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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Freitag, 16. Jan. 2004 13:51 Titel: UNICUM |
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<b>UNICUM
Zwischen Anarchie und Resignation
Die Rechtschreibreform hat Geburtstag - und wer feiert mit?</b>
Vor fünf Jahren lag der Entwurf der Rechtschreibreform auf dem Tisch. Unterschrift, Stempel, das war’s. Das dachten sich die Macher. Doch wer genau hinschaut, merkt, dass bis heute vor allem eines erreicht wurde: die orthografische Anarchie. Jeder schreibt so, wie er will - oder kann. Derzeit arbeitet die „Zwischenstaatliche Rechtschreibkommission“ an ihrem 4. Bericht. Reform-Kritiker äußerten gegenüber UNICUM die Hoffnung, dass dies doch noch einmal zu Verbesserungen führen könnte.
Die neue Rechtschreibung spaltet die Bevölkerung. Das sagt nicht nur Kollege Stammtisch, sondern auch eine vom polis-Institut durchgeführte Befragung von 1004 Deutschen: 48 Prozent der Bundesbürger finden die Reform verständlich, 46 Prozent hingegen halten sie für unverständlich. Die Schaffer der Reform bleiben bei solchen Zahlen gelassen. Rudolf Hoberg, Mitglied der Zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission und Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsche Sprache in Wiesbaden, bezeichnet die neue Rechtschreibung als Generationenproblem, das sich auswachsen werde. Das sei 1901, bei der letzten Reform, genauso gewesen. „Die aktuelle Überarbeitung ist ja nur ein Reförmchen und in der Öffentlichkeit kaum noch ein Thema“, meint Hoberg. Auch wenn man sich ab 2005 – dann läuft die Übergangsfrist aus – offiziell an die neue Schreibung halten müsse, werde es noch einige Jahre eine Mischform geben. „Das ist meiner persönlichen Meinung nach auch überhaupt nicht schlimm“, sagt der Reformer. „Es ist doch schön, wenn mehrere Varianten erlaubt sind.“
Doch diese Varianten verwirren. Da helfen auch Literatur und Presse nicht weiter: Jeder Verlag macht seine eigenen Regeln. Die deutschen Nachrichtenagenturen (und auch UNICUM) übernahmen im August 1999 zwar die meisten Neuregelungen, halten aber vielfach etwa an der alten Kommasetzung fest. Viele Tageszeitungen folgten diesen Richtlinien, einige entwickelten eine hausinterne Orthografie. Die FAZ nutzt – nach einem einjährigen Ausflug in die neue Welt der Rechtschreibung 1999 – konsequent die alten Regeln. Mit der neuen Schreibung gingen sprachliche Nuancen verloren, heißt es aus Frankfurt.
Auch die Literaturhäuser folgen keiner einheitlichen Linie: Suhrkamp und Hanser nutzen im Allgemeinen die alte Rechtschreibung, Kiepenheuer & Witsch sowie Rowohlt eher die neue. Fast alle lassen ihre Autoren schreiben, wie sie es wünschen. Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Martin Walser und Max Goldt beispielsweise beharren auf der alten Schreibung. Fast ganz durchgesetzt hat sich die neue Form nur bei Kinder- und Jugendbüchern. Der stellvertretende Leiter der Dudenredaktion, Werner Schulze-Stubenrecht, betont, dass einer Untersuchung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zufolge schon im Jahr 2001 immerhin 80 Prozent aller neuen Bücher und Broschüren in der modifizierten Schreibweise auf den Markt gekommen sind. Er versteht nach wie vor nicht, dass die Diskussion um die Rechtschreibreform so emotional geführt wurde. „Es ist doch logisch, dass solch ein umfassendes Reformwerk nicht ganz ohne Probleme umgesetzt werden kann. Schließlich ist unsere Sprache historisch gewachsen, und es hat noch keiner geschafft, sie in eine perfekte Form zu pressen.“ Kritiker meinen, die Reform hat ihr wichtigstes Ziel verfehlt: eine einheitliche Schriftsprache im deutschen Sprachraum zu schaffen. Außerdem seien bei dem Versuch, die Schreibung zu vereinfachen, etliche etymologisch (Herkunft und Geschichte der Wörter betrachtend) falsche Formen geschaffen worden. „Es ist eine Beleidigung für den Sprachkundigen, wenn er Quentchen mit ä schreiben muss, obwohl er genau weiß, dass das Wort nicht von Quantum, sondern von quintus abstammt“, sagt Peter Eisenberg. Der Professor für Deutsche Sprache an der Uni Potsdam ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und hat maßgeblich an einem Kompromissvorschlag mitgewirkt. Nachdem die Akademie anfänglich strikt gegen die Rechtschreibreform war, arbeitet sie seit 1999 an dem im April dieses Jahres vorgestellten Kompromiss, der auf Grundlage der bestehenden Reform Änderungen vorschlägt. Danach werden die neue ss-Schreibung, etliche neue Wortschreibungen (zum Beispiel Känguru, überschwänglich) und die erweiterte Silbentrennung akzeptiert. Abgelehnt werden die Durchregelung bei Zusammen- und Getrennt- sowie Groß- und Kleinschreibung und Fälle, „in denen die etymologisch korrekte Schreibweise durch Volksetymologie ersetzt wurde“.
