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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Samstag, 31. Jan. 2004 18:55 Titel: Bayerische Staatszeitung |
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Wird der Bock als Gärtner nun Gartenbaudirektor?
Neue Rechtschreibung: Der Grammatikfehler wird Gesetz – Reformkommission soll das „Duden-Privileg“ erben
Die Chuzpe ist bewundernswert, und die Geheimhaltungsstrategie hat diesmal funktioniert. Wenn am 5. Februar die Amtschefskommission der Kultusministerkonferenz das ihr vorliegende Beschlußpapier erwartungsgemäß abnickt, ist nicht nur die fatale Rechtschreibreform mit minimalen Detail-Nachbesserungen unabänderlich festgeschrieben, sondern die Urheber und Betreiber der Reform sind für vorerst ewige Zeiten als oberste Entscheidungsinstanz für Rechtschreibfragen installiert. Die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung nämlich, durchweg mit Reformverfechtern besetzt und bisher nur für die Übergangszeit mit nachbessernder Begleitung des Reformprozesses betraut, hat in ihrem noch geheimen vierten Bericht an die Kultusminister vorgeschlagen, ihr die Aufgaben zu übertragen, die früher die Dudenredaktion wahrgenommen hat, und sie dauerhaft zur Änderung von Regeln und Schreibweisen zu ermächtigen. Lediglich bei „Änderungen von grundsätzlicher Bedeutung“ wie etwa einer Einführung der Kleinschreibung von Substantiven (diese Möglichkeit wird ausdrücklich genannt) sollen ihre Vorschläge der Billigung durch politische Instanzen bedürfen. Die Beschlußvorlage der KMK macht sich diese Forderung zu eigen. Das vielgeschmähte „Duden-Privileg“ würde damit abgelöst durch ein noch weit fragwürdigeres, nämlich umfassenderes, undurchsichtigeres und unkontrollierbareres Privileg. Die Böcke, die als untaugliche Gärtner den Garten verwüsten durften, sähen ihr Werk belohnt durch Aufstieg in die oberste Gartenbaudirektion.
(Hans Krieger)
Bayerische Staatszeitung, Ausgabe 5 vom 30.01.2004 – Kultur Aktuell
www.bayerische-staatszeitung.de/index.jsp?MenuID=9&ArtikelID=1361
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Anmerkungen:
Die Bayerische Staatszeitung respektiert die herkömmliche Rechtschreibung des Autors. Hans Krieger, freier Journalist, war bis Juli 1998 Ressortleiter Kultur der Bayerischen Staatszeitung. Er ist Präsident der Stiftung zur Förderung des Schrifttums e.V., München. Sie vergibt den Friedrich-Merker-Preis und den Silbergriffel.
Hans Krieger: Der Rechtschreib-Schwindel. Zwischenrufe zu einem absurden Reformtheater, St. Goar: Leibniz-Verlag, Matthias Dräger, 1998.
Bayerische Staatszeitung
Allgemeine Informationen
Die „Bayerische Staatszeitung und Bayerischer Staatsanzeiger“ wird herausgegeben von einer Verlagsgemeinschaft zwischen dem Süddeutschen Verlag und dem Münchner Zeitungsverlag auf Grund eines Vertrages mit dem Freistaat Bayern.
Die Bayerische Staatszeitung spiegelt das politische, kulturelle und wirtschaftliche Leben in Bayern und würdigt die auf Bayern einwirkenden Kräfte. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei u. a. auf den Themenbereichen „Planen und Bauen“, sowie der Kommunalberichterstattung. Mit der Bayerischen Staatszeitung erscheinen monatlich regelmäßig die Redaktionsbeilagen „Unser Bayern“, „Der Staatsbürger“ sowie „Aus dem Maximilianeum“.
Erscheinungsweise und Verbreitungsgebiet
Die Bayerische Staatszeitung und Bayerischer Staatsanzeiger erscheint einmal wöchentlich am Freitag im Verbreitungsgebiet Bayern.
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· Bürger und Behörde
http://www.bayerische-staatszeitung.de/index.jsp?MenuID=41&AusgabeID=0&ArtikelID=0
Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Sonntag, 24. Okt. 2004 22:07, insgesamt 5mal bearbeitet |
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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Freitag, 13. Feb. 2004 21:23 Titel: „Rückkehr zur Vernunft“ |
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<b>„Rückkehr zur Vernunft“
„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“</b>
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Mit diesen Worten beginnt <b>Immanuel Kant</b> seine Schrift „Was ist Aufklärung?“ - Zu diesem Mut ruft Hans Krieger die Kultusminister in einem Leitartikel der Bayerischen Staatszeitung auf Seite 1 auf.
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<b>Die Chance der Kultusminister</b>
Hans Krieger über einen Ausweg aus der Rechtschreibmisere
Welcher Kultusminister, der seinen Amtseid ernstnimmt, könnte dies noch verantworten? Seit Jahren dürfen dubiose Experten im ministeriellen Auftrag wie Elefanten durch den Porzellanladen der deutschen Sprache trampeln und den hinterlassenen Scherbenhaufen als Wunderwerk reformerischer Neuordnung ausgeben. Welcher Kultusminister kann es verantworten, daß ein Elefantenrudel mit der Oberaufsicht über die Porzellanläden betraut wird? Welcher Kultusminister will es verantworten können, daß Schüler vom übernächsten Schuljahr an dafür bestraft werden, wenn sie nach dem unversehrten Geschirr verlangen und das mutwillig zerbrochene verschmähen?
Diese Rechtschreibreform, begonnen mit dem Versprechen, für Regelklarheit und Schreibsicherheit zu sorgen, hat ein orthographisches Chaos herbeigeführt, wie es seit mehr als 100 Jahren nicht mehr vorstellbar war. Und jeder der Nachbesserungsversuche, mit denen die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung an den Laufmaschen des haltlosen Gewebes herumfädelt, hat die Verwirrung vermehrt. Weit schlimmer aber ist: die Reformer haben nicht nur Schreibweisen geändert, sondern die deutsche Wortbildung umgekrempelt und die Logik der Grammatik teilweise außer Kraft gesetzt. Sie dekretieren eklatant ungrammatische Schreibungen (wie „so Leid es mir tut“) und verbieten rückwirkend wie vorbeugend, was zu den pragmatischen Vorzügen und Kreativitätspotentialen der deutschen Sprache gehört: die Bildung von Zusammensetzungen wie „sogenannt“, „nichtssagend“, „wohlverstanden“, „kennenlernen“ oder „heiligsprechen“.
Solche Eingriffe in die Substanz der Sprache gehen weit über das hinaus, wozu eine Orthographiekommission ermächtigt sein kann, und wären nicht einmal bei Einhaltung der demokratischen Spielregeln, also Einschaltung des Gesetzgebers zu rechtfertigen. Leider war das Bundesverfassungsgericht zu opportunistisch oder nicht klärungswillig genug, um dies bemerken zu wollen. Nicht nur die Zukunft der Sprachkultur ist damit gefährdet. Der blinde Änderungseifer trifft auf einen Lebensnerv der Demokratie. Denn in der Sprache finden alle politischen Auseinandersetzungen, alle parlamentarischen Klärungs- und Entscheidungsprozesse statt, und Entdifferenzierung der Sprache kann nicht ohne Auswirkung auf die Genauigkeit des Denkens bleiben. Die Anordnung grammatikwidriger Schreibungen und die Beseitigung historisch gewachsener schriftsprachlicher Ausdrucksnuancen höhlt elementare Freiheitsrechte aus.
