Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen |
Autor |
Nachricht |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Dienstag, 03. Feb. 2004 11:08 Titel: Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten |
|
|
<b>Kann bald jeder schreiben, wie es ihm gefällt?
Die Übergangsfrist zur endgültigen Einführung der neuen Rechtschreibung läuft 2005 ab: Die Zwischenbilanz liefert ein ernüchterndes Ergebnis</b>
Aachen. Selten trennten die geistige Elite und der Nachwuchs des Landes solche Sprachbarrieren wie seit dem 1. August 1998: Während Fritzchen in der Schule – sofern er’s brav gelernt hat – „Eis laufen“ schreibt, so wie man „Auto fährt“, bekreuzigen sich einvernehmlich die Dichter und Denker vor so viel semantischer Ignoranz und Gleichmacherei. Von Günter Grass bis Siegfried Lenz – kaum ein Schriftsteller deutscher Zunge lässt es zu, dass man seine veröffentlichten Worte in der reformierten Schreibung fasst.
Die „Stiftung für Abendländische Besinnung“, eine große Schweizer Kulturstiftung, hat den Autor Reiner Kunze für seinen unermüdlichen „Einsatz gegen Unvernunft der Eingriffe in Sprache und Rechtschreibung“ mit einem Preis und 25 000 Schweizer Franken belohnt. – Und sonst? Wo sind all die Reformgegner geblieben, die lange bereit waren, gegen „Stress“ und „klein Gedrucktes“ auf die Straße zu gehen?
Thema abgehakt?
Viele der entsprechenden Web-Seiten wirken verwaist oder wurden lange nicht aktualisiert, und auch sonst bekommt man den Eindruck: Der Sturm in der Bevölkerung hat sich längst gelegt, die Rechtschreibreform ist gegessen. Gerhard Augst, langjähriger Vorsitzender der Zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission, glaubt, 90 bis 100 Prozent aller Lehrer als Befürworter des Reformwerks zu erkennen, und liefert mit einer Zahl von mehr als 80 Prozent aller gedruckten Bücher in neuer Rechtschreibung den, wie er meint, schlagenden Beweis für eine breite Anerkennung. Ist das Thema damit abgehakt, so dass in aller Seelenruhe das Ende der Übergangsfrist zum Datum 31. Juli 2005 abgewartet werden kann, ab dem die neue Rechtschreibung in Schulen und Behörden offiziell gilt und aus dem grünen Stift des Lehrers endgültig der rote wird?
Zweifel sind angebracht. Eine vorläufige Zwischenbilanz ergibt, dass sich der Widerstand gegen die Reform im Bereich der Wissenschaften durchaus verstärkt, dass die neuen Schreibweisen in den Printmedien zu viel mehr Fehlern geführt haben, dass Erfahrungen der Lehrer keineswegs eine Verbesserung in Sachen schulischer Rechtschreibung belegen, dass die orthographische Einheit in Auflösung begriffen ist und ausgerechnet die zuständige Zwischenstaatliche Kommission dies selbst mit ihren Empfehlungen nahelegt.
Die Präsidenten von acht deutschen Akademien der Wissenschaften und Künste haben Ende des vergangenen Jahres der Kultusministerkonferenz in einem gemeinsamen Brief dringend geraten, einen „Schlußstrich“ unter das „Experiment“ zu setzen. Begründung: Das Sprachgefühl der Schreibenden sei ausgehebelt und unwirksam geworden, und die „alten Regeln haben sich vielfach als einfacher erwiesen denn die scheinbaren Vereinfachungen“.
[. . .]
Der Berliner Historiker Reinhard Markner von der Forschungsgruppe Deutsche Sprache“ meint: „Schäden sind dadurch entstanden, dass es Schwierigkeiten bei der Wortbildung gibt. Ganze Wörter sind einfach abgeschafft worden, zum Beispiel ‚sogenannt‘ und ‚Zeitlang‘. Regeln wie solche, dass Verben nicht mit Verben verbunden werden dürfen, eliminieren Wärter wie ‚kennenlernen‘, das eine ganz andere Bedeutung hat als ‚kennen lernen‘. Nun werden für alle Zukunft solche Neubildungen ausgeschlossen. Das sind Eingriffe in die Sprache, die nicht nur das oberflächliche Schreiben betreffen, sondern bedenkliche Eingriffe in die Systematik und Grammatik der Sprache selbst.“ Die Resultate dieser „Eingriffe“ hat die „Forschungsgruppe Deutsche Sprache“ (FDS), ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Publizisten, zusammengetragen.
Verlust der orthographischen Einheit: Vor allem in den Printmedien haben sich „Hausorthographien“ herausgebildet, so hat sich etwa „Die Zeit“ genau so einer besonderen Regelung unterworfen wie „Der Spiegel“ oder die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die bereits im Jahr 2000 wieder zur alten Rechtschreibung zurückgekehrt ist. Privatleute schreiben nach aber wie neuer Rechtschreibung, viele Großkonzerne wie Die Allianz sind bei der alten geblieben. In den Programmen großer Verlage wie C. H. Beck und S. Fischer finden sich Neuerscheinungen in alter wie in neuer Rechtschreibung. Die „Reform der Reform“, die Rücknahme vieler Schreibungen durch die Rechtschreibkommission, steigert diese Vielfalt der Schreibungen noch einmal um ein Vielfaches.
