Manfred Riebe
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: Dienstag, 01. Feb. 2005 19:25 Titel: Berliner Bürgerinitiative „Wir sind das Rechtschreibvolk!“ |
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Wir sind das Rechtschreibvolk!
Berliner Bürgerinitiative gegen die Rechtschreibreform
Kontakt: Gernot Holstein, Schönwalder Str. 75, 13585 Berlin-Spandau Tel./Fax (030) 375 51 21
Die 13 falschen Thesen
des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil zur Rechtschreibreform
vom 14. Juli 1998 (1 BvR 1640/97)
Bearbeiter: cand. iur. Gernot Holstein
1. Das Grundgesetz enthält kein Verbot, die Rechtschreibung zum Gegenstand staatlicher Regelung zu machen. Ein solches Verbot folgt auch nicht daraus, daß der Staat nicht ausdrücklich ermächtigt worden ist. Auch aus der Eigenart der Sprache folgt kein absolutes Regelungsverbot. Das Grundgesetz geht vielmehr von der generellen Befugnis des Staates im Gemeinwohlinteresse aus ... (S. 37)
Kommentar: Handelt der Staat im Gemeinwohlinteresse, wenn mindestens Dreiviertel der Deutschen diese Reform nicht wollen? Wenn die neuen Rechtschreibregeln so mißverständlich oder irreführend sind, daß es zwischen den einzelnen Wörterbüchern zu Tausenden von Unterschieden in der Schreibweise von Wörtern gekommen ist und die Menschen nicht mehr wissen, nach welchem Wörterbuch sie sich richten sollen? Wenn die Schüler „Ketschup“ lernen müssen, obwohl auf jeder Tomatensoßen-Flasche „Ketchup“ steht? Werden durch die Rechtschreibreform Widersprüche und Zweifel beseitigt, wenn die Schüler in Zukunft schreiben müssen: „dass“ statt „daß“; „ich bin es leid“, aber „es tut mir Leid“; „darüber schreiben“, aber „danebenschreiben“; „kostendeckend“, aber „Kosten sparend“?
Das Bundesverfassungsgericht berücksichtigt nicht, daß Sprache bzw. Schriftsprache schon vor dem Staat da waren, mithin außerstaatlich entstanden sind und auf außerrechtlichen Regeln beruhen. Demzufolge dürfte sie nach unserer Auffassung vom Staat auch nicht hoheitlich geregelt werden. Nicht nachvollziehbar ist daher, daß nun sogar lediglich ein Verwaltungserlaß zur Änderung unserer Rechtschreibung genügen soll. Das Handeln der Verwaltung muß jedoch stets auf ein Gesetz rückführbar sein. Als Grundlage sollen die Landesschulgesetze in ihrer bisherigen Form ausreichen. Nur: In keinem Landesschulgesetz steht etwas über Rechtschreibung! Es kann doch nicht sein, daß der Staat sich das Recht herausnehmen darf, über die Schule die Gesellschaft anzuleiten, wie sie zu schreiben hat, nur weil es vom Grundgesetz nicht ausdrücklich verboten ist.
2. Regulierende Eingriffe, die ... bestimmte Schreibweisen erstmals festlegen, sind ihm ebenfalls grundsätzlich erlaubt. Die im Schulunterricht vermittelten Regeln und Schreibweisen waren vielmehr ... auch das Ergebnis normierender staatlicher Entscheidung. (S. 38, f.)
