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DIE WELT
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Manfred Riebe



Registriert seit: 23.10.2002
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Beitrag: Dienstag, 20. Apr. 2004 21:30    Titel: Die Schreiber wollen die neue Schreibe nicht Antworten mit Zitat

Die Schreiber wollen die neue Schreibe nicht
Das Desaster der Rechtschreibreform oder: Warum Herr Blüml die Welt nicht mehr versteht
von Dankwart Guratzsch

„Zum ersten Mal, seit es staatlich fundierte Akademien der Wissenschaften und der Künste in Deutschland gibt, haben im November vorigen Jahres die Präsidenten von acht solcher Akademien, denen sich im Dezember die Heidelberger Akademie der Wissenschaften anschloss, ihre Stimme vereinigt, um bei den Kultusministern der deutschen Bundesländer als den politisch unablösbar Verantwortlichen in aller Dringlichkeit eine Reform der 1995/96 von ihnen beschlossenen Rechtschreibreform anzumahnen. Unsere Stimme ist ungehört verhallt.“

Mit dieser Feststellung beginnt der dramatische Aufruf, den dieselben neun Akademien jetzt an die Kultusminister gerichtet haben: „Nehmen Sie Ihre politische Verantwortung für die deutsche Rechtschreibkultur wahr!“ Der Vorgang dokumentiert ein Ausmaß der Entfremdung zwischen schreibender Intelligenz und Politik in den deutschsprachigen Ländern, wie es sie seit der Einführung der deutschen Einheitsschreibung durch Konrad Duden nicht gegeben hat.

Die an die Reform der Rechtschreibung geknüpften Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Dudens Werk ist zerstört. Der Widerstand gegen die Neuerungen ist trotz der zwangsweisen Einführung und Anerziehung an den Schulen nicht erlahmt. Die neuen Schreibweisen wollen sich nicht einbürgern. Ganze Berufsgruppen, zuletzt 50 führende deutsche und schweizerische Juristen, verweigern sich den neuen Regeln und verlangen die Rückkehr zur alten Orthographie.

Die Gründe für dieses Desaster sind leicht auszumachen. Die neue Rechtschreibung wurde ja nicht aus dem über Jahrhunderte verfeinerten Sprach- und Schriftgebrauch und einer „modernen“ Sprachentwicklung abgeleitet, sondern sie ist ein künstliches, am Schreibtisch ausgehecktes Konstrukt. Alles das, was der intelligente Schreibende als Rechtschreibhilfe heranzieht - etymologische Ableitungen, Bedeutungsgehalt, analogische Wortbildungen, Satzkonstruktion - wurde außer Kraft gesetzt oder der Beliebigkeit anheim gestellt.

Der Mainzer Sprachwissenschaftler Werner H. Veith hat nachgerechnet, dass neben den 112 Regeln nicht weniger als 1106 Anwendungsbestimmungen in Form von Unterregeln, Spezifikationen, Kannbestimmungen, Bedingungen, Listen und Verweisen aufgestellt werden mussten, um das Durcheinander in ein „System“ zu bringen. Der Anspruch und die einzige Legitimation der Reform, die Anwendung der deutschen Schriftsprache unter Wahrung der Einheitlichkeit zu erleichtern sowie Fehlerquellen zu minimieren, wurde nicht nur nicht erfüllt, sondern ad absurdum geführt.

Aber was wollen Sie denn, verteidigte sich im Deutschlandfunk der österreichische Oberlehrer Blüml, derzeit Vorsitzender der Mannheimer Rechtschreibkommission. „Die neuen Schreibweisen werden doch an den Schulen praktiziert und in den Zeitungen angewendet!“ Er vergaß hinzuzufügen, mit welcher Fehlerquote. Die vermeintlich „weite Verbreitung“ der Neuschreibweisen ist reine Fiktion. In Publikationen und im digitalen Schriftverkehr wird die Anwendung der Reformorthographie von Computerprogrammen gesteuert - sie ist keine Leistung der Autoren. Wie viele Schreibkundige sie tatsächlich beherrschen, ist bisher nie geprüft worden. Spötter behaupten nachweisen zu können, dass nicht einmal den Kommissionsmitgliedern selbst alle selbst erfundenen Regeln geläufig sind.