Fehlende Akzeptanz: Nach Umfragen des Allensbach-Instituts beruht das Vordringen von Reformschreibungen zum überwiegenden Teil nicht auf Überzeugungen der Schreibenden, sondern auf Zwängen und Vorgaben, zum Beispiel dienstlichen Anweisungen in Behörden und Medien. Mehr als jeder zweite Deutsche (56 Prozent) bezeichnet sich im Jahr 2002 als Gegner der Reform.
Mangelhaftigkeit der neuen Rechtschreibung: „Grammatisch falsche Schreibweisen, die sich als zwingende Folgen der neuen Regeln ergeben, vor allem durch die vermehrte Groß- und Getrenntschreibung, machen inhaltlich wichtige Unterscheidungen unmöglich.“ Beispiel: „‚Menschenaffen und Menschenvorfahren haben sich auseinander entwickelt‘ vermittelt einen falschen Sinn: Nicht die einen haben sich aus den anderen entwickelt, sondern beide haben sich ,auseinanderentwickelt"‘, was die neue Rechtschreibung nicht zulässt.
Das Fatale: Die Mangel (übten zu einer Erschwerung des Schreibens: Was zu Anfang von vielen Reformgegnern prophezeit wurde, ist zur Gewissheit geworden. Selbst Schreibprofis wie Journalisten produzieren viel mehr Fehler als zuvor.
Viel mehr Fehler
Der Münchener Lektor Wolfgang Wrase hat Ausgaben der „Süddeutschen Zeitung“ und des „Spiegel“ aus unterschiedlichen Jahren miteinander verglichen und festgestellt, dass die Fehlerhäufigkeit seit der Einführung der neuen Schreibweisen eklatant zugenommen hat. Bezogen auf diese veränderten Bereiche hat er zum Beispiel in einer Ausgabe der „Süddeutschen“ im Jahr 2001 262 Fehler gegenüber 51 im Jahr 1998 festgestellt.
Als Redakteur macht man im Umgang mit Agenturtexten einschlägige Erfahrungen, die Wrases Untersuchungsergebnisse täglich neu bestätigen: Bei der Deutschen Presse-Agentur etwa ist eine ausufernde Getrenntschreibung zu beobachten, die abenteuerliche Konstruktionen hervorbringt: hervor heben, herum kriegen, Jahrhunderte alte Mauer, heut‘ zu Tage, weiter helfen und und und. Für Reinhard Markner keine Überraschung: „Da wird in einer Art von Hyperkorrektur nach vagen Analogien geschrieben.“
Im Zweifelsfalle auseinander schreiben – diese „Regel“ hat sich selbst bei den Schreibprofis festgesetzt. Die Zwischenstaatliche Kommission selbst hat mit ihrem letzten Zwischenbericht von 2001 zu dieser Verwirrung beigetragen. Als Reaktion auf vielfach vorgetragene Kritik hat sie in zahlreichen Fällen einen Rückzieher gemacht und einfach mehrere Alternativschreibungen zugelassen. Statt „Gewinn bringend“ darf man nun genauso gut „gewinnbringend“, „Rat suchend“ oder „ratsuchend“ schreiben – wie man gerade Lust hat. Die Kommission spricht von „Flexibilisierung“ und einer „Toleranz-Metaregel“, sprich: Schreibe doch jeder, wie er will.
Bis 2005, so erwarten Experten, wird die im Verborgenen wirkende Kommission in einem neuen Bericht weitere Alternativschreibungen zulassen.
Einstiege ins Thema:
www.rechtschreibreform.com
www.rechtschreibkommission.de
Eckhard Hoog
Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten vom 25.1.2004, Wochenend-Journal
________________________________________________________________
Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten
Herausgeber: Aachener Verlagsgesellschaft mbH,
Geschäftsführung: Rudolf Hofelich, Gerd Hildebrandt,
Dr. Martin Thull
Chefredakteur: Bernd Mathieu (verantwortlich für die Redaktion)
Stellvertretender Chefredakteur: Erich Behrendt
Chef vom Dienst: Wolfgang von Wilpert
Verlag: Zeitungsverlag Aachen GmbH
Redaktions- und Verlagsanschrift:
Postfach 500110, 52085 Aachen
Dresdener Straße 3, 52068 Aachen
Telefon: 0241/5101-0
Fax: 0241/5101-360
redaktion@aachener-zeitung.de
Redaktion Kultur
Redakteur <b>Eckhard Hoog</b> (eho) e.hoog@zeitungsverlag-aachen.de
www.aachener-zeitung.de; www.az-web.de
www.an-online.de/
Redakteur Online: Ulrich Kutsch
Telefon: 0241/5101-357
Fax: 0241/5101-360
Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Mittwoch, 06. Okt. 2004 23:19, insgesamt 4mal bearbeitet |
|
Nach oben |
|
 |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Dienstag, 03. Feb. 2004 11:25 Titel: Christian Stetter: „offenkundiger Schildbürgerstreich“ |
|
|
<b>Christian Stetter: „offenkundiger Schildbürgerstreich“
„Kultusministerkonferenz das inkompetenteste Gremium“
____________________________________________________________
Alle Ampeln einfach ausgestellt
Sprachwissenschaftler Christian Stetter: Orthographie ist nicht normierbar </b>
Der Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Christian Stetter, Dekan der Philosophischen Fakultät an der RWTH Aachen, begleitet die Rechtschreibreform von Anfang an kritisch. Wir fragten ihn nach seiner aktuellen Einschätzung.
