Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen |
Autor |
Nachricht |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Freitag, 05. Nov. 2004 23:23 Titel: Grammatisches Telefon - Aachen |
|
|
Rechtschreibreform - was nun?
Die künftige Ausrichtung des Grammatischen Telefons
Prof. Dr. Christian Stetter (RWTH Aachen), 3. November 2004
Der Prozeß staatlicher Einflußnahme auf die Entwicklung der Orthographie des Deutschen ist wohl abgeschlossen. Die Konferenzen der Ministerpräsidenten und Kultusminister der Länder haben bestätigt, daß die sogenannte Amtliche Regelung im August 2005 für Schulen alleinverbindlich wird - wie immer diese Regelung bis dahin aussehen mag. Gleichzeitig soll ein Rat für Rechtschreibung die weitere Entwicklung beobachten und die Neuregelung in den umstrittenen Gebieten an den allgemein akzeptierten Schriftgebrauch anpassen. Der Staat zieht sich also in Sachen Orthographie aus der Verantwortung für das ungeliebte Kind zurück, das er in die Welt gesetzt hat.
Dies kommt dem Eingeständnis gleich, daß er auf diesem Gebiet keine Regelungskompetenz besitzt. Die orthographischen Normen einer literalen Gesellschaft lassen sich eben nicht per Dekret regeln. Und wenn es schon dem Staat nicht gelungen ist, die Mehrheit der Bevölkerung vom Sinn der Neuregelung zu überzeugen, wie sollte das dann einem durch nichts legitimierten Rat von Privatleuten gelingen?
Resultat dieser Farce ist, daß die Homogenität der deutschen Orthographie zerstört ist. Wir werden in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten mit einer gespaltenen Rechtschreibung zu leben haben. Dies ist nicht nur ein kultureller Verlust aus den grammatischen, semantischen und stilistischen Gründen, die - zu Recht - gegen die Neuregelung vorgebracht worden sind. Nebenbei ist es angesichts der sinnlosen Revision von Büchern und Texten und Millionen vergeudeter Schulungsstunden in Administrationen und Unternehmen auch ein beträchtlicher ökonomischer Verlust.
Die Homogenität unserer Orthographie muß also zurückgewonnen werden. Dies kann nur durch die Gemeinschaft der Schreibenden geschehen. Das Grammatische Telefon sieht es als seine Aufgabe an, diesen Prozeß zu unterstützen. Hierbei hat die alte Regelung den Vorzug, wenigstens in sich so weit eindeutig zu sein, wie man dies von der Orthographie einer großen Literatursprache erwarten kann, in deren System ja andauernd irgend etwas in Bewegung ist. Die Neuregelung fördert dagegen in sich schon die Heterogenität unserer Orthographie: indem sie verschiedene Regelauslegungen zuläßt, mit jeder Version neue Varianten hinzukommen und jeder sich seine eigene Hausschreibung daraus zusammenstellt. Und weil zudem der Duden von Auflage zu Auflage die „Rückschreibung“ praktiziert, sollte man sich im Zweifelsfall - um des Ziels Homogenität willen - der alten Regelung anschließen.
Das Grammatische Telefon versteht sich daher künftig besonders als Beratungsangebot für diejenigen, die nach der alten Regelung schreiben.
Denn da Duden und Bertelsmann sich auf die Neuregelung verpflichtet haben, fehlt eine entsprechende Orientierung für die Anhänger der alten oder „bewährten“ Regelung. Natürlich kann beim Grammatischen Telefon auch anrufen, wer aus schulischen oder beruflichen Gründen nach der Neuregelung schreiben muß. Die überwiegende Mehrheit der Anfragen hat schließlich nach wie vor nichts mit der irreführenden Opposition von alter und neuer Rechtschreibung zu tun. Tatsächlich ist die Menge der Schreibungen, die durch die Neuregelung nicht tangiert worden sind, viel größer als die Menge der divergenten Schreibungen. Betrifft eine Frage eine „neue“ Schreibweise, werden wir darauf hinweisen, wenn wir diese für nicht vertretbar halten, und gegebenenfalls eine andere - die alte - Schreibweise anraten. Auch dort, wo die Neuregelung als Variante die „alte“ Schreibung zuläßt, werden wir diese empfehlen. Darüber hinaus werden wir uns bemühen, über die oben skizzierte Normenproblematik aufzuklären.
GRAMMATISCHES TELEFON - 0241 / 80-96074
www.grammatisches-telefon.de/rechtschreibreform.html |
|
Nach oben |
|
 |
Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
|
: Montag, 08. Nov. 2004 21:55 Titel: Stellungnahme des Grammatischen Telefons |
|
|
Schlimmer hätte es nicht kommen können
Stellungnahme des Grammatischen Telefons im Leserbrief
Zum Ausstieg des Aachener Grammatischen Telefons aus der Rechtschreibreform sowie Leserbriefen dazu äußert sich Prof. Dr. Christian Stetter, Eilfschornsteinstraße 15, aus Aachen:
Ein Leserbriefschreiber hat zu meinen Darlegungen zur so genannten Rechtschreibreform die Meinung vertreten, a) sei über die Rechtschreibung des Deutschen durch die Kultusministerkonferenz (KMK) definitiv entschieden worden, b) sei die Neuregelung der Orthographie des Deutschen durch einen demokratischen Prozess beschlossen worden. Also solle man c) den „einfacheren Schreiblernprozess“, der sich jetzt in den Schulen entwickle, bitte nicht länger rückgängig zu machen versuchen.