Kommentar: Hier haben die Verfassungsrichter tief in die Mottenkiste des obrigkeitsstaatlichen Kaiserreiches gegriffen. Anders als heute gab es damals keine Grundrechte. Das Schulverhältnis war mit voller Absicht nicht rechtsstaatlich geprägt. Demzufolge konnten auch die Kultusminister ohne gesetzliche Bindung auf dem Erlaßwege Schulpolitik betreiben. Allerdings hat der Staat die Rechtschreibung, abgesehen von Hitlers nicht zur Durchsetzung gekommener Rechtschreibreform aus dem Jahre 1944, noch nie Schreibweisen geregelt. Tatsächlich wurde unsere Rechtschreibung durch die Arbeit von Schriftstellern und Sprachwissenschaftlern geprägt. Im wesentlichen entspricht die heutige Rechtschreibung dem Schreibgebrauch von vor 200 Jahren, der maßgeblich - ohne staatlichen Einfluß (!) - durch den Sprachwissenschaftler Johann Christoph Adelung (1732 - 1806) bewirkt wurde. 1880 erschien das „Vollständige orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache“ des Gymnasiallehrers Konrad Duden. Der Staat hat immer nur gesellschaftliche Entwicklungen gefördert - so durch die Einberufung der ersten Orthographischen Konferenz von 1876, die aber letztlich scheiterte - oder Schreibungen verbindlich gemacht wie 1901, aber nie selbst Regeln entwerfen lassen. Auch 1955 wurde durch die KMK-Entscheidung die Rechtschreibung nur insoweit „geregelt“, daß die Schulen sich nach dem Duden zu richten hätten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bedeutet demnach einen Rückschritt in eine längst überwunden geglaubte Zeit.
3. Die Schule wirkt notwendig nach außen und beeinflußt Verhaltensweisen des Einzelnen. Zielsetzungen und Werte, die in der Schule vermittelt werden, strahlen stets in den außerschulischen Bereich aus. (S. 41)
Kommentar: Demgegenüber hat das VG Berlin in seinem Urteil vom 14.11.1997 festgestellt, daß die Schule die Schüler mit den in der Gesellschaft akzeptierten und verbreiteten Schreibweisen vertraut machen soll. Mit der Einführung der Rechtschreibreform werden die traditionellen Ziele des Rechtschreibunterrichts ins Gegenteil verkehrt, da die Schule nun zur Initiatorin einer veränderten Rechtschreibung in der Allgemeinheit wird.
4. Das Erfordernis eines hohen Maßes an einheitlicher Schreibung bedeutet nicht notwendig Übereinstimmung in allen Einzelheiten. (S. 43)
Kommentar: War nicht eine Angleichung der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum das erklärte Ziel der Rechtschreibreformer? Weshalb hat man am 1.7.1996 die Wiener Absichtserklärung unterschrieben, wenn es nun nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausreicht, daß eine schriftliche Verständigung im gemeinsamen Sprachraum weiterhin stattfinden kann, wenn es jetzt sogar nicht mehr darauf ankommt, daß alle Bundesländer nach der gleichen Regelung verfahren. Vor der Reform hatten wir die Einheitlichkeit. Wozu dann die Rechtschreibreform? Hier hat das höchste deutsche Gericht ein peinliches Eigentor erzielt!
5. Das Erlernen der Rechtschreibung wird leichter. Das Ziel der Reform ist, das Erlernen richtigen Schreibens durch Vereinfachung der Rechtschreibregeln und Schreibweisen zu erleichtern. (S. 48, 53, f., 56, f.)