<i>Hat sich die Rechtschreibreform durchgesetzt?</i>
Stetter: Der letzte interne Zwischenbericht der Rechtschreibkommission kommt zu dem Schluss, dass das Regelwerk weitgehend unbekannt ist - selbst bei denen, die es praktizieren - und dass es weitgehend ignoriert wird. Und es wird eingeräumt, dass dies in vielen Punkten durch offenkundige Probleme im Regelwerk selbst hervorgerufen wird, vor allem in den beiden
Bereichen Getrennt-Zusammenschreibung und Groß- und Kleinschreibung. Daraufhin hat die Kommission einer Metaregel empfohlen, nämlich: Man möchte im Zweifelsfall doch immer alles gelten lassen. Diese Metaregel hat die Kultusministerkonferenz wohl derart in Verlegenheit gesetzt, dass sie das Ganze in der Schublade gehalten hat. Seither herrscht Funkstelle.
<i>Worin mag die Ursache liegen, dass das Regelwerk weitgehend unbekannt ist? </i>
Stetter: Weil es unendlich kompliziert ist. Denn es enthält nicht nur 113 Paragraphen, sondern über tausend Regelungen.
<i>Man hat den Eindruck, der Widerstand in der Bevölkerung hat eher nachgelassen, während er im Bereich der Wissenschaften zugenommen hat</i>
Stetter: Eindeutig, dort ist mittlerweile klar, dass das Ganze ein offenkundiger Schildbürgerstreich ist. So kann man Orthographie nicht regeln. Deutlich geworden ist, dass man einen Unterschied machen muss zwischen den Regularitäten des Sprach- und des Schriftgebrauchs und einer Normierung. Sie können vielleicht die Normierung ändern und den Normierungstext, damit haben Sie aber die Regularitäten des Schriftgebrauchs nicht geändert.
<i>Regularitäten bilden sich von allein? </i>
Stetter: Sie bilden sich im Gebrauch. Wenn Sie ein Muster haben im Schriftgebrauch, das zweckmäßig ist, und das deswegen von den Menschen befolgt wird, dann existiert dieses Muster auf Dauer im Gebrauch. Orthographie ist eben keine willkürlich von außen aufgesetzte Regelung,
sondern ist die Selbstregelung des Schriftgebrauchs durch intelligente Benutzer.
<i>Gibt es empirische Untersuchungen, die belegen, dass die Fehlerhäufigkeit abgenommen hat?</i>
Stetter: Nein. Aber was heißt denn Fehlerhäufigkeit? Der Verkehr bietet das beste Beispiel: Was nennen wir einen Fehler an der Ampel? Wenn ich bei Rot über die Ampel fahre. Wenn Sie nun drei Viertel aller Ampeln ausschalten, dann wird diese Fehlerhäufigkeit zweifellos reduziert werden. Weil Sie gar keine Chance mehr haben, Fehler zu machen. Und genau das ist mit der Rechtschreibung passiert: Weil man so viele Alternativen zugelassen hat. Die Fehlerhäufigkeit ist zurückgegangen, nicht weil man die Rechtschreib-Kompetenz erhöht hätte, sondern weil man die Ampeln abgeschaltet hat.
<i>Wird die Rechtschreibreform auf Dauer überleben?</i>
Stetter: In dieser Form ganz sicher nicht. Die Kultusministerkonferenz ist bei diesem Thema einfach untergetaucht. Und wenn sie vernünftig ist, wird sie das Thema nie wieder anrühren.
<i>Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung ein? </i>
Stetter: Jetzt haben wir eine Phase, in der unterschiedliche Orthographien existieren. Die wird schätzungsweise 30, 40 Jahre andauern, dann wird sich alles allmählich wieder homogenisieren.
<i>Was halten Sie von Appellen an die Kultusministerkonferenz oder die Rechtschreibkommission, eine Revision einzuleiten? </i>
Stetter: Ein Appell an die Kommission ist nicht mehr nötig, weil deren Mitglieder meinem Eindruck nach begriffen haben, was sie da angestellt haben. Ein[en] Appell an die Kultusministerkonferenz halte ich deswegen für unnötig, weil es das inkompetenteste Gremium ist, das ich kenne.
