Günter Schmickler
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: Sonntag, 03. Aug. 2008 17:11 Titel: Wann ist eine Sprache "schwierig"? |
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Wann ist eine Sprache “schwierig”?
Die Rechtschreibreformer und ihre Anhänger werden nicht müde, zu betonen, wie sehr das neue Regelwerk unseren Schulkindern das Lernen erleichtert habe. Als besonders segensreich wird immer wieder die Neuentdeckung der Heyseschen s-Laut-Schreibung dargestellt. Weitere Vereinfachungen, so meinen der Lehrergewerkschaft nahestehende “Expertinnen und Experten”, seien allerdings im Interesse unserer Kinder wünschenswert. Zudem mache eine vereinfachte Orthographie das Erlernen der deutschen Sprache, die ihre einstige Weltgeltung eingebüßt habe, auch für Ausländer wieder attraktiv.
Unter “einfacher Orthographie” verstehen Sprachreformer von jeher eine möglichst durchgängige Laut-Buchstaben-Entsprechung. Der Grundsatz “Jedem Buchstaben sein Laut, jedem Laut sein Buchstabe” findet wegen seiner verführerischen Einfachheit bei vielen Leuten spontane Zustimmung. Er ist jedoch unschwer zu widerlegen.
Wer auf einem altsprachlichen Gymnasium Latein und Altgriechisch lernen muß, hat mit der Rechtschreibung dieser Sprachen kaum Schwierigkeiten, da das Schriftbild und die Aussprache im allgemeinen übereinstimmen. Im Lateinischen hapert es allerdings manchmal mit der Vokallänge und der Betonung, aber sind das nicht vernachlässigbare Kleinigkeiten im Vergleich zu den offenkundigen Schwierigkeiten der “historischen” englischen Orthographie? Alles in allem müßten die klassischen Sprachen den Schülern doch als “ziemlich leicht”, das Englische hingegen als “äußerst schwierig” erscheinen. In Wirklichkeit ist es eher umgekehrt. Woran liegt das wohl?
Offenkundig fällt es den Schülern leichter, sich von der Aussprache abweichende Schriftbilder einzuprägen, als mit einer komplizierten und für unser Sprachgefühl ungewohnten Syntax zurechtzukommen, nicht zu vergessen die vielen - regelmäßigen und unregelmäßigen - Flexionsformen und ihre Anwendung. Wann benutzt man den Optativ des Aorists? Wann den Konjunktiv des Plusquamperfekts? Derartige Fragen bereiten wohl mehr Kopfzerbrechen als beispielsweise die Frage, wann im Englischen die Buchstabengruppe “augh” als offenes langes “o” (taught), wann wie “aaf” (laugh) ausgesprochen wird.
Nach der Schulzeit bin ich mit zwei lebenden Sprachen in Berührung gekommen, deren Orthographie fast vollständig dem Ideal der eindeutigen Laut-Buchstaben-Zuordnung entspricht: Walisisch und vor allem Türkisch. Das müßten doch, wenn man die Überzeugung unserer Reformpädagogen teilt, kinderleicht zu erlernende Sprachen sein. Ich habe da gänzlich andere Erfahrungen gemacht.
Es liegt zwar einige Jahrzehnte zurück, aber ich kann mich gut daran erinnern, was mir ein Lehrer erzählte, den ich in einer walisischen Jugendherberge kennengelernt hatte. Er gab walisischen Unterricht sowohl für Muttersprachler als auch für Kinder, in deren Elternhaus vorwiegend englisch gesprochen wurde. Die Muttersprachler, so erklärte mir der Lehrer, hätten von der vorgeblich lautgetreuen Rechtschreibung kaum einen Vorteil. Der Grund leuchtete mir ein: Fast jedes Dorf habe seinen eigenen, unverwechselbaren Dialekt. Die “lautgetreue” Orthographie sei nichts als ein Kompromiß, der die südliche gleichermaßen wie die nördliche Dialektgruppe berücksichtige. So gebe es häufig signifikante Unterschiede zwischen dem Schriftbild und der dem einzelnen Schüler vertrauten Aussprache.