Leider sind alle diese Annahmen unzutreffend: Der Staat besitzt nicht die Kompetenz, die Orthographie des Deutschen zu regeln. Staatliche Regelungskompetenz ist definiert dadurch, dass ihr eine Sanktionskompetenz entspricht. Im Verkehrs- oder Steuerwesen kann er dies auch. Aber nicht in der Orthographie. Denn der Staat kann ja die Zeitungs- und Literaturverlage, die bei der alten Regelung bleiben oder zu ihr zurückkehren, nicht zur Übernahme der neuen zwingen. Die Schriftsprache „gehört“ nicht dem Staat, sondern der Sprachgemeinschaft, genauer gesagt: denen, die die Schrift benutzen und sie im Gebrauch weiterentwickeln.
Unzutreffend ist auch die Behauptung, jeder habe die Möglichkeit gehabt, sich am Reformprozess zu beteiligen. Zu den Vorschlägen der Rechtschreibkommission hat es ein einziges Hearing gegeben: im Mai 1993 in Bad Godesberg. Schon damals ist auf die Mängel der Neuregelung der Getrennt- und Zusammenschreibung klar hingewiesen worden. Ein Vorschlag zur Neuregelung der Groß- und Kleinschreibung hat damals ebenso wenig vorgelegen wie eine Wortliste. Diese Neuerungen sind von der Kommission Ende 1994 beschlossen worden, ohne dass deren Ergebnisse jemals öffentlich hätten diskutiert werden können.
Die Kommission und die KMK haben alle Einwände in den Wind geschlagen, so auch eine eindeutige Meinungsäußerung fast aller führenden deutschsprachigen Schriftsteller, desgleichen ein Protestschreiben von circa 500 Professoren von Sprach- und Literaturwissenschaften, der AG Geschriebene Sprache der Reimers-Stiftung usw.. Fast alle Experten haben also entschieden abgeraten, ohne dass dies die Kommission im geringsten beeindruckt hätte.
Nun hat man das Desaster. Die überwiegende Mehrheit der schreibenden Bevölkerung macht nicht mit, und zwar aus guten Gründen: die alte Orthographie war weitestgehend eindeutig, grammatisch korrekt und semantisch differenziert, nicht ganz einfach, aber eben doch in ihrer Anlage klar. Die Neuregelung führt zu grammatisch falschen Schreibungen, semantischen Doppeldeutigkeiten – und hat mit Tausenden von Varianten vor allem die Eindeutigkeit, das heißt die logische Digitalität unserer Schrift zerstört. Dies im Zeitalter elektronischer Textverarbeitung – ein größerer Schildbürgerstreich ist kaum denkbar, mit ebenso horrenden wie unsinnigen Kosten. Jetzt haben wir eine auf Jahrzehnte hin gespaltene Orthographie - schlimmer hätte es nicht kommen können.
Nicht ein einziges Argument ist für die Neuregelung geltend gemacht worden mit Ausnahme dessen, dass die Lernenden nun weniger Fehler machten. Dies liegt aber nicht an der Klarheit der Neuregelung, sondern an ihrer Ungenauigkeit und Mehrdeutigkeit: bei der Unzahl von Varianten, die sie zulässt, bei der Vielzahl von Modifikationen der Neuregelung ist kaum mehr zu entscheiden, was ein Fehler ist und was nicht. Die orthographische Kompetenz der Schulabsolventen ist seit Einführung der Neuregelung daher auch drastisch gesunken – nicht eben ein Ausweis von Erfolg.
Die Orthographie ist keine willkürliche Regelung der Alphabetschrift, sondern deren „Betriebssystem“, ohne das wir diese Schrift nicht verwenden könnten. Sie ist daher genau so alt wie die Schrift selbst - ein Evolutionsprodukt, nicht Konstruktion von Kommissionen. Darum wird über ihre Regelungen ebenso wenig demokratisch entschieden wie über Lehrgegenstände von Mathematik oder Geographie. Diese Regelungen sind Problemlösungen, die von denen erarbeitet wurden, die schreiben können oder davon genug verstehen: von Literaten und Verlagen. Dies war und ist in jeder literalen Gesellschaft die Voraussetzung für Adelung oder Duden - und so wird es auch bleiben.
Man schädigt eine ganze Generation von Schülern, wenn man sie eine Orthographie lehrt, die außerhalb der Schule weitgehend nicht akzeptiert wird. Doch das haben die zu verantworten, die diesen Schildbürgerstreich begangen haben, nicht die, die bei einer guten, weil korrekten und differenzierten Orthographie bleiben – und diese haben das Recht, dabei zu bleiben. Das hätten die Kultusminister sich vorher überlegen sollen. Ein unsäglicher Dilettantismus hat die literale Grundlage unserer Bildungs- und Wissenssysteme beschädigt. Das können wir uns, glaube ich, auf Dauer nicht leisten.
Aachener Zeitung vom 6. November 2004 |
|
Nach oben |
|
 |
|
Powered by phpBB © 2001, 2002 phpBB Group
|