Aachener Zeitung & Aachener Nachrichten vom 26. Januar 2004 |
|
Nach oben |
|
 |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Dienstag, 03. Feb. 2004 11:43 Titel: Rechtschreibkommission führt neue Varianten ein |
|
|
<b>Rechtschreibkommission führt neue Varianten ein
_____________________________________________
Wem es «Leid tut», darf es auch «leidtun»</b>
Aachen. Wer die reformierte Schreibung von «es tut mir Leid» leid ist, dem wird das Leid jetzt genommen: Die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung führt eine neue Variante ein. Neben «Leid tun» darf man nun auch genau so gut schreiben: «leidtun»! Was gefällt, ist erlaubt - und nicht nur bei diesem Beispiel. Wie es in unserer Rechtschreib-Zwischenbilanz prophezeit wurde, so ist es in der Tat gekommen: Die Kommission für deutsche Rechtschreibung hat in ihrer aktuellen «Anpassung des Regelwerks» jetzt zahlreiche weitere Alternativschreibungen erlaubt.
Einzelheiten dieses mit Spannung erwarteten 4. Zwischenberichts sind in einer Beschlussfassungs-Vorlage für die Kultusministerkonferenz bekannt geworden und im Internet einzusehen.
Wer erwartet hat, dass die Kommission offenkundig falsche Neuschreibungen endlich wieder tilgen würde - zum Beispiel das mit der Grammatik unvereinbare, aber neuerdings mögliche «es tut mir sehr Leid («sehr» kann man einem Substantiv nicht voranstellen), der wird enttäuscht: Statt Fehler auszumerzen, versuchen die Verantwortlichen den Mängeln des Regelwerks und der vielfach geäußerten Kritik mit immer neuen Schreibvarianten zu begegnen.
Unverhohlen äußert die Kommission den Grund für diese Strategie: «Da keine Schreibweisen falsch werden, entstehen keine Probleme bei der weiteren Verwendung von Schulbüchern, beziehungsweise bei Korrekturen. Alle Bücher sowie Rechtschreib-Programme können allmählich angepasst werden. Zusätzliche Kosten entstehen nicht.» So wird die deutsche Orthographie der Wirtschaftlichkeit geopfert...
Der Schreibende kann sich künftig aussuchen, was ihm besser gefällt: «Zeit sparend» oder «zeitsparend» zum Beispiel im Bereich der Zusammen-/Getrenntschreibung von Verbindungen mit Partizipien; «allein stehend» oder «alleinstehend», «Rat suchend» oder «ratsuchend».
«Kritik erledigt»
Hier heißt es: «Insbesondere in diesem Fall werden frühere Zusammenschreibungen wieder zulässig und erledigt sich die Kritik an der angeblichen Wortvernichtung».
Auch bei Fremdwörtern kann man sich jetzt Zusammen- oder Getrenntschreibung aussuchen: «Bluejeans» oder «Blue Jeans». Der liebe Bindestrich: Wem die Schreibung 8fach bislang nicht zusagte, kann jetzt 8-fach auch mit Bindestrich schreiben.
«Damit nimmt die Anzahl der Varianten zu. Das entspricht jedoch offensichtlich den Wünschen der Schreibgemeinschaft», heißt es.
Neues bei der Groß- und Kleinschreibung: «Ohne weiteres» und «vor kurzem» soll auch «groß» möglich sein: «ohne Weiteres», «vor Kurzem». Das Gleiche gilt für «die Einen», «die Anderen», «die Meisten». Kommentar der Kommission: «Wer den substantivischen Gebrauch unterstreichen will, kann großschreiben.»
Den Fußballfreunden wird dies eine Genugtuung sein: Die «gelbe Karte», bislang schwer diskriminiert in ihrer einzig erlaubten Kleinschreibung, erhält den verdienten «terminologischen Status» eines «fachsprachlichen Gebrauchs» - und darf endlich so geschrieben werden, wie es ihr zusteht: als «Gelbe Karte»!
Doch damit nicht genug, die Rechschreibkommission hat noch eine weitere kleine Feinheit in ihren Zwischenbericht eingebaut, die sie selbst betrifft: Jeder Änderung der bestehenden Regelung bedarf bis jetzt der Entscheidung der politischen Institutionen, weil die Kommission jeweils nur Vorschlagsrecht hat.
Das soll anders werden: Bei «geringfügigen» Änderungsvorschlägen wollen die Reformer künftig ganz ohne den politischen Vormund entscheiden dürfen.
Klein Fritzchen mag das alles sehr erfreuen - ist er schlau, wird er jeden Diktatfehler künftig leicht begründen können: «Ich wollte doch nur den adjektivischen Gebrauch von ,mist' unter-streichen...»