Schüler, die Walisisch als Fremdsprache erlernen müßten, hätten mit Schwierigkeiten völlig anderer Dimension zu kämpfen: An erster Stelle das grammatische Geschlecht, wie im Französischen männliches und weibliches Genus, für die es aber nur einen Artikel gebe. Auf das richtige Geschlecht komme es besonders an, wenn das Nomen von einem Pronomen vertreten werde, beispielsweise bei einem Fluß: Überquere ich ihn oder überquere ich sie? Sodann nicht weniger als sieben Arten der Pluralbildung! Am schlimmsten aber die komplizierten Regeln der “Anlautänderung”: Einige Konsonanten werden, abhängig vom grammatischen Zusammenhang, leniert, aspiriert oder nasaliert. Zwangsläufig wird hierdurch das Auffinden eines Wortes im Wörterbuch erschwert. Man stelle sich vor: “plentyn” ist das Wort für “Kind”. Der Plural wird durch Ablaut und Abstoßen des Singularsuffixes gebildet: plant = Kinder. Tritt nun das Possesivpronomen fy (=mein) hinzu, so muß das anlautende p “nasaliert” werden: fy mhlant = meine Kinder. Wer das Wort “mhlant” in dieser Form nicht kennt, muß über solide grammatische Grundkenntnisse verfügen, um herauszufinden, unter welchem Stichwort er in einem Wörterbuch nachschlagen kann. Selbstverständlich lassen sich solche Schwierigkeiten mit Geduld und Ausdauer meistern, aber zweifellos ist es doch leichter, sich beispielsweise zu merken, wann der Buchstabe “u” im Englischen wie ein deutsches u, wann wie “ju” und wann als a gesprochen wird.
Nun zum Türkischen: Diese Sprache hat eine “kinderleichte” Rechtschreibung, die bei der Umstellung von der osmanischen auf die lateinische Schrift sozusagen am Reißbrett entworfen wurde. Pluralbildung, Deklination und Konjugation sind so regelmäßig, daß der Eindruck entsteht, man hätte es mit einer Kunstsprache wie Esperanto zu tun. Aber der Eindruck trügt gewaltig: Das Türkische kennt nicht weniger als 30 Tempora (9 einfache und 21 zusammengesetzte). Für den Hausgebrauch genügen zwar 7 einfache und 2 zusammengesetzte Zeiten, doch für Lernende ist das immer noch eine Herausforderung. Die größte Schwierigkeit aber wird dadurch verursacht, daß das Türkische eine stark agglutinierende Sprache ist: Grammatische Funktionen werden durchweg durch Anhängen von Suffixen an einen Wortstamm dargestellt. Ein Beispiel, das ich niemals vergessen kann: Ein türkischer Kollege, der seinen Wehrdienst in Anatolien ableistete, schrieb mir auf einer Grußkarte. “Alisamadim”. Das bedeutet: “Ich habe mich nicht eingewöhnen können”. Einem vollständigen deutschen Satz mit 6 Wörtern entspricht hier ein türkischer Wortstamm (al-) mit 5 angehängten Suffixen. Nun läßt sich eine solche Wortfügung relativ leicht “entschlüsseln”, wenn man sie geschrieben vor sich sieht. Wesentlich schwieriger ist es, dieselbe Wortfügung zu verstehen, wenn sie mündlich übermittelt wird. Ein ungeübtes Gehirn ist überfordert, wenn es die für das Verstehen erforderliche blitzschnelle “Dechiffrierung” leisten soll. Nicht gerade leicht zu erlernen ist auch der türkische Satzbau. Es gibt kaum Nebensätze in unserem Sinne, an deren Stelle treten substantivierte und deklinierte Verben. Der deutsche Satz “Weißt du, wann Ahmet im Ankara angekommen ist?” nimmt im Türkischen etwa diese Form an:
“Ahmets wann in Ankara Angekommensein weißt du?” Eine “harte Nuß” sind auch die Gesetze der sogenannten “Vokalharmonie”: Nach bestimmten Regeln darf auf eine Silbe mit einem hellen Vokal nur eine Silbe folgen, deren Vokal gleichfalls hell ist. Entsprechendes gilt für Silben mit “dumpfen” Vokalen.