In ihren Berichten an die Kultusminister betreibt die Zwischenstaatliche Kommission verschleierte Selbstdemontage. Unvergessen ist ihr Eingeständnis im dritten Bericht von 2002, einige der neuen Regeln seien „nicht sehr explizit“ formuliert gewesen, eine sei sogar „nirgendwo explizit vorgeführt“ worden und habe aus Eintragungen im Wörterverzeichnis „rekonstruiert“ werden müssen. In ihrem vierten und abschließenden Bericht, den soeben die Amtschefkommission der Kultusministerkonferenz diskutiert und mit spitzen Fingern an die Minister weitergereicht hat, macht die Kommission bei der Getrenntschreibungspflicht einen halben Rückzieher: in einigen Ausnahmefällen wird die seit 1996 strikt verpönte Zusammenschreibung wahlweise wieder zugelassen – mit der Begründung, daß in diesen Fällen „Univerbierung zu beobachten“ sei. Univerbierung aber, Verschmelzung zweier Wörter zu einem, liegt allen vor der Reform üblichen Zusammenschreibungen zugrunde; der Zwang zur Getrenntschreibung war ein Univerbierungsverbot. Die Rehabilitierung der Univerbierungen kann aus Gründen der Logik wie der Regelverläßlichkeit nicht selektiert sein, denn das wäre Willkür, sie gilt ganz oder gar nicht. Die zwingende Konsequenz aus dem halben Zugeständnis wäre das ganze: alle frühe üblichen Zusammenschreibungen sind wieder gültig.
Unmißverständlich klar wird hier, wie irreführend der Anspruch der Reformer war, der Rechtschreibung eine konsistente Regelsystematik gegeben zu haben. Das Gegenteil ist richtig: die Zahl der Ausnahmen und Einzelfallentscheidungen war schon in der amtlichen Neuregelung von 1996 größer als in der angeblich so widerspruchsreichen alten Schreibung, und mit jeder Nachbesserung wächst sie weiter an. Der Plan, die Zwischenstaatliche Kommission dauerhaft zur orthographischen Zentralinstanz mit unkontrollierter Regelungsgewalt zu machen, die uns jederzeit die „Pitza“, die „Obergine“ oder den „Filosofen“ verordnen könnte, ist immerhin vorerst aufgegeben worden. Es dürfte aber zur Fürsorgepflicht der Kultusminister gehören, ein paar ältere Herren, die von der Sache wenig verstehen und mit der Logik wie mit der Redlichkeit ernste Probleme haben, vor weiterer Überforderung zu bewahren, die Kommission also sofort zu entlassen.
Der frühere bayerische Kultusminister Hans Zehetmair hat vor dem Ausscheiden aus dem Amt öffentlich erklärt, mit der Einführung der Rechtschreibreform habe der Staat sich Kompetenzen angemaßt, die ihm nicht zustehen. Die Konsequenz aus dieser Einsicht ist nun zu ziehen. Für die Folgeschäden der Anmaßung tragen die Kultusminister die Verantwortung. Diese Verantwortung gebietet tatkräftige Behebung des Schadens.
Den Ausweg aus der Misere aber hat die Kommission, ohne es zu wollen, in ihrem jüngsten Bericht vorgezeichnet. Die halbherzige Anerkennung der Zweckmäßigkeit von Univerbierungen muß in eine generelle und umfassende verwandelt werden. Damit wäre die gesamte Neuregelung für Gesamt- oder Zusammenschreibung gekippt bzw. auf ein Angebot von Wahlmöglichkeiten reduziert. Und weil, logisch gesehen, die Wiederherstellung der Univerbierungen implizit den herkömmlichen Schriftgebrauch als solchen als sinnvoll und zweckmäßig rehabilitiert, ist eine weitere Folgerung eigentlich zwingend: alle vor der Reform üblichen Schreibungen werden als zulässige Varianten wieder gültig. Dies läuft auf eine Verlängerung der Übergangszeit hinaus: die Koexistenz zweier Rechtschreibungen, die wir zur Zeit haben, wird über 2005 hinaus vorläufig, aber unbefristet fortgeführt. Eine spätere Zeit mag dann auf breiterer Erfahrungsbasis eine weise Entscheidung fällen.
Eleganter wäre ein anderer Weg: die zuletzt im Duden von 1991 kodifizierte alte Schreibung wird wieder zur Norm, die Reformschreibung von 1996 bleibt aber für eine großzügig bemessene Übergangszeit ebenfalls zulässig und wird nicht als fehlerhaft gewertet. Der Aufwand für diese Rückkehr zur Vernunft – die keine Rückkehr, sondern ein befreiender Schritt nach vorne wäre – ist minimal. Außer Rechtschreibwörterbüchern müßte kein einziges Buch aus dem Verkehr gezogen und neu gedruckt werden. An neuen Wörterbüchern aber führt ohnehin kein Weg vorbei. Die Nachbesserungen im vierten Bericht der Kommission, euphemistisch „Präzisierungen“ genannt, zwingen zu ungefähr 3000 modifizierten Eintragungen. Und wer wollte verantworten, daß ab August 2005 einem Schüler nur darum Fehler angestrichen werden, weil in keinem Wörterbuch nachzulesen war, daß etliche 1996 verbotene Schreibweisen seit 2004 wieder zulässig sind?
Als maßgebliches Nachschlagewerk könnte zunächst einfach der Duden von 1991 reaktiviert werden. Seine „Unstimmigkeiten“ sind quantitativ so geringfügig und qualitativ so harmlos, daß ihre behutsame Behebung ohne Schaden bis zur nächsten Auflage vertagt werden kann. Es handelt sich im übrigen so gut wie ausnahmslos um Unstimmigkeiten nicht des Regelwerks, sondern der Darstellung im Wörterbuch; die strikte Unterscheidung von „radfahren“ gegen „Auto fahren“ zum Beispiel (um das bekannteste Beispiel zu zitieren) war durch die Regel nie gedeckt. Mit kleinen Nachjustierungen und Aktualisierungen könnte entweder die Dudenredaktion oder eine unabhängige Kommission beauftragt werden.
Dieser Ausweg aus nun bald achtjähriger Verwirrung kostet fast gar nichts – außer ein bißchen Mut und Entschlußkraft. Die Kultusminister, die sich im März mit dem Thema befassen, haben eine großartige Chance, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und den Ruf loszuwerden, fahrlässige Zerstörer der Sprachkultur zu sein.
Bayerische Staatszeitung - Ausgabe 7 vom 13. Februar 2004, S. 1 - Aktuell
www.bayerische-staatszeitung.de/index.jsp?MenuID=99&ArtikelID=1415
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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Samstag, 10. Jul. 2004 19:43 Titel: Nur die Rückkehr zum Bewährten schafft Klarheit |
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Nur die Rückkehr zum Bewährten schafft Klarheit
Gefordert sind die Ministerpräsidenten und die Parlamente
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Mit Wulff zurück nach vorne
Die bewährte Rechtschreibung ist modern
Hans Krieger schreibt in seinem Essay: Die Kultusminister haben versagt; gefordert sind nun die Ministerpräsidenten, gefordert sind die Parlamente.