Von unserem Redakteur Eckhard Hoog
Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten vom 26.01.2004
www.az-web.de/sixcms/detail.php?id=276403&_wo=Suchen:Ergebnisse&_wobild=menue_suchen.gif
&template=detail_standard
_________________________________
Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten
Herausgeber: Aachener Verlagsgesellschaft mbH,
Geschäftsführung: Rudolf Hofelich, Gerd Hildebrandt,
Dr. Martin Thull
Chefredakteur: Bernd Mathieu (verantwortlich für die Redaktion)
Stellvertretender Chefredakteur: Erich Behrendt
Chef vom Dienst: Wolfgang von Wilpert
Verlag: Zeitungsverlag Aachen GmbH
Redaktions- und Verlagsanschrift:
Postfach 500110, 52085 Aachen
Dresdener Straße 3, 52068 Aachen
Telefon: 0241/5101-0
Fax: 0241/5101-360
redaktion@aachener-zeitung.de
Redaktion Kultur
Redakteur <b>Eckhard Hoog</b> (eho) e.hoog@zeitungsverlag-aachen.de
www.aachener-zeitung.de; www.az-web.de
www.an-online.de/
Redakteur Online: Ulrich Kutsch
Telefon: 0241/5101-357
Fax: 0241/5101-360 |
|
Nach oben |
|
 |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Samstag, 07. Feb. 2004 09:17 Titel: «Merkwürdig, dass so eine Mafia existiert» |
|
|
<b>«Merkwürdig, dass so eine Mafia existiert»
Die neue „Anpassung des Regelwerks“ der Rechtschreibkommission stößt überall auf Kritik. CDU-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen fordert, die ganze Reform rückgängig zu machen. Autor Kunze schreibt einen offenen Brief.</b>
Von Eckhard Hoog
Aachen. «Darin steckt eine Bombe!» Prof. Dr. Christian Stetter, Linguist am Germanistischen Institut der RWTH Aachen und Dekan der Philosophischen Fakultät, scheut sich nicht, zu drastischsten Vokabeln zu greifen. Was die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung der Kultusministerkonferenz vor wenigen Tagen vorgeschlagen hat, registriert der profilierte Aachener Kritiker der Rechtschreibreform mit Fassungslosigkeit.
Weniger, dass neben den falschen Neuschreibungen («Leid tun») weitere falsche («leidtun») und in vielen Fällen neben den neuen nun auch wieder die alten Schreibungen («davorschieben») gelten sollen, regt ihn auf.
Dass aber in Zukunft die Kommission ganz allein über Änderungen der Rechtschreibung entscheiden will, das geht ihm über die Hutschnur: «Ein völlig undemokratisch zustande gekommenes Gremium will den deutschen Sprachgebrauch bestimmen.»
Nur bei Änderungen von «grundsätzlicher Bedeutung» - die Einführung der Kleinschreibung von Substantiven - sollen künftig politische Institutionen mitreden können. Für Stetter unvorstellbar.
Und nicht nur für ihn. Bundesweit hat seit der Erstveröffentlichung der neuen Pläne der Rechtschreib-Kommission durch unsere Zeitung (nachdem die als «vertraulich» gekennzeichnete «Beschlussvorlage» von Reformgegnern ins Internet gestellt worden war), Schlagzeilen gemacht und Protestreaktionen hervorgerufen.
Der bayerische Rechtschreibgegner der ersten Stunde, Deutschlehrer Friedrich Denk, fordert in der Saarbrücker Zeitung die Abschaffung der Kommission, weil sie «jede Menge Unsinn» beschlossen habe. Trete die neue Rechtschreibung im Sommer 2005 verbindlich in Kraft, sei das endgültig eine Katastrophe.
Die «Süddeutsche Zeitung» erwartet ohne neue Wörterbücher eine Überforderung der Lehrer angesichts «einer großen Zahl neuerlicher Änderungen an der Schriftsprache».
<b>Allmählich eine Posse</b>
«Das Ganze verkommt allmählich zu einer Posse», meint Jörg Seifert, Landesvorsitzender des Philologenverbandes Mecklenburg-Vorpommern. Für die Schulen seien die ständigen Änderungen fatal. «Wir sprechen von Rechtschreibschwächen, und auf der anderen Seite verunsichern wir die Schüler mit immer neuen Nachbesserungen», so Seifert.
Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» schreibt, dass Sprachwissenschaftler angesichts der Menge von Änderungen damit rechnen, «daß alle orthographischen Handbücher neu gedruckt werden müssen, von Schulbüchern ganz zu schweigen».
Der Schriftsteller Reiner Kunze hat an den bayerischen Kultur- und Wissenschaftsminister Thomas Goppel einen offenen Brief gerichtet: «Sollte die Kultusministerkonferenz den Empfehlungen der Amtschefkommission folgen und das Regelwerk nach den Vorgaben des vierten Berichtes als verbindlich verabschieden, würde man in einem bedeutenden Bereich des geistigen Lebens mit Verachtung strafen, was Demokratie am nötigsten hat: engagierte Zuwendung.»
Nicht so höflich Schriftsteller-Kollege Hans Magnus Enzensberger in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung»: Es sei «schon merkwürdig, daß so eine Mafia überhaupt existieren kann». Die politische Frage nach dem Umgang mit der Sprache werde «hinter verschlossenen Türen abgehandelt - wie zu Metternichs Zeiten».
Siegfried Lenz in der gleichen Zeitung: Viele seiner schreibenden und lehrenden Freunde seien «wirklich verzagt gegenüber dieser blödsinnigen Art der Bürokratie, sich in so etwas wie Sprache einmischen zu wollen».
Am Freitag hat sich die CDU-Landtagsfraktion NRW dafür ausgesprochen, die ganze Reform rückgängig zu machen. Der schulpolitische Sprecher der CDU, Bernhard Recker: «Keiner blickt mehr durch, jeder schreibt, wie er will. Der Großteil der Erwachsenen ist bei den alten Regeln geblieben, und die Schüler werden mit einem orthographischen Durcheinander konfrontiert.»
