Günter Schmickler
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: Freitag, 19. März. 2004 19:54 Titel: Sprachpolitik gegen Sprachentod? |
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Der Staat hat mit der Einführung neuer – vorher nie dagewesener – und der Wiederbelebung längst veralteter Schreibweisen in die Entwicklung der deutschen Sprache eingegriffen. Die Gegner der „Rechtschreibreform“ von 1996 bezeichnen dies zu Recht als Anmaßung. Anderseits gibt es Sprachschützer, auch unter den „Reformgegnern“, die nach der Obrigkeit rufen, wenn es um die „Wahrung“ und die „Reinhaltung“ der deutschen Sprache geht. Ein Sprachschutzgesetz soll die Überfremdung des Deutschen, insbesondere das Ausufern von importierten oder im eigenen Land kreierten Anglizismen und Amerikanismen verhindern. Vorbilder für staatliche Sprachprotektion gibt es z. B. in Frankreich, Polen und Lettland. Im vorigen Jahr wurde von der Zeitschrift „Deutsche Sprachwelt“ gar vorgeschlagen, die deutschen Mundarten und die deutsche Schrift „besonders zu schützen“. Die Erfüllung dieser und anderer sprachpolitischer Forderungen soll von einem neuen „Deutschen Sprachrat“ betreut werden.
Sind politische Maßnahmen zum Schutz einer Sprache wünschenswert und erfolgversprechend? Das möchte ich, so leid es mir tut, stark bezweifeln. Auf zahlreichen Auslandsreisen hatte ich Kontakt zu Menschen, die eine vom Aussterben bedrohte Sprache sprechen, so in Wales, Irland und Schottland. Als ich vor nunmehr 35 Jahren zum erstenmal Irland besuchte, fielen mir sogleich die irischsprachigen Schilder an Ortseingängen, auf Wegweisern, auf Bahnhöfen (padairn = Bahnsteig) und sogar an öffentlichen Bedürfnisanstalten ( „mna“ = Damen, „fir“ = Herren) auf. Am Schalter eines Postamtes erhielt ich eine in Irisch vorgedruckte Einschreibquittung. Irisch auch die Busfahrscheine und die Hausordnung der Jugendherbergen - einem Irisch sprechenden Menschen aber begegnete ich erst, nachdem ich schon zwei Wochen durch das Land gereist war. Von einer Lehrerin erfuhr ich, daß der Anteil der Irischsprachigen an der Gesamtbevölkerung offiziell auf 250.000 beziffert werde. In dieser Zahl seien aber diejenigen enthalten, welche die Staatssprache mehr schlecht als recht in der Schule gelernt und nach der Schulentlassung größtenteils wieder verlernt hätten. Echte Muttersprachler gebe es nur noch in einigen – „Gaeltacht“ genannten – Gebieten im Westen des Landes. Die Bezeichnung „Gaeltacht“ aber bedeute nicht etwa, daß Irisch dort die gängige Umgangssprache sei, sondern lediglich, daß irische Muttersprachler noch in nennenswerter Zahl anzutreffen seien. Insgesamt seien das wohl einige Tausend. Der Staat aber unternehme große Anstrengungen und investiere beträchtliche Mittel, um die alte Landessprache neu zu beleben und zu verbreiten. Kürzlich – seit dem Gespräch mit der Lehrerin sind einige Jahrzehnte vergangen – las ich in einem Artikel der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, daß in der Republik Irland die ohnehin geringe Zahl der Irischsprachigen weiterhin rückläufig sei.
Eine noch groteskere Situation hatte ich drei Jahre vor meiner ersten Irlandreise auf der Insel Man vorgefunden. An einem Herbsttag des Jahres 1966 fuhr ich an Bord eines Schiffes, dessen gälischer Name „Königin des Meeres“ bedeutete, von Liverpool nach der Inselhauptstadt Douglas. In einem alten Reiseführer hatte ich gelesen, daß auf der Insel der gälische Dialekt „Manx“ gesprochen werde. Nun war ich gespannt darauf, einem Einheimischen zu begegnen, der mir etwas über diese Sprache erzählen konnte. Vom „Warden“ der Jugendherberge erfuhr ich dann, daß Manx immer noch den Status einer Amtssprache habe. Alle Gesetze und Verordnungen müßten außer in Englisch auch in Manx veröffentlicht werden. Allerdings sei der letzte Muttersprachler im Jahre 1958 im gesegneten Alter von 90 Jahren gestorben. Immerhin lernte ich wenigstens einen Menschen kennen, der die alte Inselsprache noch sprechen konnte: eine ziemlich betagte Heimatforscherin, die in ihrer Jugend Manx von einem Schafhirten gelernt hatte. Sie zeigte mir eine Sammlung von vergilbten Büchern mit Erzählungen und Gedichten in Manx. Sie beklagte – den Tränen nahe -, daß den Inselbewohnern erst jetzt bewußt werde, „what a treasure they have lost“ – welchen Schatz sie verloren hätten. Bei diesem Gespräch kamen mir zum erstenmal Zweifel, ob das Privileg des Amtssprachenstatus eine bedrohte Sprache vor dem Untergang retten kann. Inzwischen gibt es eine Gesellschaft, die Manx-Kurse – seit einigen Jahren auch im Internet – anbietet. Allerdings gibt sich niemand der Illusion hin, die ausgestorbene Sprache könne jemals wieder zum gängigen Verständigungsmittel für die Inselbewohner werden.