Die Kultusminister haben den Mut nicht aufgebracht, das Scheitern der Rechtschreibreform einzugestehen und das verfehlte Experiment abzublasen. Sie haben statt dessen verfügt, daß an den Schulen ab August 2005 eine höchst konfuse „Reformschreibung“ als allgemein verbindlich durchzusetzen ist, die das Rad der Sprachentwicklung rückwärts gedreht und die deutsche Wortbildungsgeschichte umgekrempelt hat und obendrein zu zahllosen Grammatikverstößen zwingt. Daß nun die Ministerpräsidenten dafür sorgen müssen, den Unfug zu beenden und eine Verhunzung der Sprache abzuwehren, meint einer von ihnen, der niedersächsische Regierungschef Christian Wulff (CDU), und in seinem saarländischen Kollegen Peter Müller hat er bereits einen Mitstreiter gefunden. Eine Aufhebung der Rechtschreibreform durch die Parlamente haben zugleich fast 60 Professoren der Rechtswissenschaft in einer Petition gefordert.
Das Thema steht damit wieder auf der politischen Agenda, von der es die Kultusminister gerade endgültig abgeräumt zu haben schienen. Es verlangt nun nach tatkräftigen Entscheidungen, die einen unerträglichen Zustand beenden und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik wiederherstellen. Ob nun die Ministerpräsidentenkonferenz ein Umsteuern einleitet oder Länderparlamente den Ausstieg aus der Reform beschließen - die Tatkraft wird belohnt werden, denn nur 13 Prozent der Bevölkerung heißen die Rechtschreibreform gut. Ein Zurückweichen vor innovationsscheuer Trägheit wäre ein Abbruch der mißlungenen Reform allerdings nicht. Es wäre ein mutiger Schritt nach vorne, mit dem erreicht würde, was die Rechtschreibreform vergeblich anstrebte: eine nicht nur einheitliche, sondern zweckmäßige, vernünftig differenzierte, also zeitgerecht moderne Regelung der Orthographie.
Wir haben eine solche zweckmäßige Orthographie gehabt; sie hatte sich bewährt - trotz minimaler Mängel, die teils unvermeidlich sind, weil Sprache als etwas Lebendiges nicht lückenlos regulierbar ist, teils ohne den Radikaleingriff einer „Reform“ mit behutsamen Retuschen zu beheben gewesen wären. Von vielleicht wohlmeinenden, aber eitlen Reformeiferern haben wir uns beschwatzen lassen, mit einem Gewaltakt umzukrempeln, was die Sprachweisheit vieler Generationen geschaffen hatte. Das konnte nicht gut gehen und ist nicht gut gegangen. Die angestrebte Erleichterung des Schreibenlernens wurde nicht erreicht, sondern uferlose Verwirrung trat ein.
Die neuen Regeln sind nicht einfacher zu begreifen als die alten; sie sind spitzfindiger und widersprüchlicher und weitgehend überhaupt nicht zu verstehen. Die völlig willkürlichen neuen Regeln für Getrennt- oder Zusammenschreibung haben viele Hunderte von Wörtern aus dem Sprachschatz getilgt; dies bedeutet den Verlust von Bedeutung, Unterscheidungen und damit Entdifferenzierung des schriftsprachlichen Ausdrucks, also kulturelle Regression. Und die Verpflichtung zu ungrammatischen, also sprachwidrigen Schreibungen gefährdet langfristig Fundamente des Sprachbewußtseins. Alle Versuche aber, durch punktuelle Nachbesserungen die gravierendsten Mängel zu beheben, haben das Chaos nur vermehrt. Niemand kennt sich mehr aus, niemand weiß, welches der einander widersprechenden Wörterbücher maßgeblich ist.
Reformbereitschaft zeigt sich in einer solchen Situation nicht im Festhalten am nachweislich falschen Weg nach dem Motto „Augen zu und durch“. Wer die Rechtschreibreform beibehalten will, entscheidet sich für den sprachkulturellen Rückschritt. Er tritt für Verunsicherung beim Schreibenlernen ein, für Erschwerung des Lesens, für den Abbau der Ausdrucksdifferenzierung und für die systematische Demontage des Sprachgefühls. Er erklärt sich für die Mißachtung des Volkswillens, auch für die Mißachtung des Deutschen Bundestages, der vor sechs Jahren in einem überparteilichen Beschluß verkündet hat: „Die Sprache gehört dem Volk.“ 1996, als die Einführung der Rechtschreibreform beschlossen wurde, war es noch möglich, guten Gewissens für sie einzutreten, denn die Folgen waren für den Nichtfachmann noch kaum erkennbar. Heute liegen die Folgen vor aller Augen; ein Festhalten an der Reform ist nicht mehr zu verantworten. Wahre Reformbereitschaft zeigt sich in dem Willen, aus Fehlern zu lernen: sie zeigt sich in der Umkehr, im Vorwärtsschritt zu dem als besser längst Bewährten.
Zu verantworten ist ein Festhalten an der Rechtschreibreform nicht einmal vor jenen Schulkindern, die seit 1996 den Neuschrieb lernen mußten: sie dürfen nicht zu Geiseln werden, mit denen die Betreiber der mißratenen Reform die Sprachgemeinschaft erpressen. Kindern fällt das Umlernen nicht schwer; ich sage das als Angehöriger einer Generation, die im Grundschulalter von Sütterlinschrift auf lateinische Schrift problemlos umlernte. Für die jüngeren Kinder ist nur ein sehr geringer Teil ihres Wortschatzes von der Umorientierung betroffen, und die etwas älteren begegnen ohnehin Texten, die nicht in Reformschreibung gedruckt sind. Und alle erhalten eine wunderbare Gelegenheit, die Vorzüge gelobter Demokratie zu erfahren: das als falsch Erkannte kann geändert werden und wird geändert.
Und am Umlernen führt ohnehin kein Weg vorbei. Es findet ständig statt - nur eben nicht als ein Umlernen auf wieder klare Verläßlichkeiten, sondern zu wachsender Unsicherheit und Beliebigkeit. Der Duden-Auflage von 2000 ist eine andere Orthographie zu entnehmen als der von 1996; beide sind an den Schulen zugelassen. Die von der Kultusministerkonferenz abgesegneten Reform-Nachbesserungen, die die nun abgetretene Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung kürzlich in ihrem vierten und letzten Arbeitsbericht empfohlen hat, zwingen zur Änderung von mehreren tausend Wörterbucheinträgen. Und was ist, wenn in fünf Jahren der neue „Rat für Rechtschreibung“ seine Änderungsvorschläge präsentiert? Es bleibt eine ewige Flickschusterei mit endlosen Nachkorrekturen und endlosem Neulernen. Nur die rasche Rückkehr zum Bewährten schafft Klarheit mit vertretbarem Aufwand. Die Mehrheit der Lesenden und Schreibenden fühlt sich ohnehin in der „alten“ Schreibung zuhause, die anderen werden schnell und mit wenig Mühe in ihr heimisch, und nach einer großzügig bemessenen Übergangsphase, in der selbstverständlich die Reformschreibung nicht als falsch gewertet werden darf, ist das ganze heutige Schreibchaos eine Schauermär aus vergangenen Tagen.