Am kommenden Donnerstag will die Amtschefkommission «Rechtschreibung» der Kultusministerkonferenz über die neuen Vorschläge der Reformer befinden.
Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten vom 30.01.2004
www.az-web.de/sixcms/detail.php?id=278787&_wo=Suchen:Ergebnisse&_wobild=menue_suchen.gif
&template=detail_standard |
|
Nach oben |
|
 |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Samstag, 07. Feb. 2004 09:33 Titel: Das Millionen-Geschäft |
|
|
<b>Kommentar: Das Millionen-Geschäft</b>
Von Eckhard Hoog
Ob Gesundheit, Steuer, Lkw-Maut oder Rechtschreibung – das Wort „Reform“ darf in Deutschland mit Fug und Recht als Synonym gelten für Pleiten, Pech und Pannen. Die Rechtschreibreform liefert in diesen Tagen endgültig den Beweis, dass eine „Umgestaltung“ keineswegs per se eine Veränderung zum Besseren garantiert.
Was die so genannte Zwischenstaatliche Kommission als jüngste „Anpassung des Regelwerks“ der Kultusministerkonferenz vorgeschlagen hat, würde das Chaos der mittlerweile unzähligen nebeneinander existierenden Orthographien komplett machen. Statt neu eingeführte falsche Schreibweisen zu eliminieren, begegnet man den Fehlern mit der Einführung immer neuer, hanebüchener Alternativschreibweisen. Immerhin offenbart sich damit indirekt das Eingeständnis dieser zweifelhaften „Experten“, sprachgebrauchswidrige Regelungen getroffen zu haben.
Bleibt es beim Ende der Übergangsfrist bis zum 31. Juli 2005, stehen die Lehrer vor der aussichtslosen Aufgabe, von den vielen nebeneinander zugelassenen Schreibvarianten die vermeintlich falschen zu unterscheiden. Selbst gestandene Linguisten haben schon vor dieser letzten „Anpassung“ zugegeben, den Überblick über die Regelungen längst verloren zu haben. Wer aber mag das allen Ernstes ab dem nächsten Jahr von Schülern verlangen, die tagtäglich mit den unterschiedlichsten orthographischen Erscheinungen konfrontiert werden? Von Schülern, die nicht einmal so schreiben dürfen wie Literaturnobelpreisträger Günter Grass? Man kann nur an die Verantwortlichen plädieren, als erste Maßnahme die Übergangsfrist auszusetzen.
In Zukunft will die „Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung“ über alle Änderungen selbstständig entscheiden können. Das wird der Kultusministerkonferenz sehr entgegenkommen, von der man weiß, dass sie das ungeliebte Thema längst leid ist. Unter den vielen bislang genannten Kritikpunkten an einer solchen „Selbstständigkeit“ ist einer bislang weitgehend unter den Tisch gefallen. Die fortlaufende Anpassung des Regelwerks, die „Reform der Reform“, macht die Herausgabe immer neuer Wörterbuch-Ausgaben nötig, ähnlich dem Update neuer Software.
<b>Verlage zahlen</b>
<b>Angesichts dieses Millionengeschäfts sollte doch einmal dringend ins Blickfeld rücken, dass die im Verborgenen wirkenden Kommissionsmitglieder auf der Honorarliste der einschlägigen Verlage stehen:</b> [Hervorhebung, MR] Klaus Heller ist bestens im Geschäft mit Rechtschreibbüchern bei Klett und Bertelsmann, Dieter Nerius bei Volk und Wissen, Gerhard Augst beim Duden Verlag, Peter Gallmann und Horst Sitta ebenfalls bei Duden. Mit der „Bearbeitung“ eines neuen Lexikons lässt sich doch weidlich mehr Geld verdienen als mit einem popligen linguistischen Aufsatz . . .
Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten vom 31.1.2004 |
|
Nach oben |
|
 |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Samstag, 07. Feb. 2004 09:49 Titel: Regeln bleiben bestehe |
|
|
<b>Reform: Regeln bleiben bestehen</b>
Wien/Mannheim. Die bestehende Regeln der Rechtschreibreform werden mit den geplanten Änderungen nicht außer Kraft gesetzt.
Das betonte der Vorsitzende der Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung, Horst Blüml in Wien: «Es werden keine Regeln verändert. Es wird nur präzisiert, und wir wollen mehr Beispiele anführen.»
Am Donnerstag werden sich die Amtschefs der Kultusministerien bei einem Treffen in Berlin mit den Ergänzungen der Reform befassen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) selbst wird nach Worten des Vorsitzenden entweder Anfang März oder im Juni abschließend über die Neuerungen entscheiden.