Die jetzt von der Kommission selbst vorgeschlagene (erneute) „Reform der Reform“ verstärkt die Unsicherheit. In einem aus angeblich „urheberrechtlichen Gründen“ schnell wieder zurückgezogenen „Anhang 2“ hatten die Reformer aufgelistet, wie viele Wörter allein mit dem Anfangsbuchstaben „D“ betroffen sein könnten. Dies ermöglicht eine seriöse Hochrechnung auf das gesamte Alphabet. Danach, so der Erlanger Linguist Theodor Ickler, ist von 3000 bis 4000 (weiteren) Abweichungen von der neuen Rechtschreibung auszugehen. Ohne neue Wörterbücher können Lehrer nicht mehr korrigieren. Zu allem Überfluss verlangen die Urheber dieses Chaos, dass in Zukunft nur noch sie allein für weitere „Reformen der Reform“ zuständig sein sollen.

Es ist dieses Begehren, das für die Akademien nun offenbar das Fass zum Überlaufen bringt. „Angesichts der bisherigen Arbeitsweise und der bisherigen Arbeitsergebnisse der Kommission“ sei in einer solchen „Ermächtigung“ der zwölf Mitglieder „eine Gefahr für Bestand und Entwicklung der deutschen Schriftsprache“ zu sehen. Aber ist es mit einer bloßen „Umbildung“ der Kommission, wie die Akademien sie fordern, getan? Zur Erinnerung: Die alte Rechtschreibung ermöglichte es, dass die Schriftsprache dem Schriftgebrauch ständig behutsam angepasst wurde. Wäre es nicht einfacher, zu ihr zurückzukehren - ganz ohne Kommission?

DIE WELT vom 25. Februar 2004
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Manfred Riebe



Registriert seit: 23.10.2002
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Beitrag: Dienstag, 20. Apr. 2004 21:36    Titel: „Man kann nicht reformieren, was man nicht versteht“ Antworten mit Zitat

„Man kann nicht reformieren, was man nicht versteht“
Sprachwissenschaftler kritisieren die Folgen der Rechtschreibumstellung an den Schulen
von Dankwart Guratzsch

Die Kultusministerkonferenz hat ihre Entscheidung über die „Verbindlichkeit“ der neuen Rechtschreibung an den Schulen in aller Stille überraschend auf Juni vertagt; bis dahin soll es zu einer erneuten Überarbeitung der neuen Regeln kommen, zu der die Zwischenstaatliche Kommission in Mannheim nun die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt hinzuziehen soll. Während dessen wird die Kritik immer lauter. Über die Umsetzung der Regeln an den Schulen sprach Dankwart Guratzsch auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft mit den Leitern der Arbeitsgruppe „Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht“, Ursula Bredel und Hartmut Günther.

DIE WELT: Vor sieben Jahren hat der Vorstand Ihrer Gesellschaft gewarnt: „Die vorgeschlagene Reform entspricht nicht dem Stand der wissenschaftlichen Forschung.“ Beobachten Sie, dass den Schülern die Handhabung der Rechtschreibung heute leichter fällt als vor der Reform?

Ursula Bredel: Wir unterscheiden zwischen „Neulernern“ und „Umlernern“, also solchen Schülern, die von Anfang an nur die neuen Schreibweisen gelernt haben, und solchen, die noch die herkömmliche Rechtschreibung kennen. Über die zweite Gruppe gibt es noch kaum Untersuchungen. Die erste ist immer noch nicht groß genug, um unter didaktischer Perspektive beurteilen zu können, was tatsächlich leichter geworden ist.

Hartmut Günther: Ich habe noch von keinem einzigen Lehrer bestätigt bekommen, dass weniger Fehler gemacht werden. Die Rechtschreibung ist an einigen Punkten im Gegenteil erschwert worden.

DIE WELT: Gilt das auch für die „Neulerner“?

Bredel: Besonders für sie. Denn durch die neuen Regeln ist die Systemhaftigkeit der Orthographie verloren gegangen. Neulerner begegnen deshalb der Rechtschreibung mit weniger günstigen Voraussetzungen.

Günther: Es wird ja oft übersehen: Das alte System war recht gut.