In einem wesentlich besseren Zustand als die Sprachen der gälischen Gruppe befindet sich das Walisische. Die von den Einheimischen „Cymraeg“ genannte Sprache soll sich seit etwa 10 Jahren im Aufwind befinden. Trotz jahrzehntelangen Rückgangs gibt es in Wales noch eine hinreichende Zahl von Muttersprachlern jüngeren Alters. Eine nachhaltige Konsolidierung liegt deshalb durchaus im Rahmen des Möglichen. Es läßt sich allerdings noch nicht abschätzen, ob und wie lange der gegenwärtige Trend anhält. Vor allem ist die Erholung der walisischen Sprache in erster Linie dem unermüdlichen und selbstlosen Einsatz von Idealisten, nicht sprachpolitischen Verordnungen zu verdanken.
So lehrreich ein Blick über die Grenzen sein mag – man braucht nicht unbedingt ins Ausland zu reisen, um die allmähliche Verdrängung einer Sprache mitzuerleben. Ich bin mit zwei Mundarten aufgewachsen: „Bönnsch“ (eng verwandt mit „Kölsch“) und „Marmer Platt“, der Mundart von Marienberg (Westerwald). Beide Dialekte waren noch in den ersten Nachkriegsjahren gängige Alltagssprachen, werden aber seit einigen Jahrzehnten nicht mehr an die nachwachsende Generation weitergegeben. So verkommen sie zusehends zu Altenheim- und Bierthekensprachen.
Nun kann man Mundarten wie „Kölsch Platt“ kaum mit den alten keltischen Sprachen vergleichen. Irisch und Walisisch haben eine lange schriftsprachliche Tradition. Man könnte Goethes Faust oder Kants „Kritik der reinen Vernunft“ in diese Sprachen übersetzen, ohne die Ernsthaftigkeit der Werke zu beeinträchtigen. Hingegen stelle sich man vor, Faust riefe zu Beginn des ersten Aktes aus: „Jitz stonn isch hee, isch ärme Jeck...“ Wahrscheinlich vergäßen die Zuschauer darüber, daß es sich um eine Tragödie handelt.
Das bedeutet nicht, daß Dialekte von vornherein als minderwertig abgetan werden müßten. Gerade das „Kölsche“ und die verwandten Mundarten zeichnen sich aus durch ihre – mitunter derbe – Bildhaftigkeit, durch ihren Humor, durch ihre besondere Sicht der Welt und des Menschen. Einen sich schwerfällig fortbewegenden Mann nennt der alte Kölner „ ne Bär op Söck“ (Bär auf Socken), eine rundliche Nase „en Katömmelsnäsje“ (Aprikosennase), eine verschrobene alte Dame, die ihren Schoßhund spazierenführt, „e Hungsmadämmsche“. Aber schon heute gibt es nur noch wenige, denen solche Ausdrücke geläufig sind. Dabei fehlt es nicht an Bemühungen, „ons Kölsche Sproch“ zu erhalten. Verlage wie Greven oder Bachem bringen kleine Bände mit „Verzällcher“, „Jeschichten“ oder „Jedeechte“ heraus. Das „Kölsche Hännesje“, ein altes Puppenspieltheater, erfreut sich immer noch großer Beliebtheit.
Es gibt auch Laienbühnen mit kölschem Repertoire. Nicht zu vergessen die „Fasteleer“ (Fastnacht) mit kölschen Büttenreden und Liedern. Dies alles ändert nichts an der betrüblichen Tatsache, daß Kölsch als Alltagssprache zusehends an Bedeutung verliert. Dafür gibt es mehrere Ursachen. Vor allem ist es die Änderung der Bevölkerungsstruktur nach dem Kriege. Es gibt kaum noch Straßen, geschweige denn Viertel, in denen die alteingesessenen Kölner unter sich sind. Der „praktische Nutzwert“ einer Sprache aber geht verloren, wenn man sie nur mit Leuten, die man kennt, sprechen kann. Zudem gilt der kölsche Dialekt nicht gerade als prestigefördernd. Wer „Platt“ spricht, muß damit rechnen, der sozialen Unterschicht zugerechnet, als wenig gebildet oder zumindest als rückständig angesehen zu werden. Gerade die sogenannten kleinen Leute sind darauf bedacht, daß ihre Kinder nur „einwandfreies Hochdeutsch“ sprechen. Selbst wo dem „Platt“ eine gewisse kulturelle Bedeutung zuerkannt wird, stößt es bei der jungen Generation kaum auf Interesse. In den Altersgruppen der „Teenies“ und „Twens“ geht zusehends sogar der rheinische Zungenschlag verloren. So wird auch die Aussprache, die Leuten wie Adenauer, Kardinal Frings oder Heinrich Böll eigen war, in naher Zukunft kaum noch zu hören sein.