Die Akademie erkannte an, dass es nahezu unmöglich ist, die Reform gänzlich rückgängig zu machen, und wägte ab, was hinnehmbar, was unschädlich und was unverzichtbar ist. „Viele von uns sind über ihren Schatten gesprungen“, sagt Eisenberg. Ob und in welchem Umfang die Vorschläge der Akademie tatsächlich noch eine Reform der Reform bewirken können, ist fraglich. Andere möchten sich zu dem Thema inzwischen gar nicht mehr äußern. Der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair, der noch im August in einem Beitrag in der FAZ die Rechtschreibreform als verbesserungswürdig bezeichnet und eingeräumt hatte, dass einzelne Neuerungen sprachwissenschaftlich nicht haltbar seien, wollte einen Monat später gegenüber UNICUM nichts mehr zu dem Thema sagen. Und für Tobias Funk, Abteilungsleiter Schule bei der Kultusministerkonferenz, heißt es abwarten: „Einfach mal sehen, was bei dem Bericht der Kommission herauskommt.“ Zur Zeit arbeitet die Zwischenstaatliche Rechtschreibkommission an ihrem vierten Bericht, den sie Ende des Jahres an die Kultusministerkonferenz übergibt, und der Änderungsvorschläge enthalten könnte.
Einer will den Kampf auf keinen Fall aufgeben: Theodor Ickler. Der Professor für Deutsch als Fremdsprache an der Uni Erlangen ist als sprachwissenschaftlicher Berater der Initiativen gegen die Rechtschreibreform bekannt geworden. Er vertrat die Reformkritik vor dem Bundesverfassungsgericht und wurde für seine Arbeit mit dem Deutschen Sprachpreis 2002 ausgezeichnet. Ickler kritisiert, dass vor der Reform eine Bestandsaufnahme der deutschen Rechtschreibung ausgeblieben sei und dass ein „Grüppchen von unbedingt Reformwilligen“ die neuen Regelungen durchgebracht habe, ohne Kritiker, Journalisten oder Schriftsteller zu konsultieren. „So konnte es zu dieser Vernichtung kultureller Tradition kommen, die Milliarden kostet und zu unnötiger Verunsicherung führt.“ Doch Ickler sieht noch zwei mögliche Auswege aus dem Reformdilemma: Entweder fordert die Rechtschreibkommission in ihrem vierten Bericht zu umfassenden Korrekturen auf, oder einige der neuen Regelungen werden wie schon bisher unter der Hand durch die laufende Revision der Wörterbücher zurückgenommen. „Wir befinden uns ja bereits auf dem Weg des heimlichen Rückbaus“, sagt Ickler. Er sei überzeugt, dass irgendwann Wörter wie „sogenannt“ wieder zusammen geschrieben werden. „Eine Sache, die nicht lebensfähig ist, kann auf die Dauer nicht bestehen.“
Simone Utler, Kontakt: autor@unicum-verlag.de
UNICUM, Oktober 2003
Hintergrund: Die deutsche Rechtschreibung
1987 erteilte die Kultusministerkonferenz (KMK) dem Mannheimer Institut für deutsche Sprache den Auftrag zur Reform. Nach fünf Jahren legte der Internationale Arbeitskreis für Rechtschreibreform einen alle Bereiche der Orthografie behandelnden, international abgestimmten Vorschlag vor. 1995 beschloss die deutsche KMK die Neuregelung, am 1. Juli 1996 verpflichteten sich die deutschsprachigen Länder durch die „Wiener Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“, die neue Orthografie bis zum 1. August 1998 einzuführen. Während die ersten Wörterbücher in neuer Schreibung erschienen und einige Bundesländer bereits im Schuljahr 1996/97 die neuen Regeln einführten, unterzeichneten auf der Frankfurter Buchmesse 100 Schriftsteller und Wissenschaftler die „Frankfurter Erklärung“ für einen Stopp der Reform. Die öffentliche Diskussion entbrannte und Verwaltungsgerichte mussten prüfen, ob die neue Rechtschreibung an Schulen per Kultusministererlass rechtmäßig