Auch die Kosten brauchen nicht zu schrecken. Sofort erneuert werden müssen lediglich die Wörterbücher, und da darf man die Lexikonverlage durchaus ein wenig in die Pflicht nehmen, denn sie haben an der von ihnen mitinszenierten jahrelangen Unsicherheit kräftig verdient und zum Teil auf eine Weise verdient, die man schamlos nennen darf. Bei allen übrigen Büchern, auch Schulbüchern, kann die Umstellung bis zum Fälligwerden einer Neuauflage aufgeschoben werden. Die vorübergehe[nde] Koexistenz unterschiedlicher Orthographien kann nicht verwirrender sein als das Rechtschreibchaos, das heute der tägliche Blick in die Zeitung offenbart. Der niedersächsische Ministerpräsident hat ein Signal zur Umkehr gesetzt. Bayern mit seiner reichen literarischen Tradition, seiner dominierenden Position im Buchmarkt, seinem weithin noch intakten Wertebewußtsein und seiner wohlbegründeten Treue zum geschichtlich Bewährten hat gute Gründe, sich ihm anzuschließen. Und es kann nur einen einzigen Grund finden, dem Beispiel nicht zu folgen: Angst vor der eigenen Courage.
Hans Krieger
Bayerische Staatszeitung, Ausgabe 28 vom 9. Juli 2004, S. 1 - Aktuell
www.bayerische-staatszeitung.de/index.jsp?MenuID=1&ArtikelID=1825 |
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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Samstag, 16. Okt. 2004 22:02 Titel: Der Wille zur Umkehr wächst |
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Der Wille zur Umkehr wächst
Vorwärts zum Bewährten: die gescheiterte Rechtschreibreform steht vor dem Aus
Hans Krieger schreibt zur Diskussion um die Rechtschreibreform: Ein Ruck ging durchs Land; es ist wie ein verspätetes Erwachen aus einem schlechten Traum. Acht Jahre nach der überstürzten Einführung der Rechtschreibreform an den Schulen und ein Jahr vor der endgültigen Besiegelung ihrer Allgemeinverbindlichkeit regt sich ein entschlossener Wille, den Unfug nicht länger hinzunehmen. Die befreiende Wirkung dieses neuen Willens zur Umkehr ist überall zu spüren.
Was alle längst wissen, wird jetzt laut gesagt: die Rechtschreibreform war so sinnvoll wie ein Schuß in den Ofen. Sie war die unzweckmäßigste Lösung für ein Problem, das es gar nicht gab, und hat Probleme geschaffen, die nur durch ihre rasche Rücknahme zu lösen sind. Dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff, der die Rückkehr zur bewährten Schreibung fordert, haben sich rasch Kollegen aus anderen Bundesländern angeschlossen, darunter als einer der ersten der bayerische Regierungschef Edmund Stoiber, und schon pflichten auch die ersten Kultusminister ihnen bei und sogar die Kulturbeauftragte der Bundesregierung. Die Kultusministerkonferenz wird sich erneut mit dem Thema befassen, ebenso die Ministerpräsidentenkonferenz, und schon scheint es nicht mehr um die Frage zu gehen, ob die Rechtschreibreform gekippt wird, sondern wann und wie dies geschieht.
In der neu entflammten Diskussion ist nirgendwo ein seriöses Argument zur Verteidigung der Rechtschreibreform zu hören. Ihren Verfechtern fällt nicht mehr ein als die Warnung vor neuer Verunsicherung und vor neuen Kosten. Gerhard Augst aber, führender Kopf der Reformbetreiber und viele Jahre Vorsitzender der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung, sagte in einem Rundfunk-Interview, dem Widerstand gegen die Rechtschreibreform gehe es gar nicht um die Sprache, sondern um Reformverhinderung als solche; wer die Rechtschreibreform ablehne, stemme sich ganz einfach gegen Veränderungen jeder Art. So kann nur reden, wer „Reform“ zum Wert an sich, zum Selbstzweck, ja zum Fetisch erhoben hat und darum nicht mehr fragen muß, ob eine konkrete Reform notwendig, sinnvoll und zweckdienlich ist oder nicht.
Reformen werden nötig, wenn die bisherigen Lösungen für bekannte Probleme nicht mehr befriedigen und durch bessere ersetzt werden müssen, oder wenn neuartige Probleme nach angemessenen Lösungen verlangen. Das Problem der Rechtschreibung ist, daß klare Regeln nötig sind, damit der Leser sicher und genau versteht, was gemeint ist, aber jede Regel auch falsch angewendet werden kann. Die reformierte Orthographie hat dieses Problem nicht besser, sondern schlechter gelöst als die herkömmliche: Schüler machen nicht weniger, sondern mehr Fehler, in Druckerzeugnissen herrscht ein Pluralismus der Schreibungen wie seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht mehr, und der Leser kommt ins Stolpern, weil wichtige Bedeutungsunterscheidungen verlorengingen. Zugleich tauchten neuartige Probleme auf, deren Lösung die Rechtschreibreform nicht sein kann, weil sie die Ursache ist: der Getrenntschreibungszwang machte Wortbildungsprozesse rückgängig und beseitigte Wörter, und viele neuen Schreibungen verstoßen gegen die Grammatik.
Das Festhalten an einer verpfuschten Reform verhindert die bessere Lösung und damit den Fortschritt. Es blockiert die zweckmäßige Reform und bringt den Reformwillen in Mißkredit. Wenn Jens Jessen in der „Zeit“ behauptet, gegen die Reform spreche lediglich die Bequemlichkeit einer Generation, die nicht umlernen wolle, stellt er die Wahrheit auf den Kopf. Das Gegenteil ist richtig; für die Rechtschreibreform spricht lediglich die Bequemlichkeit derer, die uns das Schlamassel eingebrockt haben und die einzig vernünftige Konsequenz aus dem offenkundigen Scheitern nicht ziehen wollen.
Wir haben uns auf ein Reformabenteuer eingelassen, das gründlich danebenging. Aber der Mensch ist frei; er muß nicht „B“ sagen, weil er „A“ gesagt hat. Wir haben Lehrgeld gezahlt für einen Irrweg, aber wir müssen uns nicht dazu verurteilen, jahrzehntelang weiter Lehrgeld zu zahlen. In Kürze erscheint ein neuer Duden: er wird ein paar tausend Veränderungen gegenüber dem Reform-Duden des Jahres 2000 bringen, der dem Reform-Duden von 1996 vielfach widersprach. Und so wird das endlos weitergehen, weil ein Systemfehler nicht durch Einzelkorrekturen zu beheben ist. Die Verunsicherung wird zum Dauerbegleiter, und sie wird wachsen, bis wir alle uns in unserer Sprache nicht mehr auskennen und kein Gefühl für das Richtige mehr haben.
Die Rückkehr zur bewährten und fast allen noch vertrauten Schreibung verunsichert allenfalls im Augenblick der Umstellung und führt rasch zu klaren Verhältnissen. Durch eine großzügige Übergangsfrist lassen sich die Kosten der Umstellung sehr gering halten, geringer als die Kosten permanenter Nachbesserungen der Reform.
Ein wichtiges Signal kann die Presse setzen. Sie hat sich 1999 allzu anpassungsbereit einer Reform gebeugt, die das journalistische Handwerkszeug versaut und die Ausdrucksvielfalt beschneidet. Tut die Presse jetzt, was ihre Leserschaft erwartet und das journalistische Berufsethos fordert, kehrt sie also zur bewährten Schreibung zurück, so macht sie den Politikern Mut zum befreienden Schritt nach vorne und trägt das Ihre dazu bei, daß Rechtschreibung wieder so nebensächlich werden kann, wie sie eigentlich ist.