Kommentar: Woher wollen das die Verfassungsrichter wissen? Hunderte von Sprachwissenschaftlern sind da völlig anderer Meinung! Tatsächlich machen die Schüler nun noch mehr Fehler, da neue Fehlerquellen entstanden sind, wie die bundesweite Lehrerinitiative „Wir Lehrer gegen die Rechtschreibreform“ nachgewiesen hat. Auch die Lehrer beherrschen die Reform nicht und streichen viel zuwenig Fehler an. Bezeichnend ist, daß die Verfassungsrichter der Annahme (S. 53) bzw. der Einschätzung (S. 57, oben) der Kultusverwaltung eines Bundeslandes folgen und die Ansicht von Experten wie die der Professoren Ickler oder Munske einfach ignorieren. Tatsächlich wurde das Regelwerk nicht „abgespeckt“, sondern es ist sogar um etwa 35% umfangreicher als das alte. Zwar wurde die Anzahl der Regeln von 212 auf 112 verringert, dafür enthalten diese Regeln nun aber über 1100 Anwendungsbestimmungen und 105 Wortlisten. Tatsächlich ist das neue Regelwerk so widersprüchlich und unlogisch, daß Lehrer, Schüler oder Sekretärinnen viel häufiger als bisher im Wörterbuch nachschlagen müssen. Man fragt sich nur, in welchem, da allein zwischen dem Duden und dem Bertelsmann annähernd 8000 Unterschiede bestehen. Nach welchem Wörterbuch sollen Lehrer korrigieren, da der Duden nicht mehr maßgebend ist? Ist es eine Erleichterung, wenn die Schüler nun „hoch begabt“, aber „hochgebildet“ oder wenn sie „todfeind sein“, aber „Spinnefeind sein“ lernen müssen? Schüler fragen, weshalb sie „groß“, aber „Gras“ schreiben sollen, obwohl man nach der Neuregelung auf einen langen Vokal ein „ß“ schreibt.
6. Die Tatsache, daß eine Frage (hier: die Rechtschreibreform; der Bearbeiter) politisch umstritten ist, führt dagegen für sich genommen nicht dazu, daß diese als wesentlich verstanden werden müßte. (S. 45)
Kommentar: Sicher ist die Rechtschreibreform in der Politik stark umstritten. Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) ist wie die Schulsenatorin Ingrid Stahmer dafür, sein Parteifreund, der Berliner Bundestagsabgeordnete Prof. Rupert Scholz, ist dagegen. Man hat die Einführung der Reform nicht ohne Grund über einen Verwaltungserlaß vorgenommen. Man wollte die Parlamente umgehen. Sprachwissenschaftlich gesehen steht dagegen seit langem fest, daß die Rechtschreibreform völlig unsinnig und verwirrend ist, und daß die Zahl der Rechtschreibfehler nicht abnehmen wird. Zu Recht hat Prof. Eisenberg festgestellt, diese Reform gehört auf den Müll !
Eigenartig ist, daß das Bundesverfassungsgericht zwar die Einführung des Sexualkundeunterrichts für „wesentlich“ hält, aber nicht die Änderung der Rechtschreibung. Nach der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten „Wesentlichkeitstheorie“ muß das Parlament grundlegende Wertentscheidungen selbst treffen und darf diese nicht der Verwaltung zur Regelung überlassen. Wenn man der Argumentation der Kultusminister folgt, wonach der Umfang der Neuregelung verhältnismäßig gering sei, dann ist es kein Wunder, daß die Verfassungsrichter die Rechtschreibreform nicht als bildungs- und schulpolitisch von allgemeiner Bedeutung ansehen.
7. Rechtschreibunterweisung ist nicht in erster Linie eine Sache der Eltern. (S. 46)
Kommentar: Zwar steht gemäß Art. 7 Abs. 1 GG das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates, die häusliche Erziehung im Lesen und Schreiben hat jedoch in Deutschland eine lange Tradition. Dies war sogar im preußischen Allgemeinen Landrecht in § 7 Teil II Titel 12 ALR normiert, wo es hieß, es stehe den Eltern frei, „den Unterricht und die Erziehung der Kinder auch in ihren Häusern zu besorgen.“ Der Rechtschreibunterricht ist also ein uraltes elterliches Recht! Erst nach dem 1. Weltkrieg wurde überhaupt eine Schulbesuchspflicht gemäß Art. 145 der Weimarer Reichsverfassung eingeführt. Im Bonner Grundgesetz heißt es in Art. 6 Abs. 2 Satz 1, „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ In mehreren Entscheidungen haben die höchsten deutschen Gerichte festgelegt, daß schulischer Unterricht und elterliche Erziehung gleichgeordnet seien. Eltern haben in der Schule ein Mitbestimmungsrecht. Eltern haben das Recht, die Wahl der Fremdsprache ihrer Kinder zu treffen. Es mag zwar sein, daß die direkte Unterrichtung in der Rechtschreibung heutzutage in der Schule erfolgt, aber angesichts des in diesen Zeiten beklagten geringen Kenntnisstandes von Schulabgängern ist es insbesondere wegen der Lehrstellenknappheit nötiger denn je, daß Eltern ihren Kindern beim Schreiberwerb helfen. Durch die Einführung der Rechtschreibreform wird dieses Recht den Eltern stark erschwert, wenn nicht sogar genommen. Nun werden Eltern in ihrem Erziehungsrecht von sieben Verfassungsrichtern durch Rechtsschöpfung entmündigt. Wollte man nicht aus den im „Dritten Reich“ gemachten Erfahrungen lernen?