war. Die Zwischenstaatliche Kommission für die deutsche Rechtschreibung konstituierte sich, um im Auftrag der KMK die Einführung der neuen Regeln zu begleiten, Zweifelsfälle auszuräumen und alle zwei Jahre Bericht zu erstatten. Im Juli 1998 erklärte das Bundesverfassungsgericht die neue Rechtschreibung für verfassungsgemäß, am 1. August 1998 wurde sie offiziell an Schulen und Behörden eingeführt. Bis zum 31. Juli 2005 gilt noch die Übergangsfrist. Das heißt: Bisherige Schreibweisen gelten als überholt, werden aber noch nicht als Fehler gewertet. |
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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Freitag, 16. Jan. 2004 14:15 Titel: Rechtschreibreformer begutachten ihr eigenes Werk! |
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<b>Rechtschreibreformer begutachten ihr eigenes Werk!</b>
Nur die zwei fettgedruckten Sätze des Leserbriefes wurden abgedruckt.
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<b>Keine Pflicht</b>
UC 10/03 Rechtschreibreform
[Leserbrief zu „Zwischen Anarchie und Resignation“, In: Kultur Spezial (campus 10/03): Rechtschreibreform http://rechtschreibung.unicum.de
Vor fünf Jahren lag der Entwurf der Rechtschreibreform auf dem Tisch. Unterschrift, Stempel, das war's. Das dachten sich die Macher. Doch wer genau hinschaut, merkt, dass bis heute vor allem eines erreicht wurde: die orthografische Anarchie. Jeder schreibt so, wie er will – oder kann. Derzeit arbeitet die „Zwischenstaatliche Rechtschreibkommission“ an ihrem 4. Bericht. Reform-Kritiker äußerten gegenüber UNICUM die Hoffnung, dass dies doch noch einmal zu Verbesserungen führen könnte.
Der Kern des Problems bei der „Nachbesserung“ der Rechtschreibreform wird immer wieder übersehen: Da die Rechtschreibkommission mehrheitlich aus den Autoren der neuen Regeln besteht, wird die KMK bezüglich notwendiger Korrekturen an der Reform von den falschen Leuten beraten – begutachten hier doch die Verfasser ihr eigenes Werk. Man stelle sich diese Konstellation bei einer wissenschaftlichen Veröffentlichung oder der Überprüfung eines Forschungsprojektes vor!
Daß von den Kultus- bzw. Wissenschaftsministern ein wissenschaftlich derart inakzeptables Verfahren betrieben wird, ist in mehrfacher Hinsicht äußerst bedenklich. Warum aber geht dem niemand nach? Hier wäre investigativer Journalismus gefragt! Ich würde es sehr begrüßen, im UNICUM ein entsprechendes Interview mit einem der Entscheidungsträger lesen zu können, nachdem der vierte Bericht erschienen sein wird. Im Anhang zeige ich einige weitergehende Ansatzpunkte auf.
Professor Ickler täuscht sich leider mit seiner Einschätzung der möglichen Auswege aus dem Reformdilemma: Laut Aussage des Kommissionsmitglieds Prof. Gallmann, den ich in seiner Sprechstunde in Jena danach gefragt habe, werden die Änderungsvorschläge des vierten Berichtes ein Teil dessen sein, was im dritten Bericht an Nachbesserungen diskutiert wurde. Das ist nicht viel; nur die gröbsten Schnitzer sollen etwas gemildert werden. Der bislang vollzogene „heimliche Rückbau“ (Ickler) beruht letztlich auf einer „Auslegung“ des Regelwerkes (durch die Rechtschreibkommission) in einer Weise, die den jetzt als Nachbesserung erwogenen Änderungen entspricht. Vor allem aber wird (so Prof. Gallmann) dabei nach dem Prinzip verfahren, daß alles, was jetzt als richtig gilt, auch in Zukunft „richtig“ bleiben soll – das schließt aber auch die grammatisch falschen und die sinnentstellenden bzw. das Lesen erschwerenden Schreibungen mit ein!