Bayerische Staatszeitung, Ausgabe 32/2004 vom 06.08.2004
www.bayerische-staatszeitung.de/index.jsp?MenuID=84&AusgabeID=0&ArtikelID=1896&RubrikID=1 |
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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Sonntag, 24. Okt. 2004 21:27 Titel: „Akzente, die meine Zeit überdauern“ |
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„Akzente, die meine Zeit überdauern“
Minister Hans Zehetmair blickt auf eine 17jährige Amtszeit zurück
Von Hans Krieger
Es gab auch Niederlagen und Fehlentscheidungen, und die ärgste und schmerzhafteste war die widerwillig gegebene Zustimmung zur Rechtschreibreform. Zehetmair ist viel zu sprachbewußt, um sie gutheißen zu können, sah aber angesichts massiven Druckes keine Chance, sie zu verhindern. Immerhin war er es, der im letzten Augenblick noch entscheidende Verbesserungen durchdrückte [. . .]. Daß unter den Reformauswüchsen, die Zehetmair verhinderte, auch die Kleinschreibung des „Heiligen Vaters“ war, hat mit katholischer Glaubenstreue nicht das geringste zu tun; die Großschreibung ist ein zwingendes Gebot der sprachlichen Logik. Welches Chaos die Rechtschreibreform in der Getrennt- bzw. Zusammenschreibung anrichten würde [. . .], konnte Zehetmair 1995 ebenso wenig voraussehen wie irgend jemand sonst. Die Reformer selbst hatten eingeräumt, daß die genauen Auswirkungen der neuen Regelkonstruktion sich erst bei der Erarbeitung der neuen Wörterbücher herausstellen würden, und die lagen erst im Spätsommer 1996 vor. Noch einmal hat Zehetmair erwogen, das Ganze zu kippen, aber er glaubte [. . .] nicht recht, daß er es „im Kreuz“ hätte, das durchzustehen. Das war wohl sein Irrtum; Zehetmair hätte es „im Kreuz“ gehabt. Heute sagt er unumwunden: „Wir hätten die Rechtschreibreform nicht machen dürfen.“ Sprache sei ein dynamischer Prozeß, und niemals dürfe die Politik sich anmaßen, hier mit Dekreten einzugreifen.
Bayerische Staatszeitung Nr. 28 vom 11. Juli 2003, S. 13 – Kultur
Auszug aus: Hans Krieger: „Akzente, die meine Zeit überdauern“, Minister Hans Zehetmair blickt auf eine 17jährige Amtszeit zurück. In: Bayerische Staatszeitung Nr. 28 vom 11. Juli 2003, S. 13 – Kultur (2.212 Wörter) |
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Manfred Riebe
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: Sonntag, 12. Dez. 2004 21:56 Titel: Zehetmairs Mut und Chance |
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Zehetmairs Mut und Chance
Der Ex-Kultusminister soll den Rechtschreib-Frieden stiften
Von Hans Krieger
Großes hat Hans Zehetmair sich vorgenommen als designierter Vorsitzender des Rates für deutsche Rechtschreibung, der in der kommenden Woche konstituiert werden soll. Er will der im Volk und noch mehr bei den Intellektuellen verhaßten Rechtschreibreform „die schlimmsten Zähne ziehen“, wie er in einem Zeitungsinterview sagte, und damit „die Gesellschaft mit der Reform versöhnen“. Und er will die Aufgabe in zügigem Tempo angehen, damit bis August 2005, wenn die Übergangsfrist endet und die Reformschreibung verbindlich wird, eine „konsensfähige Lösung“ auf dem Tisch liegt.
Hans Zehetmair weiß, worauf er sich einläßt. Er weiß, daß es nicht nur um die Konservierung eines Traditionsschatzes geht, sondern um die Bewahrung des Kulturgutes Sprache vor dauerhaften Substanzschäden. In einem programmatischen Aufsatz für die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat Zehetmair diese Schäden klar benannt: Durch den Reformzwang zu forcierter Getrenntschreibung gehen unerläßliche semantische Differenzierungen verloren, und die Ausdrucksvielfalt wird geschmälert; die Lockerung der Interpunktionsregeln schwächt die Deutlichkeit des Satzbaus; die Beliebigkeit sprachwidriger Silbentrennung beeinträchtigt die Genauigkeit beim Lesen und Schreiben und damit beim Denken; die Germanisierung von Fremdwörtern mindert die internationale Anschlußfähigkeit des Deutschen im Zeitalter der Globalisierung.
Nahezu alle Kernpunkte der Reformkritik sind in diesem Katalog nicht nur aufgelistet, sondern in ihrem Zusammenhang erkannt und in ihrer Bedeutung für die Sprachkultur und die gesellschaftliche Kommunikation verstanden. Wichtig ist Zehetmair der Hinweis, daß mangelnde sprachliche Genauigkeit zur Ungenauigkeit des Denkens führt. Mit einem ausdrücklichen Verweis auf die schlechten Leistungen deutscher Schulkinder im verstehenden Erfassen von Texten bei der Pisa-Studie unterstreicht Zehetmair die Dringlichkeit der Abhilfe. Und nur ein wichtiger Punkt fehlt in seiner Aufzählung der „schlimmsten Zähne“: Beseitigt werden müssen auch die grammatikwidrigen Schreibungen, weil sie langfristig die Fundamente des Sprachverständnisses aushöhlen. Dazu gehören nicht nur Schreibungen wie „so Leid es mir tut“ (laut Duden 2004 nicht mehr zwingend geboten, aber zulässig) oder „wie Recht du doch hast“, sondern auch die Großschreibung adverbialer Wendungen wie „morgen Abend“, „im Übrigen“ oder „des Weiteren“, und Binnen-Großschreibungen wie „der 81-Jährige“.
Wer die Fehler der Reform so exakt benennen kann wie Hans Zehetmair, weiß natürlich auch, daß es sich nicht um vereinzelte Ausrutscher, sondern um systemische Mängel handelt, denen mit punktueller Nachkorrektur nicht beizukommen ist. Der Prozeß der Reform der Reform, der mit der Neuauflage des Duden vom August 2000 begann und mit der jüngsten Duden-Auflage vom Herbst 2004 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, hat klar vor Augen geführt, daß ohne Preisgabe der reformerischen Regelsystematik nur Flickschusterei möglich ist, die jede Verbesserung im Detail mit noch größerer Undurchschaubarkeit des Ganzen bezahlt. Der Wirrwarr in der Getrennt- oder Zusammenschreibung etwa kann nur behoben werden, wenn sämtliche vor der Reform übliche Zusammenschreibungen wieder zur Regelschreibung werden, also der Status quo ante wiederhergestellt wird; da die Reform die Sprachentwicklung um fast 200 Jahre zurückgedreht hat, wäre dies kein „Salto rückwärts“, sondern ein Schritt nach vorne. Auch der Rat für deutsche Rechtschreibung kann nur das Chaos vermehren, wenn er die Reform nicht grundsätzlich in Frage stellen und die seit 1996 erschienenen Wörterbücher nicht ungültig machen darf.
Versucht Zehetmair das Unmögliche? Vielleicht ist er der einzige, der überhaupt noch etwas bewegen kann. Er hat früh opponiert und dabei Unerschrockenheit vor Wirtschaftsinteressen bewiesen, die Reform dann als Kultusminister loyal mitgetragen, aber zuletzt als einziger öffentlich eingestanden, daß und warum sie ein unverzeihlicher Fehler war. Und als Elder Statesman ist er mit Karriererücksichten nicht mehr erpreßbar. Freilich steht er einem Gremium vor, das mit vorgesehenen 36 Mitgliedern viel zu schwerfällig ist; bei vielen Mitwirkenden sind zudem die standespolitischen und wirtschaftlichen Interessen klarer erkennbar als die Sachkompetenz. Schon Zehetmairs Vorsatz, den Schriftstellerverband PEN und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ins Boot zu holen, dürfte nur dann Erfolgsaussichten haben, wenn eine veränderte Zusammensetzung des Rates den Reformkritikern echte Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.