Bredel: Schlecht war nur die Erläuterung der alten Regeln, wie sie zum Beispiel in den Schulen gelernt werden sollte.

DIE WELT: Nennen Sie ein Beispiel!

Bredel: Nehmen Sie die alte Duden-Regel 60: „Substantive werden groß geschrieben.“ Dazu mussten dann Ausnahmen, Ausnahmen der Ausnahmen und womöglich Ausnahmen von den Ausnahmen der Ausnahmen gelernt werden. Aber man hätte alles in eine einzige Regel zusammenfassen können: „Groß geschrieben werden erweiterbare Kerne von nominalen Gruppen.“ Der Satz ersetzt 44 Duden-Regeln.

DIE WELT: Ist das für Kinder erlernbar?

Bredel: Das ist die Aufgabe der Schule. Die Erfahrung zeigt, dass sich Kinder dafür spielerisch begeistern lassen. Wenn Sie solche Erweiterungen vorführen, etwa: „Der (kleine) Hund jagt die (große) Katze auf den (kahlen) Baum“, dann machen die Kinder selbst weiter und haben keine Schwierigkeiten mehr mit Schreibweisen, die früher Probleme bereiteten: „das (bessere) Selbst“, „das (eigene) Ich“. Wir müssen erklären, was los ist, und nicht gleich die Orthographie verändern.

DIE WELT: Also war die Rechtschreibreform überflüssig?

Günther: Wir waren strikt gegen die Reform. Man kann nicht etwas reformieren, was man selbst nicht versteht.

Bredel: Voraussetzung hätte sein müssen, dass man sich das System erst einmal genau ansieht. Das ist nicht geschehen. Es gab nicht einmal eine empirische Analyse, wie Kinder Rechtschreibung lernen. Man darf sich deshalb nicht wundern, wenn sich die Erwartungen nicht erfüllen.

DIE WELT: Die ständigen Nachbesserungen scheinen das zu bestätigen.

Günther: Und diese unumgänglichen Nachbesserungen führen zu immer neuen Problemen. In einer Reihe von Bereichen ist die Einheitlichkeit der Rechtschreibung durcheinander geraten.

DIE WELT: Wo liegen die größten Klippen für die „Neulerner“?

Günther: Die ß-Regelung ist relativ klar. Die macht Schülern, die das Alte gelernt haben, keine Schwierigkeiten. Enorme Probleme bereitet die neue Getrennt- und Zusammenschreibung. Denken Sie an „Leid tun“, das man auch klein schreiben darf, dann allerdings nur in einem Wort. Das einzig Vernünftige, „leid tun“ wie früher klein, aber getrennt, bleibt verboten. Wir stoßen in Diktaten auf immer mehr Fehler, die es früher nicht gab.

DIE WELT: Ein Beispiel?

Bredel: Die Schüler reißen beliebig alles Mögliche auseinander und schreiben „früh stücken“, „Brillen Gestell“, „Tiger Wäsche“ usw.

DIE WELT: Wie wirkt sich die neue Kommasetzungs-Freiheit aus?

Günther: Der Verzicht auf das Komma bei erweitertem Infinitiv mit „zu“ führt dazu, dass das Komma nun auch bei anderen Konstruktionen rausfällt, zum Beispiel vor Relativsätzen. Die Fehlerquote bei der Interpunktion hat effektiv zugenommen. Und das hat weit reichende Folgen. Denn dadurch wird die Lesbarkeit erschwert.

DIE WELT vom 9. März 2004
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Manfred Riebe



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Beitrag: Freitag, 09. Jul. 2004 07:30    Titel: Der Beschluß der Nachrichtenagenturen von 1998 Antworten mit Zitat

Der Beschluß der Nachrichtenagenturen von 1998
__________________________________________

Agenturen arbeiten an Schreibregeln


ADN Berlin – Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen wollen die Rechtschreibreform vom 1. August 1999 an in ihren Diensten teilweise umsetzen. Die Detailarbeiten für eine Liste gemeinsamer Schreibweisen bei Mehrfachvarianten und in strittigen Fragen haben begonnen. Ziel ist eine möglichst einheitliche Interpretation des Regelwerkes. Über das Ergebnis wollen die Agenturen so schnell wie möglich informieren.
Beteiligt an den Arbeiten sind die Agenturen AFP, AP, ddp/ADN, dpa, epd, KNA, Reuters, sid, VWD, APA (Österreich) und SDA (Schweiz).

