Manfred Riebe
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: Sonntag, 28. Dez. 2003 14:37 Titel: Adolf Muschg kommt „orthographisch betrachtet aus dem Busch“ |
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Adolf Muschg: „Ich komme, orthographisch betrachtet, aus dem Busch“
Nur Barbaren werfen Sprachbildung als lästigen Ballast über Bord
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Der Höcker der Rechtschreibreform
Adolf Muschg
[...] Auf meiner alten Olivetti mit schweizerischer Tastatur, die mich 1962 nach Japan begleitete, kam es [das Eszett] gar nicht vor, und in meinem Deutschunterricht ersparte ich den Studenten, es zu lernen. Mit der Folge, daß eine der Absolventinnen bei der Aufnahmeprüfung an die Kaiserliche Universität Tokyo wegen Othographieschwäche durchfiel. Durchgefallen <i>wäre</i>, hätte ich nicht in einem Entschuldigungsbrief an die Prüfungsbehörde das unterlassene deutsche «ß» in aller Form auf mich genommen. <b>Ich sei Schweizer und komme, orthographisch betrachtet, aus dem Busch.</b> Um die Zukunft der Studenten nicht zu gefährden, setzte ich von da an das große «B» meiner Olivetti als «ß» ein. Das sah beinahe so schön aus wie später das große feministische «I» im Wortinneren («AutorInnen»). Seither aber verwende ich das sauer erworbene Zeichen mit Genuß und denke nicht daran, mich von einer amtl. dekretierten Orthographiereform davon wieder dispensieren zu lassen.
So kundenfreundlich, wie sie sich gibt, ist sie übrigens nicht. Ein mir bekannter junger Mann, der eine Stelle suchte, hatte dafür einen handschriftlichen Lebenslauf zu liefern. Wie sich zeigte, diente die neue Rechtschreibung dem prospektiven Arbeitgeber als Selektionskriterium. Der junge Mann bekam die Stelle nicht, und diesmal hätte mein Bekennerschreiben nichts genützt. Was ein Schriftsteller darf, darf ein Arbeitsloser noch lange nicht. Wer rechtschreibt, dem traut man immerhin zu, daß er sich auch nach andern Regeln richtet: es ist ein Indiz für korrekte Sozialisation. [...]
Indem man das alte Instrument [Orthographie] als lückenhaft und unlogisch darstellte, versuchte man es als Instrument zu verbessern, und zwar möglichst mit System. Und indem man auch damit glorreich scheiterte und erkennen mußte, daß man das Chaos nur vergrößert hatte, will man es nun par ordre de moufti beenden. Aber wie? Große Zeitungen wie die FAZ machen die Reform nicht mit, andere wie die NZZ schneidern sie sich für den Hausgebrauch zurecht; bedeutende Verlage (wie Suhrkamp) ignorieren sie, und die meisten Autorinnen und Autoren tun nicht mal das. Akademien (wie die Darmstädter) verfassen Denkschriften über die Reformbedürftigkeit der Reform, Philologen demonstrieren ihren Unsinn, während sprachempfindliche Einzelgänger auf Barrikaden steigen, um sie mit Gut und Blut zu bekämpfen. [...]
Zum Glück bleibt eine lebendige Sprache in hohem Grade (ver)ordnungsresistent und verbesserungsimmun. Sie benützt nichts lieber als eine Rechtschreibreform dazu, ihre Unverbesserlichkeit zu demonstrieren. [...]
Orthographie, als begradigte Sprache, kommt einem kulturellen Gedächtnisverlust gleich. Denn die Geschichte, die die Sprache erzählt, verbirgt sich in ihrer Schreibung, und wenn diese eine Differenz zum gesprochenen Laut zu erkennen gibt, ist sie bedeutsam: darin steckt eine Erinnerung. Die französische oder englische Orthographie - gerade die englische! - kultivieren diese Differenz mit Liebe und Entschiedenheit. In diesen Sprachen lassen sich Quiz-Sendungen darüber veranstalten, wie ein Wort «richtig» geschrieben werde: daraus wird aber nicht nur eine Schule der Korrektheit, darin tut sich ein Stück Kulturgeschichte auf, und damit ein Spielraum des Vorstellungsvermögens. So weit ist es mit unserer Sprache her? Welcher Gewinn, sich in ihr auszudrücken - und welche Freude!
Ich darf wissen, daß «numerieren» nicht von «Nummer» kommt, «plazieren» nicht von «Platz», das «Quentchen» hat mit einem «Quantum» nichts zu tun: die ungewohnte Schreibung bewahrt die Erinnerung daran, daß unsere Sprache von der lateinischen und der französischen mitgebildet wurde. Diese Bildung aber gehört zu unserer eigenen: <b>es bleibt barbarisch, sie als Ballast zu behandeln, den man getrost über Bord werfen kann.</b>
[...] Die «Vereinfachungen» der neuen Rechtschreibung sind - im günstigen Fall - Produkte eines fürsorglichen Paternalismus, der inzwischen auch der Willkür überführt ist. Das amtl. geprüfte Angebot, uns das Leben wenigstens in der Orthographie zu erleichtern, ist unannehmbar, wenn es das Eigenleben der Sprache nicht respektiert und vom Eigensinn ihrer Sprecher und Schreiber nichts wissen will.
Die Pflege einer Sprache ist nicht einmal das Gegenteil ihrer Regulation; denn diese behandelt und beschneidet, als wäre es Wildwuchs, ein Gebilde, das sich durch Selbstorganisation am besten reguliert. Die Sprache beschränkt sich nie auf die Übereinstimmung mit der Gemeinschaft ihrer Sprecher; sie artikuliert und aktiviert auch den Widerspruch zu ihr.
[...]
Adolf Muschg: Der Höcker der Rechtschreibreform. In: Schweizer Monatshefte, Zürich, Heft 11: Die deutsche Sprachverwirrung - Fehlkonzept Rechtschreibreform, November 2003, S. 3-4
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Adolf Muschg war bis zu seiner Emeritierung 1999 Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. In diesem Jahr ist der Schriftsteller zum Präsidenten der Berliner Akademie der Künste gewählt worden.
Er gehört zu den rund 700 Sprach- und Literaturprofessoren, die schon im Mai 1998 in einer „Gemeinsamen Erklärung der Sprach- und Literaturwissenschaftler zur Rechtschreibreform“ die Rücknahme der Rechtschreibreform forderten‚ weil diese „nicht dem Stand der sprachwissenschaftlichen Forschung“ entspricht (Erklärung zur Rechtschreibreform. In: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft Nr. 45, 1997, S. 63): www.vrs-ev.de/resolutionen.php#professoren -
Auch jetzt gehört Adolf Muschg zu den Akademieprofessoren, die in einem Brief vom 12. November 2003 an die Kultusminister die Rücknahme der Rechtschreibreform fordern: www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?t=111
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