Zehetmair hat nur dann eine reelle Chance, wenn er aufs Ganze geht. Das heißt: wenn er darauf besteht, es nicht bei einer Schönheitsoperation zu belassen, sondern das Übel an der Wurzel zu packen. Nur dann läßt das immer noch mögliche Scheitern sein Prestige unbeschädigt: Er hat sein Bestes getan. Die Richtung hat er mit dem Satz gewiesen, wir hätten jetzt zu einer einheitlichen Rechtschreibung „zurückzukehren“. Geht er den bequemeren Weg der kleinen Anpassungen, so ist ihm ein klägliches Scheitern gewiß. Durch den Scheinerfolg einer Minimalkorrektur wird niemand sich täuschen lassen; Zehetmair stünde da als einer, der sich dazu hergab, mit taktischen Winkelzügen lediglich der Reformkritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Rechtschreibfrieden ist so nicht wiederzugewinnen. Versöhnung, Zehetmairs großes Ziel, setzt Wahrhaftigkeit voraus. Das heißt als erstes: Den Reformkritikern muß mehr eingeräumt werden als eine Feigenblattfunktion. Zu Zugeständnissen werden gewiß auch sie bereit sein, wenn restlos alles zurückgenommen wird, was die Sprache in ihrer Substanz beschädigt. Ein eleganter Ausweg aus der Sackgasse steht immer noch offen.
Bayerische Staatszeitung Ausgabe 50 vom Freitag, 10. Dezember 2004
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Anmerkungen:
Keine Märchen mehr! - „Versöhnung setzt Wahrhaftigkeit voraus.“
Wozu wurde der Münchner Rat gegründet?
Interessant ist: Der Vorsitzende des „Rates für deutsche Rechtschreibung e.V.“, München, Hans Krieger, - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=1918#1918 - schreibt über den künftigen Vorsitzenden des „Rates für deutsche Rechtschreibung“ der KMK, Hans Zehetmair: www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?t=449 -. Krieger gibt sich aber nicht als Vorsitzender des „Rates für deutsche Rechtschreibung e.V.“, München, zu erkennen.
Krieger schreibt: „Versöhnung, Zehetmairs großes Ziel, setzt Wahrhaftigkeit voraus.“ Dazu gehört aber auch die ganze Wahrheit. Rechtschreibfrieden ist mit halben oder Dreiviertel-Wahrheiten und Verschweigen wesentlicher Differenzen nicht zu erreichen. Adenauer sagte einmal: „Wie mein Freund Pferdmenges unterscheide ich drei Steigerungen der Wahrheit: Die einfache, die reine und die lautere Wahrheit. Ich will Ihnen jetzt die reine Wahrheit sagen.“ (Konrad Adenauer, Bundeskanzler, CDU, 1876-1967) - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?p=1706#1706
Mit der Wahrheit haben schon die Abgeordneten der großen Volksparteien im Deutschen Bundestag ihre Probleme. Parteien üben Fraktionszwang aus, indem sie sich nicht an Artikel 38 Absatz 1 Grundgesetz, die Gewissensfreiheit der Abgeordneten, halten. Die Kultusministerinnen Ahnen, Schavan, Wolff machten es noch raffinierter: Sie wirkten auf Frau Merkel ein, so daß sie einknickte. Die CDU/CSU stellte einen weichgespülten Antrag und bevormundete damit die Fraktion.
Doch immerhin bestritt ein FDP-Abgeordneter in der Debatte am 2. Dezember die Legitimität und Kompetenz des „Rates für deutsche Rechtschreibung e.V.“ („Rat“) und der (KMK): www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=2929#2929 -. Wer den „Rat“ als zuständig für die Rechtschreibung anerkennt, erkennt auch die Zuständigkeit der Kultusministerkonferenz (KMK) an. Warum schweigt Krieger dazu und zu anderem Wichtigen? Warum fordert er nicht wie die DASD eine wirkliche nichtstaatliche deutsche Instanz, die nicht mit Lobbyisten der KMK besetzt ist?
Der VRS darf keine Weichspülerei betreiben. Er hat sich an seine Satzung und seine Ziele zu halten, Klartext zu sprechen und als Opposition die einzige Alternative aufzuzeigen. Aus der Sicht des § 2 der Satzung des Vereins für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V. - Initiative gegen die Rechtschreibreform - www.vrs-ev.de/satzung.php#par_2 - gilt es, unter demokratischen, linguistischen, rechtlichen und pädagogischen Aspekten die Legitimität und Kompetenz des „Rates“ und der KMK in Frage zu stellen. Zu den rechtlichen Aspekten zählt auch die haushaltsrechtliche bzw. wirtschaftliche Frage, d.h. die Kostenfrage.
Hans Zehetmair wurde nicht von ungefähr beim Münchner Nockherberg 1997 als Märchenerzähler derbleckt. Er hätte inzwischen mit seinen früheren Märchen über die Rechtschreibreform aufräumen können und müssen, mit denen er deren Einführung durchdrückte. Die größte Sünde der Kultusminister war und ist, daß sie über die Köpfe des Volkes hinweg entschieden. „Zehetmairs Mut“? Das hieße Buße tun, umkehren auf dem falschen Weg, und Wiedergutmachung betreiben, aber keine halbherzige Umkehr mit faulen Kompromissen.
Krieger irrt, wenn er meint, Zehetmair wisse Bescheid und sei auf dem richtigen Weg. Theodor Ickler sagt ganz klar, daß Zehetmair ebenso uninformiert wie 1995 sei: www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=2886#2886 -. Ickler: „Der Spruch, eine Rückkehr sei nicht mehr möglich, könnte sich irgendwann als völlig hohl herausstellen. Leider fragt niemand scharf nach, worauf sich diese - angesichts der Springer-Umkehr besonders seltsame - Ansicht überhaupt gründet.“ www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=2902#2902 -.
Krieger schreibt: „Und nur ein wichtiger Punkt fehlt in seiner [Zehetmairs, MR] Aufzählung der 'schlimmsten Zähne': Beseitigt werden müssen auch die grammatikwidrigen Schreibungen, weil sie langfristig die Fundamente des Sprachverständnisses aushöhlen. (...) Wer die Fehler der Reform so exakt benennen kann wie Hans Zehetmair, weiß natürlich auch, daß es sich nicht um vereinzelte Ausrutscher, sondern um systemische Mängel handelt, denen mit punktueller Nachkorrektur nicht beizukommen ist. (...) Er hat sein Bestes getan. Die Richtung hat er mit dem Satz gewiesen, wir hätten jetzt zu einer einheitlichen Rechtschreibung 'zurückzukehren'.“
Krieger unterstellt Zehetmair systemische Erkenntnisse. Warum stellt Krieger dann nicht die Frage nach Präskription oder Deskription - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?t=235 -? Krieger stellt auch nicht die Frage nach der s-Schreibung, d.h. dem von Munske unterstützten und von Zehetmair gelobten DASD-Kompromiß. Krieger weißt offenbar noch nicht, daß Zehetmair eine Rückkehr zur traditionellen Orthographie strikt ausgeschlossen hat. Nur mit dieser Zusage sicherte Zehetmair seine Wahl als geeigneter Kandidat als Vorsitzender des Rates.