In: DIE WELT vom 10./11. Oktober 1998, S. 2
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Ulrich Brosinsky



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Beitrag: Montag, 09. Aug. 2004 02:21    Titel: Wie geht es weiter? Antworten mit Zitat

Wie geht es weiter?
Die am häufigsten gestellten Fragen im Streit um die Rechtschreibung
von Dankwart Guratzsch

Berlin - Die Entscheidung der Verlage Axel Springer und Spiegel, zur klassischen deutschen Rechtschreibung zurückzukehren, wird heiß debattiert. Dabei ist deutlich geworden, dass die Unsicherheit über die Folgen eines solchen Schrittes in der Öffentlichkeit groß ist. Die WELT beantwortet die am häufigsten gestellten Fragen:

1. Führt die Rückkehr der Verlage zur klassischen Schreibweise in die "Rechtschreib-Anarchie"?
Nein, denn die Verlage kehren zu jener Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache zurück, die Konrad Duden begründet hat und die durch die neue Rechtschreibung zerstört worden ist. Heute lehren die Schulen eine Orthografie, die von der Gesellschaft abgelehnt und von einer Mehrheit im privaten Schriftgebrauch nicht angewendet wird. Sie steht im Gegensatz zu 95 Prozent des deutschsprachigen Schriftgutes. Verlage und Institute haben Dutzende Hausorthografien entwickelt. Wenn große Verlage der entstandenen Anarchie eine Absage erteilen, bauen sie darauf, dass andere diesen Schritt nachvollziehen und die Kultusbürokratie folgt. So könnte die Einheitlichkeit der Schriftsprache zurückgewonnen werden.

2. Stellt es nicht eine Anmaßung der Verlage dar, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen?
Nein, denn die Rechtschreibung ist seit dem Mittelalter das Privileg der Verlage und Buchdrucker. Auch Konrad Duden hatte sich daher bei der Schaffung der deutschen Einheitsschriftsprache im Wesentlichen am "Schriftusus" orientiert - also an den eingebürgerten Schreibweisen der Verlage. Erst der dirigistische Eingriff der Kultusministerkonferenz hat diesem jahrhundertealten liberalen Brauch ein abruptes Ende bereitet. Indem die Verlage die Sache wieder in die eigenen Hände nehmen, ist die Voraussetzung gegeben, dass wieder die Praxis über die Theorie triumphiert.

3. Zwölf Millionen Kinder sind in der neuen Rechtschreibung unterrichtet worden - ist es zu verantworten, dass sie wieder umlernen müssen?
Ja, denn gleichzeitig verringert sich die Verunsicherung. Die Schüler sind als Versuchskaninchen von Sprachdiktatoren missbraucht worden. Sie lernten Schreibweisen, von denen sie auf der Universität erfahren, dass sie etymologisch und grammatikalisch falsch sind. Die Rückkehr zur klassischen Rechtschreibung bedeutet den Ausstieg aus der verordneten Unmündigkeit. Diesem Prozess kann und muss man so viel Zeit lassen wie der gewaltsamen Einführung der neuen Rechtschreibung.

4. Kostet die Rückumstellung nicht Millionenbeträge, weil Schulbücher neu gedruckt werden müssen?
Nein, denn alle Schulbücher werden turnusmäßig neu gedruckt. Wenn die Neuauflagen in klassischer Rechtschreibung gedruckt werden, gibt es in zehn Jahren kein Buch in "neuer Rechtschreibung" mehr.

5. Ist die Rückkehr zur alten Schreibweise denn nicht ein äußerst mühsamer und umständlicher Prozess?
Nein, denn die neuen Schreibweisen haben sich bisher überwiegend nur mithilfe von Computer-Rechtschreibprogrammen eingebürgert. Deshalb genügt zumeist ein Knopfdruck am Computer, um zu den klassischen Schreibweisen zurückzukehren.