8. Die elterliche Autorität leidet nicht unter der Rechtschreibreform, da die Eltern mit der Fortentwicklung des Unterrichts sowieso nicht Schritt halten können. (S. 50)
Kommentar: Woher wissen das die Verfassungsrichter? Tatsache ist doch, daß Dreiviertel der heutigen Abiturienten im Gegensatz zu denen vor dreißig Jahren die deutsche Rechtschreibung schlechter beherrschen, denn sie machen doppelt so viele Fehler. Abiturienten wissen auch nicht, daß Konstanz am Bodensee liegt oder wer Friedrich Schiller war. Solche Wissenslücken bei Abiturienten lassen nicht gerade auf eine Fortentwicklung des Unterrichts schließen. Wenn Kinder in Zukunft eine andere Rechtschreibung lernen, dann werden sie ihre Eltern bald darüber belehren, daß diese „falsch“ schreiben. Bisher konnten einigermaßen gebildete Eltern ihren Kindern zumindest im Grundschulbereich bei fast allen Fragen helfen. Nunmehr müssen sie selbst im Wörterbuch nachschauen, wie manche Wörter geschrieben werden. Wenn Eltern aber keinen Wissensvorsprung mehr haben und wieder zu Lernenden werden, dann leidet darunter auch ihre erzieherische Autorität, das weiß man, nur die Verfassungsrichter wissen es nicht oder wollen es nicht wissen.
9. Zu den gesetzlichen Zielen des Grundschulunterrichts gehört die Unterweisung im richtigen Schreiben. Daran ändert sich durch die Rechtschreibreform nichts. (S. 51)
Kommentar: Was ist denn „richtiges Schreiben“? Wie die Eltern schreiben, wie es die Kultusminister anordnen, oder wie es in den Zeitungen gedruckt ist? Wenn die Schreibung „Rad fahren“ gestern falsch war, kann sie dann heute richtig sein? Kann man Schülern im Deutschunterricht das Schreiben der Konjunktion „daß“ als Fehler anstreichen, wenn diese Schüler auch in Zukunft im Unterricht in Geschichten von Günter Grass oder Walter Kempowski weiterhin „daß“ lesen? Wie sollen Schüler ein sicheres Rechtschreibgefühl ausbilden, wenn sie ihre gesamte Schulzeit hindurch mit zwei verschiedenen Rechtschreibungen konfrontiert werden?
10. Die Änderungen, die die Rechtschreibreform bewirkt, sind im Umfang verhältnismäßig gering. Die Reform betrifft qualitativ, abgesehen von der Änderung der bisherigen „ß“-Schreibung, nur 0,5 vom Hundert des Wortschatzes. (S. 48)
Kommentar: Es ist kaum anzunehmen, daß die Verfassungsrichter die im Duden rot hervorgehobenen Änderungen durchgezählt haben. Aber Bundespräsident Herzog hat dies offenbar getan.