Krieger fordert richtig: „Den Reformkritikern muß mehr eingeräumt werden als eine Feigenblattfunktion. Zu Zugeständnissen werden gewiß auch sie bereit sein, wenn restlos alles zurückgenommen wird, was die Sprache in ihrer Substanz beschädigt. Ein eleganter Ausweg aus der Sackgasse steht immer noch offen.“
Wurde der RDR gegründet, um „Zugeständnisse zu machen? Welche „Zugeständnisse“? Das ist leider nicht konkret, sondern sehr nebulös formuliert. Krieger ist sicherlich bekannt, daß die KMK bisher keine wirklichen Reformkritiker einlud. Wozu wurde der Münchner Rat gegründet? Er sollte eine Opposition und eine Alternative zum Rat der Kultusminister sein. Man lese hierzu die Pressemitteilung des RDR anläßlich seiner Gründung: www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=1935#1935 -.
Krieger schreibt zwar von einer veränderten Zusammensetzung des KMK-Rates, aber er bietet personell keine Alternativen an, z.B. daß sein Münchner Rat die von der DASD geforderte nichtstaatliche deutsche Instanz sein könne und schweigt darüber, daß es etliche andere Sprachvereine gibt, die von der KMK bisher ausgeklammert wurden ...
- Rat für deutsche Rechtschreibung - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=1918#1918
- Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege – www.vrs-ev.de
- Verein Lebendige deutsche Sprache - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?t=233
- Forschungsgruppe Deutsche Sprache - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?t=360
- Wir gegen die Rechtschreibreform - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?t=569
- Juristen gegen die Rechtschreibreform - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?t=279
- Verein für Sprachpflege (VfS), Erlangen, Deutsche Sprachwelt - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?t=123
usw.
Siehe dazu: „Was können wir noch tun?“ - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=2956#2956
Wer sich ein Urteil bilden will, sollte lesen Ickler: Was ist vom „Rat für deutsche Rechtschreibung“ zu erwarten? - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=2953#2953 -.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß Hans Krieger seinen Artikel mit dem RDR-Vorstand abgestimmt hat. Kriegers Artikel folgt der Maxime: „Geben wir Zehetmair und seinem Rat für deutsche Rechtschreibung pro forma eine Chance!“ („Zehetmairs Mut und Chance“)
Tatsächlich hat aber kein Reformkritiker die Macht, der KMK und ihrem Rat eine Chance zu geben. Die Reformkritiker haben aber die Macht, weiterhin Widerstand gegen die Rechtschreibreform zu leisten.
Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Freitag, 19. Aug. 2011 21:42, insgesamt 1mal bearbeitet |
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Manfred Riebe
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: Dienstag, 08. März. 2005 20:40 Titel: Die Reform erledigt sich selbst |
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Die Reform erledigt sich selbst
Kuriose Selbstdemontage: der Geheimbericht der Rechtschreibkommission
Von Hans Krieger
Eingeständnis des Scheiterns. Die Kommission nimmt zentrale Teile des neuen Regelsystems nicht mehr ernst und entzieht dem ganzen Reformunternehmen damit die Legitimationsgrundlage. Ein kurioser Fall von Selbstdemontage.
Die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung hat einen öffentlichen Auftrag, aber sie scheut das Licht der Öffentlichkeit. Für die Kultusministerkonferenz soll sie ermitteln, wieweit die 1996 beschlossene Rechtschreibreform sich bewährt und wo Nachbesserungen nötig sind. Der Bericht aber, den sie den Kultusministern vor etlichen Wochen vorgelegt hat, bleibt geheim. Und nicht ohne Grund ist die Kommission so lichtscheu. Denn der Bericht (er liegt der Redaktion vor), der sich vordergründig als stolze Erfolgsbilanz gibt, enthüllt sich bei genauerem Hinsehen als ein Eingeständnis des Scheiterns. Die Kommission nimmt zentrale Teile des neuen Regelsystems nicht mehr ernst und entzieht dem ganzen Reformunternehmen damit die Legitimationsgrundlage. Ein kurioser Fall von Selbstdemontage.
Im Leitartikel einer großen süddeutschen Zeitung wurde kürzlich darüber spekuliert, warum die Olympischen Winterspiele von Salt Lake City „so gut und so Geld vermehrend“ als „Hochamt der Ablenkung“ funktioniert hätten. Schon der Parallelismus der zweifachen „so“-Konstruktion läßt erkennen, daß „geldvermehrend“ genauso ein einziges Wort sein muß wie „gut“ (nämlich ein Adjektiv in adverbialem Gebrauch); nun unter dieser Voraussetzung ist die Konstruktion grammatikalisch überhaupt möglich. Und eben darum haben „Univerbierungen“ von Typus „geldvermehrend“ sich als so zweckmäßig erwiesen; eben darum gehört es zu den großen Vorzügen der deutschen Sprache, daß sie solche Wortverschmelzungen scheinbar unbegrenzt zuläßt. Niemand hatte damit vor der Einführung der Rechtschreibreform ein Problem, weil man sich auf das Bedeutungsverständnis verlassen konnte und Zusammenschreibung so gut wie nie sprachlogisch falsch sein konnte.
Strenggenommen ist „geldvermehrend“ auch nach der Neuregelung zusammenzuschreiben; der zitierte Satz ist eines der zahllosen Beispiele dafür, daß kaum jemand die neuen Regeln versteht und die meisten Schreiber sich mit der irreführenden Faustregel „im Zweifelsfall getrennt“ behelfen. Die meisten Wortverschmelzungen aus Substantiv und Partizip hat die Reform nämlich gnadenlos beseitigt. Zusammenschreibung war nur noch dort zulässig, wo durch die Kombination von Substantiv und Partizip „ein Artikel oder eine Partikel eingespart“ wird: man sagt „das Medikament stillt das Blut“ und schreibt darum „ein blutstillendes Medikament“, aber man sagt „das Insekt saugt Blut“ (ohne Artikel) und schreibt darum „ein Blut saugendes Insekt“. Wörter wie „aufsehenerregend“, „erfolgversprechend“, „ratsuchend“ oder „notleidend“ und andere waren damit aus dem Wortschatz gestrichen.
Schon in der 22. Auflage des Duden vom August 2000 tauchte ein Teil der eliminierten Wörter wieder auf, so etwa „aufsehenerregend“ und „erfolgversprechend“. Allerdings nur als tolerierte Variante. Die Begründung war, daß das Gesamtgebilde steigerbar ist („aufsehenerregender“). Man hatte endlich erkannt, daß Steigerungsformen wie „Aufsehen erregender“ oder „Erfolg versprechender“, die man seit 1999 ständig in den Zeitungen liest, ungrammatisch sind. Hier brachte der Duden 2000 also eine substantielle Regelmodifikation; eine Zusatzregel (Zusammenschreibung bei Steigerbarkeit des Gesamtgebildes) wurde eingeführt. Mit Vehemenz bestreitet jedoch die Kommission, daß sich irgend etwas geändert habe. Vielmehr hätten Schreibungen wie „aufsehenerregend“ schon immer der Reformintention entsprochen; dies sei zwar „im Regelteil nirgends explizit vorgeführt“, lasse sich aber „aus einigen Eintragungen im Wörterverzeichnis rekonstruieren“.