Die Summe aller Schwierigkeiten der türkischen Sprache hat dazu geführt, daß ein bekannter Kölner Autor, der nicht gerade “auf den Kopf gefallen” ist, seinen Versuch, Türkisch zu lernen, abgebrochen hat, und das bei einer Orthographie, von der unsere “Vereinfacher” nur träumen können.
Die deutsche Orthographie nimmt eine Mittelstellung zwischen den historischen und den phonetischen Orthographien ein. Wäre die Rechtschreibung für die “Schwierigkeit” einer Sprache ausschlaggebend, so müßte Deutsch immerhin als “leichter” angesehen werden als Englisch. Das ist aber mitnichten der Fall. Wenn ich mit Ausländern über dieses Thema spreche, stellt sich immer wieder heraus, daß das Deutsche allgemein als “Spitzenreiter” der schwierigen Sprachen gilt. Wenn ich dann frage, was beim Deutschlernen so außergewöhnlich schwer fällt, ähneln sich die Antworten: An erster Stelle wird meist das völlig willkürliche, jeder Logik widersprechende grammatische Geschlecht genannt, sodann die gelegentlich atemberaubende Textfülle, die zwischen den Bestandteilen einer trennbaren Verbzusammensetzung untergebracht werden kann. Große Mühe bereitet auch die “Polysemie” (= Bedeutungsvielfalt) zahlreicher Wörter. Für einen deutschen Muttersprachler ist es nichts Außergewöhnliches, daß “eintreten” folgende Bedeutungen hat: einen Raum betreten, Mitglied werden, eine Tür gewaltsam mittels der Füße öffnen, etwas befürworten, jemanden fördern, sich (erwartungsgemäß) ereignen. Darf man sich darüber wundern, daß ein marokkanischer Student seine liebe Not damit hat, in einem Einzelfall die passende Bedeutung herauszufinden?
Für Schüler und Studenten ist es einerseits vorteilhaft, daß sie häufig die Gelegenheit haben, eine Fremdsprache nicht nur durch “Pauken”, sondern auch im persönlichen Umgang zu erlernen. Das hat aber, gerade auch in Deutschland, seine Tücken. Es gibt nämlich in Deutschland, trotz des allmählichen Aussterbens der Dialekte, weitverbreitete Abweichungen von der Standardaussprache. Das betrifft besonders die Vokallänge, die Aussprache des auslautenden "g", des kurzen "i" sowie der e-Laute und der s-Laute. Ein langes “ä” ist in Teilen Deutschlands (Berlin!) so gut wie unbekannt, mancherorts werden langes e und langes ä vertauscht. Deshalb gibt es in Teilen Westfalens und Niedersachsens “ärstklassigen Keese”! Für bedauerlich halte ich es, daß sich sogar Rundfunk- und Fernsehsprecher oft ihrer regionalen Sprechweise bedienen. Die Lottozahlen “ohne Gewehr” sind anscheinend nicht totzukriegen. .
All diese Schwierigkeiten können durch keine, wie auch immer geartete Sprachreform beseitigt werden .Die Heysische s-Laut-Schreibung behebt gerade mal in einer überschaubaren Zahl von Fällen die Unsicherheit, ob der vor einem s-Laut stehende Vokal lang oder kurz ist. Diese marginale Erleichterung wird derart hochgejubelt, als sei das Rad neu erfunden worden.
Ich halte das - gelinde gesagt - für lächerlich. |
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