Am 16.7.1998 meldet die Tageszeitung „Die Welt“, daß Herzog vorgetragen hat, es änderten sich etwa 18.000 Wörter, darunter seien 17.000, die bisher mit einem „ß“ geschrieben worden seien. Kann man dies als „verhältnismäßig gering“ bezeichnen? Bundespräsident Herzog hat zudem noch übersehen, daß noch etwa 1500 Wörter der Schriftsprache durch die Reform einfach gestrichen werden - Wörter wie „alleinstehend“, „allgemeinbildend“ oder „wohlbegründet“. Allein beim Buchstaben „A“ fallen künftig 108 Wörter weg. Übrigens: Im Duden sind etwa 115.000 Stichwörter aufgeführt. Bei etwa 20.000 Änderungen ergibt dies 17 vom Hundert des Wortschatzes.
11. Das geltende Schulrecht stellt eine ausreichende Grundlage für die Umsetzung der Rechtschreibreform an den Schulen dar. (S. 43, f.) Jedenfalls für eine Reform dieses Zuschnitts reichen die Paragraphen des Schulgesetzes zur Umsetzung im Bereich der Grundschulen aus. (S. 51)
Kommentar: Wer nun in den Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer nach einer solchen „ausreichenden Grundlage“ sucht, wird sich vergeblich mühen. Das Bundesverfassungsgericht erkennt im schleswig-holsteinischen Schulgesetz eine solche Grundlage in der Leerformel „ ... die Grundschule vermittelt ... Grundkenntnisse und Grundfertigkeiten ...“. (S. 44) Darauf würde nicht jeder kommen! Nicht einmal jeder Jurist! Was hat denn auch die Vermittlung von Grundkenntnissen mit der Änderung der Schreibungen von etwa 20.000 Wörtern zu tun? Auch im Berliner Schulgesetz würde sich danach eine solche Grundlage ohne Schwierigkeiten finden lassen. Vermutlich würde hier die „verwaschene Generalklausel“ (H.-U. Evers) des § 1 BerlSchulG, „Aufgabe der Schule ist es, ... ihnen (Kindern und Jugendlichen, G. H.) gründliches Wissen ... zu vermitteln“, herhalten müssen. Denn im Berliner Schulgesetz ist außer dem Sexualkundeunterricht (§ 22) und der Möglichkeit, ab der 5. Klasse zwischen den vier Fremdsprachen Englisch, Französisch, Latein und Russisch zu wählen (§ 28), nichts betreffend der Grundschulunterrichtsinhalte geregelt.
Mit diesem Urteil wirft das Bundesverfassungsgericht seine eigene Rechtsprechung über den Haufen. In der Vergangenheit hatte das höchste deutsche Gericht mehrfach den Gesetzgeber angemahnt, seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Ausgestaltung des Schulverhältnisses nachzukommen. In einem Beschluß aus dem Jahre 1981 heißt es sogar, daß im Schulwesen rechtsstaatliche Entwicklungen die durch das Grundgesetz schon 1949 geboten waren, nachgeholt werden müßten, (BVerfGE 58, 257). Aber mit Prof. Hans-Jürgen Papier hat sich dies, wie man sieht, geändert. Urplötzlich sind überall ausreichende Grundlagen vorhanden.
Dr. Norbert Niehues, der Vorsitzende Richter des 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichts, welcher über die Revision im Berliner Rechtsstreit über die Rechtschreibreform entscheiden wird, vertritt die Auffassung, daß der Gesetzgeber sich unter Umständen eine nähere Beschreibung des Grundschulunterrichts sparen könne, solange ein allgemeiner Konsens darüber besteht, was in der Grundschule im allgemeinen gelehrt und gelernt wird. (Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, S. 189, f.
Legt man diese Auffassung zu Grunde, dann besteht nach allen Umfragen (zuletzt im FOCUS 30/1998, wonach 84% der Deutschen gegen die Rechtschreibreform sind) kein Konsens über die Neuregelung der Rechtschreibung. Man kann sich vorstellen, wie das Bundesverwaltungsgericht entschieden hätte. Leider ist es nun an den § 31 Abs. 1 BundesVerfGerichtsG gebunden.
