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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Sonntag, 01. Feb. 2004 15:53 Titel: Berliner Morgenpost |
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<b>Berliner Morgenpost
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Wo der Untergang dräut
Seit genau fünf Jahren wird die reformierte Rechtschreibung in den Schulen gelehrt: Sie hat weder das Heil noch die Apokalypse gebracht</b>
Von Matthias Heine
Das Schlimmste an der Rechtschreibreform, die heute vor fünf Jahren die Schulen und vor vier Jahren die Zeitungen erreichte, ist der Stil der Debatte um sie. Doch zugleich ist diese Diskussion das Kostbarste, das die Reform gebracht hat, denn sie hat die Rechtschreibung wieder zum Gegenstand persönlichen Nachdenkens gemacht. Die Entscheidung für eine der zahlreichen „Hausrechtschreibungen“, wie sie Verlage, Zeitungen und Individuen pflegen, setzt eine Reflektion über das Für und Wider aller orthographischen Problemfälle voraus - der alten wie der neuen. Wie man schreibt, ist zur Frage des Gewissens und des Stils geworden.
Auch die Konservativen sind immer Kinder der Revolution. Der Glaube an die alte Rechtschreibung bekam durch die Ablehnung der Reform einen gegenreformatorischen Impuls. Wahrscheinlich beherrschen die meisten Altschreiber ihre Orthographie heute besser als vor 1998, denn sie haben sich des scheinbar Selbstverständlichen noch einmal vergewissern müssen.
Umso schlimmer, dass die ganze Debatte längst das Erscheinungsbild eines absurden Parteienstreits angenommen hat. Das liegt vor allem an ihren sichtbaren Protagonisten: Auf beiden Seiten kämpfen akademische und politische Warlords um ihre Herrschaftsbereiche. Ihre Gefolgsleute rekrutieren sie aus dem Heer der üblichen Verdächtigen: Verfasser kilometerlanger Leserbriefe, Gründer mikroskopischer Bürgerinitiativen, Verschwörungstheoretiker, die mit Internet-Seiten aufklären. Und zum Schutzpatron der alten Rechtschreibung hat sich ausgerechnet das wandelnde Bildungsnotstandsgebiet Guido Westerwelle erklärt.
Das Thema zieht Käuze an, weil die Rechtschreibung mehr Emotionen erregt als andere Aspekte des Sprachlebens. Mit vergleichbarem Furor werden höchstens noch die zyklischen Fremdwortdebatten geführt. Möglicherweise hat beides mit der Rolle dieser Themen bei der Schaffung nationaler Identität und deutscher Einheit zu tun. Das massenhafte Aussterben von Wörtern und das Plattmachen von Grammatiklandschaften regen die Leute dagegen längst nicht so auf wie vergleichbare Phänomene in der Natur. Auch eine Änderung der Straßenverkehrsregeln, bei denen es doch viel eher um Leben und Tod geht, würde kaum so wütend diskutiert werden.
Das Niveau der Diskussion sinkt mit jeder Attacke und Gegenattacke. Je mehr die Reformer allen berechtigten Einwänden zum Trotz auf ihrer Regelungsgewalt beharren, desto kurioser sind die geistigen Wunderwaffen, welche die Rebellen ins Feld führen. Sie haben ja so Recht. Aber ewiges Rechthaben macht bekanntlich schrullig. Ewiges Rechtschreiben auch.
Weil sowohl die Pro- als auch die Contra-Haltung oft zur Ideologie erstarrt sind, können sich ihre Rechtgläubigen auch absolut nicht vorstellen, dass man die Mängel und Fehler der Reformschreibung sieht, aber dennoch gelassen bleibt. Die Reform hat kaum Probleme gelöst und viele neue geschaffen, aber sie hat auch nicht den Untergang der deutschen Sprache eingeleitet. Weder die Heilserwartungen der Reformer noch der Apokalyptizismus ihrer Kritiker waren angebracht. Lebendige Sprache hat sich immer der bürokratischen Kontrolle entzogen.
So werden noch lange ungezählte Schreibweisen parallel existieren. So schlimm ist das nicht: Es gab schon einmal Zeiten, in denen sich hier zu Lande jeder für eine eigene Rechtschreibung entscheiden konnte. Im frühen 19. Jahrhundert gab es keine gesetzliche Norm, trotzdem wurde ein schöneres und formenreicheres Deutsch geschrieben als heute.
Die Rolle, die damals die Drucker bei der Herausbildung orthographischer Mindestnormen spielten, hat heute das Internet inne. Ausgerechnet dieses von Sprachwächtern viel geschmähte Medium erweist sich als der große Vereinheitlicher. Wer etwas bei Ebay verkaufen will, muss es richtig schreiben. Wer will, dass seine Schlüsselbegriffe von Suchmaschinen erkannt werden, muss sich für eine geläufige Schreibweise entscheiden.