So sehr mir die Erhaltung alter Mundarten und Sprachen am Herzen liegt, kann ich mir doch nicht vorstellen, was ein gesetzlich verankerter Schutz der deutschen Dialekte und ein „Deutscher Sprachrat“ bezwecken könnten. Das Schicksal der keltischen Sprachen belegt allzu deutlich die Wirkungslosigkeit staatlichen Sprachschutzes.
Niemand kann verläßlich voraussagen, wie lange auf der Welt die derzeit noch vorhandene Vielfalt von Sprachen erhalten bleibt. Einige Sprachforscher wollen berechnet haben. daß es in dreihundert Jahren nur noch drei Sprachen geben wird: Englisch, Spanisch und Mandarin.
Eine dahin gehende Entwicklung ist nicht auszuschließen, solange die gegenwärtig in der Gesellschaft vorherrschende „Werteskala“ Bestand hat. Alles und jedes wird vorwiegend nach dem berechenbaren Nutzen eingeschätzt. Die Sprache gilt in erster Linie als Mittel zur Weitergabe „nützlicher“ Informationen. Die „reine Rationalität“ nimmt den Klang eines Wortes und die Melodie eines Satzes ebensowenig wahr wie Gefühle und Erinnerungen, die vielen Wörtern und Wendungen anhaften. Unter Teenagern ist folgende SMS gebräuchlich: 18 MD, das bedeutet: „Um 18 Uhr treffen wir uns bei Mc Donalds“. Ist eine derart komprimierte Botschaft nicht geradezu genial? Machen die Menschen sich das Leben mit Tausenden unterschiedlicher Sprachen und den dazugehörigen Grammatiken nicht unnötig schwer? Denkt man dies zu Ende, so wären selbst die drei überlebenden Sprachen im Grunde überflüssig. Ein einfaches, universal gültiges System von Zeichen- und Lautfolgen nach dem Muster der SMS- könnte man damit nicht alle Sprachbarrieren und Verständigungshemmnisse beseitigen?
Ich mag nicht daran glauben, daß es jemals so weit kommen wird. Man darf bei Zukunftsprognosen die derzeitigen Denkmuster nicht auch für künftige Generationen als selbstverständlich voraussetzen. Vielleicht haben schon in der nächsten oder der übernächsten
Generation neben der zweckbezogenen Rationalität auch das Gemüt und das im Unbewußten Verborgene wieder ihren eignen Stellenwert.
Gelegentlich versuche ich, die „feinen Unterschiede“, welche eine Vielfalt von Sprachen rechtfertigen, anhand der Bezeichnungen für den „Schmetterling“ zu verdeutlichen. Der deutsche Name dieses Insektes hängt mit dem alten Wort „Schmetten“ für „Rahm“ zusammen. Nach einem alten Volksglauben schwirren Hexen in der Gestalt von Schmetterlingen umher, um aus Rahmtöpfen zu naschen. Eine ähnliche Vorstellung liegt wohl dem englischen „butterfly“ zu Grunde. Die Waliser nennen das Tierchen „iar fach yr haf“, was in wörtlicher Übersetzung „kleines Huhn des Sommers“ bedeutet – eine, wie ich finde, wunderschöne poetische Umschreibung. Das türkische Wort „kelebek“ klingt in meinen Ohren ein bißchen spröde, wogegen ich das französische „papillon“ oder das griechische „petaluda“ als wohllautend, beinahe melodiös empfinde.
Solche Vergleichsmöglichkeiten gibt es zu Tausenden, und sie führen uns vor Augen, welche Schätze in den vielfältigen Sprachen verborgen liegen. Wenn diese Erkenntnis sich eines Tages gegen strohtrockenes Zweckdenken durchsetzt, haben auch „kleinere“ Sprachen
wie Walisisch oder Provenzalisch wieder eine Überlebenschance. Für manche der heute
als bedroht geltenden Sprachen aber käme zweifellos selbst ein „Umdenken“ zu spät.
Wir wissen nicht, welche Entwicklung unsere deutsche Muttersprache und die vielen Sprachen anderer Völker künftig nehmen werden. Eins aber scheint mir sicher: Sprachpolitiker, Sprachbehörden und Sprachbetreuer werden nicht die Richtung bestimmen. |
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