Wichtig ist dabei zudem, daß die KMK erst auf Drängen einer Gruppe von Sprachwissenschaftlern hin den Auftrag zur Reform erteilte. Diesen ging es aber in erster Linie darum, mittels der Erleichterung des richtigen Schreibens zu erreichen, daß Unterschiede in der Bildung und damit der sozialen Herkunft nicht mehr an der Rechtschreibung ablesbar wären. Dies sollte durch Simplifizierung erreicht werden – was bedeutet, daß eine verminderte Leistungsfähigkeit der Schriftsprache in Kauf genommen wird.
Eine wirkliche Vereinfachung wurde jedoch nicht erreicht. Dagegen wurden Ermessensspielräume geschaffen (etwa bei der Kommasetzung und den Trennungen), an deren Nutzung der Bildungsgrad der Schreibendenkünftig stärker als bisher deutlich wird. Das bedeutet, daß die Reform sogar das Gegenteil des selbstgesteckten Zieles bewirkt! Außerdem wurde die willkürliche Änderbarkeit der Regeln als selbstverständlich angenommen – was nur möglich ist, wenn, wie es hier geschieht, gleichzeitig die langjährige Entwicklung der Rechtschreibung entlang der Bedürfnisse von Schreibenden und Lesenden geleugnet wird. Nachzulesen ist all dies z. B. in der Magisterarbeit „Orthographie und Politik“ von Heide Kuhlmann (www.heide-kuhlmann.de/ma_frame.html).
Fazit:] <b>Weil die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung mehrheitlich aus den Urhebern der neuen Regeln besteht, sind wirkliche Verbesserungen der reformierten Rechtschreibung nur als Ergebnis der Arbeit einer unabhängigen Expertengruppe zu erwarten. Solange es diese nicht gibt, kommt für einen wissenschaftlich bzw. sachlich denkenden Menschen nur eine Ablehnung der Reform in Frage.</b> [Zudem ist niemand außerhalb von Schule und Verwaltung dazu verpflichtet, die neuen Regeln anzuwenden – das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom Juli 1998 ausdrücklich festgestellt.
Mit freundlichen Grüßen,]
Jan-Martin Wagner
UNICUM campus, Januar 2004
[Anhang: In der öffentlichen Diskussion fehlende Informationen über die Reform
Die Rechtschreibreform beruht auf folgenden Grundlagen:
· Leugnung abgelaufener Sprachentwicklung (*1) – insbesondere damit verbunden, daß die „Reform“ von 1901/02 falsch dargestellt wird. Jene wird als Rechtfertigung für die jetzige Reform genommen unter Zuhilfenahme der Behauptung, man müsse eben die Regeln von damals „auf den Stand der Zeit“ bringen. In Wahrheit wurde aber 1901/02 – anders als bei der heutigen Reform – lediglich eine Auswahl aus vorhandenen Schreibweisengetroffen, und es wurden keine völlig neuen Schreibungen eingeführt.
(*1) Siehe dazu Heide Kuhlmann: „Orthographie und Politik. Zur Debatte um die deutsche Rechtschreibreform.“ Magisterarbeit, Hannover 1999; geringfügig veränderte Version „Orthographie und Politik. Zur Genese eines irrationalen Diskurses.“ (verfügbar unter http://www.heide-kuhlmann.de/ma_frame.html), Abschnitt „Evolution oder Revolution?“.
· Leugnung der Tatsache, daß sich die Schriftsprache dahingehend entwickelt hat, daß die Ausdrucksmöglichkeiten im Sinne der Kommunikation mit dem Leser optimiert werden(*2), außerdem Leugnung von sprachinhärenten Strukturen. Daraus leiten die Reformer ab, daß es sich bei Rechtschreibung nur um beliebig veränderbare Konventionen handele: „rechtschreibnormen sind setzungen, die verändert werden können.“(*3) Der Nachweis der Notwendigkeit der Reform wird aber nie erbracht!
(*2) So behaupteten z. B. Blüml et al.: „Die derzeit noch gültige Regelung ist das Werk einiger Wissenschaftler, Lehrer und Politiker der Jahrhundertwende. Sie ist also eine Konvention und nicht das Jahrtausendwerk eines Volkes. Systematik in der Orthographie entsteht nicht von selbst, sie muß gesteuert werden.“ (zitiert nach H. Kuhlmann, op. cit., Fußnote 30)
(*3) Hermann Zabel, 1974; zitiert nach H. Kuhlmann, op. cit., Fußnote 29.