«Bei unseren Vorschlägen geht es lediglich um Präzisierungen und Ergänzungen», sagte Blüml. So soll künftig «allein stehend» künftig auch als «alleinstehend» zulässig sein sowie «Rat suchend» auch als «ratsuchend». «Bei der Zusammen- und Getrenntschreibung gab es Unsicherheiten.» (dpa)
Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten vom 03.02.2004
www.aachener-zeitung.de/sixcms/detail.php?id=280415&_wo=Suchen:
Ergebnisse&_wobild=menue_suchen.gif&template=detail_standard_azan
Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Samstag, 07. Feb. 2004 09:58, insgesamt 1mal bearbeitet |
|
Nach oben |
|
 |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Samstag, 07. Feb. 2004 09:55 Titel: Keine Allgemeinverbindlichkeit |
|
|
<b>Desinformation und Irreführung
Keine Allgemeinverbindlichkeit
___________________________________________________________________
Rechtschreibung wird mit «geringen» Veränderungen verbindlich
Berlin. Mit nur geringen Veränderungen soll die neue Rechtschreibung wie geplant am 1. August 2005 verbindlich werden.</b>
Die dafür zuständigen Amtschefs der Kultusministerien der Länder beschlossen am Donnerstag in Berlin, dass bis dahin noch Gespräche über Einzelheiten der Neuregelung geführt und in das Regelwerk entsprechend eingearbeitet werden können. Dies sei aus dem Präsidium der Kultusministerkonferenz (KMK) verlangt worden.
Die nächste Sitzung der KMK findet im März statt. Die von den Amts-Chefs als sinnvoll eingestuften Vorschläge der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung seien «im Umfang sehr begrenzt». Dadurch werde keine der bestehenden Schreibweisen falsch. Alle Schulbücher, die der Neuregelung bisher folgten, können somit weiter benutzt werden, hieß in einer Erklärung.
Das Mitglied der Zwischenstaatlichen Kommission Dieter Herberg betonte im Südwestrundfunk, es gehe nur um Ergänzungen und Präzisierungen der neuen Rechtschreibung. Die in der Öffentlichkeit genannte Zahl von 4000 Neuerungen sei «geradezu abenteuerlich».
Unklar blieb, ob die Amtschefs der KMK empfehlen werden, die Zuständigkeit für die Rechtschreibreform mit dem Ende der Übergangsfrist für die Reform 2005 der «Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung» zu übertragen.
Zunächst hatte es geheißen, dass die weitere Diskussion um die Schreibregeln nicht mehr in einem politischen Gremium angesiedelt, sondern den Fachleuten überlassen werden sollte.
(dpa)
Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten vom 05.02.2004
www.aachener-zeitung.de/sixcms/detail.php?id=281575&_wo=Suchen:Ergebnisse
&_wobild=menue_suchen.gif&template=detail_standard_azan
___________________________________________________________________
Anmerkungen:
<b>Desinformation und Irreführung</b>
Der Satz: <i>„Mit nur geringen Veränderungen soll die neue Rechtschreibung wie geplant am 1. August 2005 verbindlich werden.“</i> ist irreführend. Das klingt so, als solle am 1. August 2005 die traditionelle Rechtschreibung endgültig abgeschafft werden. Das ist eine Desinformation, weil es schlicht falsch ist. Kein Mensch will die traditionellen Rechtschreibung am 1. August abschaffen. Die Deutsche Presse-Agentur verbreitet diese falsche Nachricht und alle Medien drucken es so ab.
Wegen dieser Desinformation und Panikmache durch die Reformer, Kultusminister und Nachrichtenagenturen betreibt der VRS laufend Information und Aufklärung. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Beschluß der Nachrichtenagenturen und der Presse, auf den Neuschrieb umzustellen, auf dem Irrglauben beruht, es gebe ein Gesetz, so daß die Reform ab 2005 allgemeinverbindlich sei.
Da sich dieser Desinformations-Virus als äußert widerstandsfähig erweist, hatte ich im VRS-Forum folgende Rubriken hinzugefügt:
Kein Rechtschreibgesetz - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?t=252
Keine Allgemeinverbindlichkeit der Rechtschreibreform -
www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?t=251
_____________________________________________
Eckhard Hoog: Die Medien tragen eine gravierende Mitschuld - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=1223#1223 |
|
Nach oben |
|
 |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Mittwoch, 06. Okt. 2004 23:21 Titel: Grammatisches Telefon steigt bei Reform aus |
|
|
Grammatisches Telefon steigt bei Reform aus
Aachen. Die Rechtschreibreform spaltet weiterhin kräftig die Gemüter und die Medien: Während die Zeitungen des Springer-Verlags seit Anfang der Woche die angekündigte Rückkehr von «dass» zu «daß» vollzogen haben, macht die Süddeutsche Zeitung einen Rückzieher. Sie will nun doch vorerst weiter bei der neuen Rechtschreibung bleiben. Die Mehrheit der Redakteure habe sich lieber für eine «Reform der Reform» ausgesprochen, heißt es.
Aber eine andere, auch nicht unbedeutende Institution wird in Kürze dem «Stängel» den Laufpass geben: das Grammatische Telefon am Germanistischen Institut der RWTH Aachen, eine der meistkonsultierten Sprachberatungseinrichtungen im deutschsprachigen Raum. «Wir haben uns entschieden», erklärt Professor Christian Stetter, Leiter und Mitbegründer des Grammatischen Telefons, zugleich Dekan der Philosophischen Fakultät, im Gespräch mit unserer Zeitung.