Welch ein Offenbarungseid! Der Anspruch der Reformer war, eine angeblich von Zufälligkeiten strotzende Orthographie durch ein klares, logisch konsistentes Regelsystem zu ersetzen. Nun also das Eingeständnis, daß wichtige Teilregeln gar nicht als Regeln formuliert waren, sondern aus Einzeleinträgen im Wörterverzeichnis erschlossen werden mußten. In einem anderen Fall räumt die Kommission ein, die Regel sei „nicht sehr explizit formuliert“ gewesen – ein rührender Euphemismus für das, was man sonst unklar oder konfus nennt. In der Neuregelung stand lediglich, daß man weiterhin zusammenschreibe, wenn ein Teil des Gesamtgebildes für sich allein nicht gebräuchlich ist; das trifft für „versprechend“ zu (in „erfolgversprechend“), nicht aber für „erregend“ (in „aufsehenerregend“). In der hauseigenen Regelformulierung, die der Duden von 1996 zusätzlich zur amtlichen Regelung abdruckte, fand sich immerhin ein versteckter Hinweis, daß man zwar „Furcht einflößend“ zu schreiben habe, aber „furchteinflößender“; eine Regel dazu war weder explizit noch „nicht sehr explizit“ benannt. Und die Frage blieb natürlich, wie eine Steigerungsform möglich sein soll, zu der es die Grundform nicht geben darf.
Es gibt nur zwei Möglichkeiten, und beide sind gleichermaßen skandalös: entweder die Kommission vertuscht ziemlich ungeschickt, daß eine Reform der Reform sich als unumgänglich erwiesen hat, oder sie hat es fünfeinhalb Jahre lang tatenlos hingenommen, daß eine in entscheidenden Punkten entstellende Mißdeutung der Reformabsichten die Schreibpraxis diktierte. Und das hieße ja nicht nur, daß die Öffentlichkeit getäuscht wurde und irreführende Wörterbücher unwidersprochen weiter verkauft wurden. Es hieße auch, daß Schüler und Lehrer sinnlos drangsaliert wurden mit Reform-Albernheiten, die so gar nicht gewollt waren.
Aus Bayern etwa sind Fälle wie der folgende dokumentiert: ein Schulleiter zerreißt wütend ein Zeugnis, weil die Lehrkraft sich erdreistet hat, „zufriedenstellend“ zu schreiben, statt „zufrieden stellend“, wie es auch der Duden 2000, in Rotdruck hervorgehoben, noch immer fordert. Wollen die Reformer denn behaupten, daß es ein Wort „stellend“ gebe? Die Regel, daß zusammengeschrieben wir, wenn ein Bestandteil des Gesamtgebildes für sich allein nicht vorkommt, kann allenfalls dann praktikable Orientierungshilfe sein, wenn sie für alle Typen von Wortverbindungen gilt; ob das Partizip sich mit einem Substantiv oder einem Adjektiv verbindet, darf aus Gründen der Durchschaubarkeit und Klarheit der Systematik keinen regelbestimmenden Unterschied machen.
Nach diesem Muster läßt sich fast jede Zusammenschreibung um drei Ecken herum rechtfertigen. Wer Rat sucht, sucht natürlich „guten Rat“ und darf darum wieder „ratsuchend“ genannt werden. Mit absurder Begründung kämen wir so wieder zum Sinnvollen und Sprachrichtigen: all die Univerbierungen, die sich als zweckmäßig eingebürgert hatten, aber durch Reformwillkür verbannt wurden, kehren in den Schreibgebrauch zurück. Sie sollten aber nicht durch spitzfindiges Zurechtfrisieren einer abstrusen Regel zurückgeholt werden, sondern durch entschlossene Abkehr von einem Reformkonzept, dessen Unhaltbarkeit nun sogar die Zwischenstaatliche Kommission unfreiwillig dokumentiert.
Es kommt aber noch besser: „Blut saugend“ und „blutstillend“ waren einmal Paradebeispiele für die neue Regel der Getrennt- oder Zusammenschreibung. Schon der Duden 2000 hat für beide Fälle beide Schreibungen freigegeben; die viel zu komplizierte und darum praxisuntaugliche, aber begründbare Regel war damit preisgegeben. Die Kommission verteidigt die im Duden 2000 angebotene Schreibung „blutbildend“ (statt „Blut bildend“, wie es die Neuregelung verlangen würde) jetzt mit dem Argument, daß die „Rückführbarkeit auf eine Wortgruppe“ zwar „nicht zwingend“, aber doch „möglich“ sei: man könne ja auch sagen, daß das blutbildende Agens „neues Blut“ bilde, und die Einsparung des Wörtchens „neu“ rechtfertige die Zusammenschreibung. Daß damit die ganze Regelung ad absurdum geführt ist, scheint die Kommission nicht zu bemerken.
Der richtige Weg kann nur sein, das „Sprachgefühl“ und die Orientierung am Bedeutungsverständnis zu rehabilitieren und endlich einzusehen, daß in der Rechtschreibung nicht alles lückenlos normierbar ist, weil Sprache lebendig ist und sich entwickelt (gerade im Bereich Univerbierungen). Die „alte“ Orthographie war da weise und flexibel. Eine Vorschrift, einerseits „radfahren“ und andererseits „Auto fahren“ zu schreiben, hat es nämlich nie gegeben. Die Dudenregel (R 207) lautete bis zur Auflage von 1991: man schreibt getrennt, wenn die Vorstellung des Gegenstandes überwiegt, und zusammen, wenn man mehr an die Tätigkeit denkt. Das ist mehr als eine (dringend notwendige) Toleranzregel; es ist die Aufforderung, das Sprachgefühl zu schärfen und Bedeutungsnuancen zu nutzen.
Es war das Geburtsübel der Reform, daß in den vorbereitenden Kommissionen nicht Sprachforscher und Praktiker der Schreibkunst den Ton angaben, sondern Didaktiker, die ganz auf die Lernprobleme von Schreibanfängern fixiert sind und für die Bedürfnisse der literarischen Kultur weder Gespür noch Interesse haben. Und ein grober Mißgriff war es, mit der Überprüfung und eventuellen Nachkorrektur der Reform im wesentlichen die gleichen Leute zu beauftragen, die sie ausgeheckt hatten. Die scheinbare Erfolgsbilanz der Zwischenstaatlichen Kommission ist in Wahrheit ein Dokument der Inkompetenz und Uneinsichtigkeit. Mit der Tatsache, daß viele Neuschreibungen ungrammatisch sind, hat sich die Kommission überhaupt nicht auseinandergesetzt. Den Vorwurf, daß zahllose Wörter und Bedeutungsunterscheidungen beseitigt wurden, also Wortbildungsprozesse rückgängig gemacht wurden und damit die Sprachentwicklung rückwärts gedreht wurde, glaubt sie mit einem höchst windigen Scheinargument vom Tisch wischen zu können, das ziemlich eigenwillige Vorstellungen von intellektueller Redlichkeit verrät. Wichtige Regelteile kann die Kommission nur durch unsolide Umdeutung retten.
Es wird höchste Zeit, daß die Kultusminister die unausweichlichen Konsequenzen ziehen. Die Reform ist durch Selbstwiderspruch erledigt; die Kommission hat abgewirtschaftet und muß abtreten. Auf der Tagesordnung steht die Wiederherstellung einer brauchbaren Orthographie. Die Aufgabe ist leicht; nicht mehr ist vonnöten als der sprachwissenschaftliche Sachverstand, die sprachkünstlerische Erfahrung und die kritische Unbefangenheit unabhängiger Köpfe.
Bayerische Staatszeitung vom 8. März 2002
http://www.dgls.de/rsref01.htm
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Anmerkung:
Hans Krieger verfaßte seinen Text in der traditionellen Rechtschreibung. |
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