6. Ist die herkömmliche Rechtschreibung nicht ebenso fehlerträchtig wie die neue?
Dies ist teilweise richtig. Jedes Regelsystem für die Sprache ist mit Zweifelsfällen belastet, so dass es immer Wörter und Redewendungen geben wird, die nachgeschlagen werden müssen. Der Gewinn bei der Rückkehr zur "Klassik" liegt im Systemwechsel. Die herkömmliche Rechtschreibung orientierte sich an den Wortbedeutungen, die neue an abstrakten Regeln mit Tausenden Unterregeln und Ausnahmen. Die Ableitung einer Schreibweise aus der Wortbedeutung und dem Sinnzusammenhang erleichtert den Zugang zur richtigen Schreibweise auch ohne Wörterbuch und erschließt den Geist der Sprache, die sich ständig lebendig weiterentwickelt.

7. Ist die Rückkehr zur klassischen Rechtschreibung politisch motiviert?
Nein, denn die Verlage repräsentieren verschiedene gesellschaftliche Lager. So wie die neue Rechtschreibung von Vertretern aller politischen Gruppierungen unterstützt wird, wird sie auch von Vertretern aller Lager abgelehnt.

8. Ist die Rückkehr zur "Klassik" eine Sache abgehobener Eliten?
Nein, denn alle Meinungsumfragen bestätigen, dass die neue Rechtschreibung von der Mehrzahl der Deutschen abgelehnt und die herkömmliche zurückgewünscht wird.

9. Was folgt auf den Schritt?
Das große Echo zeigt, dass sich das Thema nicht mehr unter den Tisch kehren lässt, wie es die Kultusministerkonferenz lange versucht hatte. Andere Verlage werden sich anschließen. Auf der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz steht die Rechtschreibung auf der Tagesordnung. Schon jetzt glaubt niemand mehr daran, dass die neue Rechtschreibung ab August 2005 "verbindlich" wird.

10. Wird die Rechtschreibung der Zukunft ein Kompromiss sein?
Wenn sich die Vernunft durchsetzt, entscheiden darüber die Anwender und nicht Bürokraten und Politiker. Am wahrscheinlichsten ist es, dass sich die Schriftsprache auf der Grundlage der herkömmlichen Schreibweisen lebendig weiterentwickelt, was keineswegs ausschließt, dass sich auch neue Schreibweisen behaupten.


DIE WELT Montag, 9. August 2004
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Ulrich Brosinsky



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Beitrag: Montag, 09. Aug. 2004 02:59    Titel: Erwähnung des VRS-Widerstandes Antworten mit Zitat

In diesem Artikel der Zeitung DIE WELT vom 7. Aug. 2004 unter der Rubrik Politik/Deutschland wird der VRS zweimal genannt.


Widerstand von Anfang an

Fast zeitgleich mit der Bekanntgabe der Rechtschreibreform im Sommer 1996 formierte sich eine breite Widerstandsfront gegen das neue Regelwerk. Heute, acht Jahre später, ist die bunte Vielfalt der Initiativen und Aktionen, die das Inkrafttreten der Reform zu verhindern suchen, kaum noch zu überblicken. Auftakt der Aktionen bildete die "Frankfurter Erklärung": Am 6. Oktober 1996 schlossen sich über 100 Schriftsteller und Wissenschaftler - darunter Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser und Siegfried Lenz - auf der Frankfurter Buchmesse zusammen, um ihren Protest zu formulieren. Die bis heute einflußreichste Bewegung gegen das neue Regelwerk wurde einen Monat später von dem Studienrat Friedrich Denk gegründet. Mittlerweile hat sich die Initiative "Wir gegen die Rechtschreibreform" längst bundesweit etabliert. Den vorläufigen Höhepunkt des Widerstandes gegen die Reform bildete der Volksentscheid in Schleswig-Holstein im Sommer 1998. Mehr als 54 Prozent der Bürger votierten damals gegen die Einführung der Reform. Der durch den Volksentscheid getroffene Beschluß zur Änderung des Landesschulgesetzes wurde allerdings ein Jahr später vom Landtag einstimmig wiederaufgehoben. In den folgenden Monaten und Jahren ist die Opposition gegen die Rechtschreibreform um zahlreiche weitere Initiativen von Lehrern, Schülern, Eltern, Bibliothekaren, Juristen oder Sekretärinnen gewachsen. Zudem gibt es Organisationen wie den "Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V." (VRS), die Berliner Initiative "Wir sind das Rechtschreibvolk!" oder die 2000 gegründete "Initiative für vernünftige Rechtschreibung". Zum Jahrestag der "Frankfurter Erklärung" im Oktober 2003 verabschiedete der VRS die "Resolution zur Wiederherstellung der bisherigen einheitlichen Rechtschreibung", die von vielen Vereinen, Unternehmen und Autoren unterzeichnet wurde. M.P.