«Also wir haben uns entschieden, den Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz und der Kultusministerkonferenz noch abzuwarten. Am Tag danach werden wir uns eindeutig positionieren: Das Grammatische Telefon wird nur noch nach der alten Rechtschreibung beraten.» Und nicht mehr nach beiden Versionen, wie bisher.
Donnerstag und Freitag steht das leidige Thema in Berlin auf der Tagesordnung der Ministerpräsidentenkonferenz, in der nächsten Woche auf der der Kultusministerkonferenz. Stetter: «Ich vermute mal, die werden zu keinem Beschluss kommen.»
Für den Aachener Linguisten bewegen sich die Politiker sowieso auf dem «falschen Platz». «Das ist das gleiche, als ob ich, ein erklärter Fußball-Laie, aufs Spielfeld gehe, mir eine Pfeife nehme und Abseits pfeife. Die Spieler würden mich wahrscheinlich runterschmeißen - weil ich auf dem Spielfeld nichts verloren habe. Die Normen und Regeln unterstehen nicht meiner Verfügungsgewalt. Genauso wenig hat der Staat in Sachen Orthographie eine Regelungskompetenz.»
Dass Zeitungen mit Millionenauflagen und ganze Verlagsgruppen zur alten Rechtschreibung zurückkehren, sei der letzte Beweis dafür, «dass die Kultusminister aufs falsche Spielfeld gegangen sind. Die Regeln der Orthographie werden von der Gemeinschaft der Schreibenden gemacht. Das ist immer so gewesen.»
Den Ministern wirft Stetter vor, etwas Entscheidendes verwechselt zu haben: «Sie haben die Kompetenz, den Lehrplan festzulegen, aber nicht die Lehrinhalte. Und der Lehrplan muss einfach lauten: Die Kinder haben die herrschende Orthographie zu lernen. Punkt, aus. Wenn es schwierig ist, dann müssen sich die Didaktiker Wege überlegen, wie man es ihnen erklärt.» Schließlich ändere man auch nicht die Grundsätze der Mathematik, nur um sie Schülern leichter verdaulich zu machen.
Aber selbst das ist für Stetter bei der Reform der Orthographie noch hoffnungslos misslungen. Sein Urteil über den neuen Duden, der bereits die Änderungen durch die Zwischenstaatliche Rechtschreibkommission umgesetzt haben will: «Offen gestanden, ich steige da nicht mehr durch. Es gibt jetzt einen solchen Riesenteil von Regeln, wer soll das noch lernen? Ich müsste mich ein paar Wochen - und ich habe mich zehn Jahre mit dem Problem beschäftigt - durchkämpfen, bis ich alle Feinheiten einigermaßen verstanden habe. Der Normalverbraucher ist da hoffnungslos überfordert.» Der Duden, das ist für ihn das «Paradestück einer konfusen Entwicklung und eines missratenen Regelungsversuchs, das als Museumsstück in die Geschichte eingehen» werde.
Gegenüber den Appellen von Lehrerverbänden, Eltern- und Schülerräten vom Wochenende, die neue Rechtschreibung beizubehalten, liegt angesichts der Einschätzung des Fachmannes aus Aachen nur eine Schlussfolgerung nahe: Sie alle können das neue Regelwerk gar nicht kennen, geschweige denn «verstehen». Stetter: «Wenn Sie alleine die Kommaregeln einmal durchgehen - logisch völlig konfus.»
Stetter: «Und das ist keine Bagatelle: Hier wird an den Grundfesten unserer Information gerüttelt. Die Orthographie ist das Kodierungssystem unseres Wissens.» Die Eindeutigkeit des Geschriebenen gehe mit der neuen Rechtschreibung verloren, für Stetter auch ein wesentlicher Grund dafür, dass große Konzerne wie die Allianz und die Aachen-Münchener in ihrem gesamten Schriftverkehr nach wie vor an der alten Orthographie festhalten.
Die geistige Elite des Landes hat das vollauf begriffen: 100 Autoren, Verleger und Wissenschaftler haben gestern auf der Frankfurter Buchmesse die Rücknahme der Rechtschreibreform gefordert.
<i>Grammatisches Telefon am Germanistischen Institut der RWTH Aachen: 0241/8096074, Mo.-Fr. 10-12 Uhr.
Gegründet wurde die Sprachberatungseinrichtung 1981 von den Aachener Linguistikprofessoren Ludwig Jäger und Christian Stetter.
Rund 20 Anfragen gehen täglich ein, zumeist von professionell Schreibenden, Sekretärinnen, Journalisten, Sachbearbeitern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Industrie.
Infos: http://www.grammatisches-telefon.de
Von unserem Redakteur Eckhard Hoog (06.10.2004 | 20:00 Uhr)</i>
Aachener Zeitung vom 7. Oktober 2004
www.az-web.de/sixcms/detail.php?id=393578&_wo=News:Vermischtes&_wobild=menue_news.gif
&template=detail_standard |
|
Nach oben |
|
 |
|
Powered by phpBB © 2001, 2002 phpBB Group
|