12. Sachkompetenz und Nähe zur schulischen Praxis qualifiziert die Kultusverwaltungen für die Entscheidung über Notwendigkeit, Inhalt, Ausmaß und Zeitpunkt einer Rechtschreibreform besonders. Für die Beantwortung von ... sprachwissenschaftlichen ... Fragen erscheinen die zuständigen Fachverwaltungen besser ausgerüstet als die Landesparlamente. (S. 51, f. )
Kommentar: Sind denn Abgeordnete Dummköpfe? Sind sie nicht in der Lage, sich sachkundig zu machen? Müßte die Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes nicht auch für wirtschaftliche oder innenpolitische Fragen gelten, insbesondere bei der Bekämpfung der Kriminalität? Denkbar ist eher, daß manch einer in der Schulbürokratie aus ideologischen Gründen und den kaum noch zu bewältigen Schulproblemen den Blick für die Realität verliert. Wenn man an die Schulpolitik des Landesschulamtes Berlin und der Schulsenatorin Ingrid Stahmer denkt, kommt man jedenfalls zu anderen Ergebnissen als die Verfassungsrichter.
Hier untergräbt das Bundesverfassungsgericht das Prinzip der Gewaltenteilung und des Parlamentsvorbehalts, indem es einer angeblichen Fachkompetenz der Exekutive den Vorrang gibt, wonach die Kultusminister und ihre Behörden fachlich besser geeignet seien als beispielsweise 580 Sprachprofessoren.
13. Personen außerhalb des Schulbereichs sind rechtlich nicht gehalten, die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und danach zu schreiben. Ein gesellschaftlicher Ansehensverlust beim Festhalten an den überkommenden Schreibweisen ist nicht erkennbar. (S. 59, f.)
Kommentar: Gilt dies auch für Beamte und Verwaltungsangestellte? Werden Schüler nicht benachteiligt, wenn sie die neuen Schreibweisen lernen, die Allgemeinheit aber weiter die alten verwendet? Was geschieht, wenn bei der Ausbildung die alten Schreibweisen weiter vorausgesetzt werden? Auf Grund der massiven Proteste in der Bevölkerung ist sogar damit zu rechnen! Junge Menschen würden von Berufszweigen, die gute Orthographie-Kenntnisse voraussetzen, ausgeschlossen bleiben. Wer kann es sich noch leisten, Rechtsanwaltsgehilfinnen auszubilden, wenn die Gerichte nicht auf das Neuschreib umstellen? Es ist seltsam, daß sich das höchste deutsche Gericht nicht mit dieser Frage auseinandergesetzt hat!!! Auch in dem Fall, daß sich die neuen Schreibweisen durchsetzen, stellt sich die Frage, woher die Verfassungsrichter denn wissen wollen, daß man sich nicht blamiert, wenn man an den alten Schreibweisen und Kommaregeln festhält? Eine Begründung sind sie schuldig geblieben.
Fazit: Das Bundesverfassungsgericht übernimmt einseitig die Ansichten der Kultusminister und einer Handvoll Berufsreformer und verkündet sie als eigene Meinungen, ohne diese nachvollziehbar zu begründen und ohne die Argumente der Kritiker, insbesondere der Sprachwissenschaftler, auch nur ansatzweise zu berücksichtigen. Kurzum: Hier hatte wohl Justitia ihre Augenbinde verlegt!?
Wurde hier ein Urteil zugunsten eines händlerischen Unternehmertums und gegen ein traditionsbewußtes Volkswollen gefällt?
Berlin-Spandau, am 19. Juli und am 16. August 1998
Gernot Holstein
http://home.snafu.de/juergen.brinkmann/thesen.htm
http://www.rechtschreibvolk.de |
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