Noch lange wird der Streit wichtigere Probleme der deutschen Sprache überdecken: Das Schwinden des Flexionsgefühls beispielsweise, dessen auffälligstes Symptom, der Genitiv-Apostroph, bislang allen satirischen und volkspädagogischen Angriffen standhält. Oder die zunehmende Unfähigkeit, hypotaktische Sätze zu bilden und zu verstehen: Schon ein Jahr vor Pisa lag der „Bild“-Zeitung eine Untersuchung vor, wonach immer mehr „Bild“-Leser kaum noch in der Lage seien, einen „Bild“-Artikel zu kapieren. Da dräut der Untergang des Abendlandes - falls er denn dräut -, denn diese Bereiche hängen im Gegensatz zur Rechtschreibung eng mit den kognitiven Fähigkeiten und der sozialen Kompetenz zusammen. Hier lauert hinter der Krise der Sprache tatsächlich die Krise der Zivilisation.
<b>Das Thema zieht Käuze an, weil die Rechtschreibung mehr Emotionen erregt als andere Aspekte des Sprachlebens.</b>
Berliner Morgenpost, Freitag, 01. August 2003, Kultur
http://morgenpost.berlin1.de/archiv2003/030801/feuilleton/story620085.html
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Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Sonntag, 01. Feb. 2004 22:27, insgesamt 1mal bearbeitet |
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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Sonntag, 01. Feb. 2004 15:58 Titel: Rechtschreibreform endgültig auf der Kippe |
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<b>Rechtschreibreform endgültig auf der Kippe
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Rechtschreibreform: Neue Korrekturen führen sie völlig ad absurdum</b>
Fünfeinhalb Jahre nach ihrer Einführung steht die Rechtschreibreform endgültig auf der Kippe. Nach mehreren Korrekturen in den vergangenen Jahren spricht sich die Zwischenstaatliche Rechtschreibkommission in Mannheim jetzt selbst dafür aus, Teile der Reform zurückzunehmen. Dem Vorstoß, der bisher nur aus einer Vorlage für die Kultusministerkonferenz (KMK) bekannt ist, kommt politische Bedeutung zu. Denn am kommenden Donnerstag will die Amtschefkommission „Rechtschreibung“ der KMK endgültig darüber befinden, ob die Reform im Sommer 2005 „verbindlich“ wird. Verstöße gegen die neuen Regeln sollen von da an als „falsch“ geahndet werden und sich auf die Zensuren an den Schulen auswirken.
Die Vorschläge der Kommission stellen diese Entscheidung in Frage. So sollen die unter Beschuss geratenen Regeln für Getrennt- und Zusammenschreibung teilweise zurückgenommen werden. Der Umfang, in dem das geschieht, bleibt aber unklar. „Die Liste von Partikeln, die mit Verben trennbare Zusammensetzungen bilden können, wird um einige wenige bisher fehlende Partikel ergänzt“, heißt es in dem Papier. Dann folgt die Aufzählung: „dahinter, darauf / drauf, darauflos / drauflos, darin / drin, darüber / drüber, darum / drum, darunter / drunter, davor, draus, hinter, hinterdrein, nebenher, vornüber“ - womit die „geschlossene Liste“ auf bereits 110 Partikel anwachse.
Bei Verbindungen mit Partizipien ist die alte Schreibweise wieder zulässig, „wenn die gesamte Verbindung komparierbar ist“. Ebenso sollen „allein stehend“, „Rat suchend“ wieder zusammengeschrieben werden dürfen. Doch diese Erlaubnis wird damit auf eine nicht genannte Zahl vergleichbarer Fälle ausgeweitet. Immer wieder heißt es in Bezug auf die neuen Freiheiten: „in Fällen wie“, „insbesondere in diesem Fall werden frühere Zusammenschreibungen wieder zulässig“, womit die Neuregelungen praktisch aufgegeben werden, ohne dass dies eingestanden wird.
Mehrfach wird in der noch nicht veröffentlichten Vorlage betont: „Durch die Änderungen werden bisherige Schreibweisen nicht falsch.“ Deshalb brauche kein Wörterbuch geändert zu werden. Kritiker wie der Erlanger Linguist Theodor Ickler sehen das anders: „Lehrer, die justiziabel korrigieren wollen, brauchen Nachschlagewerke, in denen alle richtigen Schreibweisen verzeichnet sind. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Neue Milliardenkosten sind unvermeidlich.“
Dankwart Guratzsch
Berliner Morgenpost, Donnerstag, 29. Januar 2004, Kultur
http://morgenpost.berlin1.de/archiv2004/040129/feuilleton/story656206.html
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