bundesländern bereits zu Beginn des neuen Schuljahrs gelehrt wird.

Ein noch größeres Problem ist in der Formulierung der Regelung verborgen. Die 16. Auflage des Mannheimer Duden von 1967 enthält 255 Regeln zur Zeichensetzung und zur Rechtschreibung, der „Vereinfachungsduden“ [Gemeint ist wohl „Der gemeinsame DUDEN“ oder Vereinigungs-DUDEN, der aus dem Leipziger DDR-DUDEN und dem Mannheimer BRD-DUDEN zusammengestellt wurde, MR] von 1991 kommt mit 212 Regeln aus, während sich der „Reformduden“, die 21. Auflage von 1996, mit nur 136 Regeln im eigenen Wortlaut des Duden bescheidet, pikanterweise ohne Regeln für die Laut-Buchstaben-Zuordnung, ganz in der Mannheimer - anders als in der Leipziger - Dudentradition. In Wien sind sogar nur 112 Regeln beschlossen worden, wodurch sich aber die orthographische Norm keineswegs verbessert hat. Die 112 Regeln haben nämlich eine schier unübersehbare Zahl von Anwendungsbestimmungen in Form von Unterregeln, Spezifikationen, Kannbestimmungen, Bedingungen, Listen und Verweisen.

Eine Prüfung der Regeln zeigt Überraschendes: Zusätzlich zu den 112 Regeln der reformierten Rechtschreibung bestehen 1106 Anwendungsbestimmungen, in denen 111 Wortlisten enthalten sind mit zusammen 1180 zu memorierenden oder nachzuschlagenden Wörtern. Addiert man eine etwa gleiche Anzahl von Wörtern mit Doppelschreibungen, so ergibt sich, daß durch die amtliche, reformierte Orthographie etwa ein Fünftel der gelisteten 12 000 Wörter nicht eindeutig mit Hilfe von Regeln bestimmt wird. Der Schreibende muß viel häufiger als vor der Reform ein Rechtschreibwörterbuch zur Hand nehmen. Die seit kurzem alternativ angebotenen Regelbücher können die neue Orthographie nicht in ihrer Komplexität vermitteln. Wenn die in Wien vereinbarte Kommission also zwecks Verbesserungen von den paraphierten Regeln ausgehen würde, so wäre ein gestaltendes Bemühen von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Der Autor ist Professor für deskriptive Sprachwissenschaft an der Universität Mainz

DIE WELT vom 16. Januar 1997, S. 10
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Sigmar Salzburg



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Beitrag: Mittwoch, 25. Apr. 2007 14:54    Titel: Ende des Rechtschreibkrieges? Antworten mit Zitat

Vortrag von Peter Eisenberg vom Januar 07:

http://rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=1370[url][/url]
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