· Damit im Einklang stehende Behauptung: Die Rechtschreibung sei insgesamt unnötig komplex. Folgerung daraus (wohl im gedanklichen Kontext soziolinguistischer Konzepte der siebziger Jahre): Die Rechtschreibung diene nur der Zementierung einer sozialen Schichtung entlang der Bildungsunterschiede („Sprachbarriere“ etc.) und sei deshalb künstlich kompliziert gemacht worden. Das ist aber schlicht falsch.
· Ideologische Ausrichtung: „Bildungsmonopol“ sollte gebrochen werden. Dazu (Zer-)Störung des „elaborierten Codes“ statt einer individuellen Förderung sozial Benachteiligter(*4). Man bedenke dies im Licht der gegenwärtigen Bildungsmisere, insbesondere im internationalen Vergleich!
(*4) vgl. H. Kuhlmann, op. cit., Abschnitt „Differenz oder Defizit“.
· Ebensowenig wie die Notwendigkeit der Reform wurde auch ihre Durchführbarkeit nie nachgewiesen. Man hat im Moment keinerlei Hinweis darauf, daß die reformierte Schreibung wirklich das leisten kann, was die alte leisten konnte (im Sinne der Kommunikation). Man hat nicht einmal einen Nachweis, daß die angeblich leichter handhabbaren neuen Schreibungen nicht sogar fehlerträchtiger sind als die herkömmlichen.
· Verlust von Ausdrucksmöglichkeiten ist nicht nur zufällige Folge eines schlechten Regelwerkes, sondern fast zwangsläufig Konsequenz der gedanklichen Grundlagen:
– Orientierung des Schwierigkeitsgrades der Regeln am „Abschluß der Pflichtschulzeit“ im Kontrast zum „Leistungsvermögen eines Abiturienten oder an den Bedürfnissen spezieller Berufsgruppen wie der Setzer und Drucker“(*5). Das ist natürlich in dem Kontext zu sehen, daß erstere heute ca. 50 % der Schulabgänger ausmachen (das schließt praktisch alle UNICUM-Leser ein) und letztere für ein möglichst müheloses Lesen arbeiten, ihre Arbeit also nicht Selbstzweck ist.
– Die Ersetzung inhaltsbezogener bzw. struktureller Zusammenhänge (Verbzusatz vs. Adverb etc.) durch rein formale Kriterien (z. B. die Auseinanderschreibung von allen Zusammensetzungen von Verben, deren erster Bestandteil auf -ig, -isch oder -lich endet[*6]). Das ist auch erklärtes Ziel: „... die schreibung vom transport semantischer informationen entlastende ... regulierung“(*7). Das bedeutet eine bewußte und erhebliche Verminderung der schriftsprachlichen Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten.
(*5) H. Zabel: „Die neue deutsche Rechtschreibung. Überblick und Kommentar.“ Gütersloh 1997.
(*6) § 34 E3 (3) Regelwerk; http://www.ids-mannheim.de/reform/b2.html#34E3.
(*7) Glinz, Schaeder, Zabel: „Sprache – Schrift – Rechtschreibreform.“ Düsseldorf 1987.
· Zur Modernität: Die Heysesche s-Laut-Schreibung (reformierte ss/ß-Regel) ist Rückkehr zu einer Regel aus dem vorletzten Jahrhundert; vermehrte Großschreibung entspricht den Gepflogenheiten des Barock; vermehrte Getrenntschreibung widerspricht dem Trend der Sprachentwicklung zu Univerbierungen.
· Zur Wissenschaftlichkeit:
– Die Reformer arbeiten auf Grundlagen, die nicht gesichert sind oder, schlimmer noch, schlicht auf Ideologisierungen beruhen.
– Das Verfahren, dieselben Leute sowohl mit der Reform als auch der mit Beobachtung ihrer Einführungsphase zu betrauen, widerspricht jeglichem Grundsatz wissenschaftlicher Arbeit (im Sinne von peer reviews etc.). Der dritte Kommissionsbericht enthält inhaltlich falsche bzw. grob einseitige Darstellungen.
Ich hoffe, daß UNICUM mehr tut, als abzuwarten und die Hoffnung auf Besserung nicht aufzugeben. Leider scheinen sich einige UNICUM-Autoren aber immer noch nach dem fehlerhaften Duden von 1996 zu richten...
Jan-Martin Wagner]
http://www1.unicum.de/forum/upload/showthread.php?threadid=8605 |
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