Artikel erschienen am Samstag, dem 7. August 2004
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Ulrich Brosinsky



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Beitrag: Montag, 09. Aug. 2004 03:21    Titel: Verkrachte Übung Antworten mit Zitat

Die Chronik einer verkrachten Übung
Die Reform der Rechtschreibung sorgte von Anfang an für Chaos - und wurde von der Bevölkerung mehrheitlich zurückgewiesen


von Konrad Adam


Die Geschichte der Rechtschreibreform gleicht der aller anderen Reformen, sie ist lang, beschwerlich, ruhmlos und chaotisch. Daß/dass ihr jetzt auch die Gutwilligen von der Fahne gehen, macht sie vollends zur Groteske. Obwohl die Reformer das Werk von Konrad Duden, der sich zum Hauptschullehrer der Nation berufen fühlte, erklärtermaßen fortsetzen wollten, haben sie die oberste seiner Maximen, "Schreibe, wie du sprichst", Schritt für Schritt aufgegeben, gelegentlich sogar ins Gegenteil verkehrt. Dies jüngste und traurigste Kapitel der deutschen Reformagenda begann vor sechs Jahren. Damals beschlossen die Kultusminister, sich der Rechtschreibung anzunehmen und neue, verbindliche Regeln für sie aufzustellen. Von da an ging's bergab.

Zwar haben selbst die Kultusminister die radikalsten Vorschläge, an denen schon damals kein Mangel war, nicht aufgegriffen. Die zu Unrecht sogenannte/so genannte "gemäßigte" Kleinschreibung - "ich habe liebe genossen" - fand bei ihnen ebensowenig/ebenso wenig Anklang wie der generelle Verzicht auf Buchstaben wie "v" oder "c" sowie die allermeisten Kommata - "forsicht der kan kan lek sein". Mit vielen anderen Vorschlägen konnten sich die Reformer allerdings durchsetzen. Das führte in der Folgezeit zu einer heillosen Verwirrung: Was dazu bestimmt war, den Schreibenden mehr Freiheit zu gewähren, wurde als Einladung zum Chaos verstanden und dementsprechend zurückgewiesen.

Das Unglück begann am 1. Juli 1996, als sich die Vertreter aller deutschsprachigen Länder, neben Deutschland also auch Österreichs, der Schweiz und Liechtensteins, in einer "Wiener Erklärung" darauf verständigten, zwei Jahre später die neuen Regeln an den Grundschulen zu lehren und im Schriftverkehr der Behörden zu beachten. Kaum war die Zeit gekommen, wurde der Widerspruch überlaut. Im Herbst des Jahres 1998 nahmen an die hundert deutsche Schriftsteller die Buchmesse zum Anlaß/Anlass, in ihrer "Frankfurter Erklärung" gegen die neuen Vorschriften zu protestieren. Die Kultusminister antworteten wenig später mit einer "Dresdner Erklärung", in der sie ihre Absicht bekräftigten, an der neuen, verbindlichen Schreibweise festzuhalten.

Jetzt begann das Drama seine deutschen, absurden Züge anzunehmen. Die Zahl der Gerichte und Obergerichte, die über Klagen empörter Eltern zu entscheiden hatten, läßt/lässt sich kaum noch zählen. Wie üblich, wurde auch das Bundesverfassungsgericht danach befragt, ob "radfahren" Vorzug verdiene vor "Rad fahren". Es gab Volksbegehren und mindestens einen sogar erfolgreichen Volksentscheid, demnächst werden sich die Ministerpräsidenten mit der Sache befassen. Anders als in der Schweiz, wo man sich mit den Dingen pragmatisch zu arrangieren weiß, verlangen die Deutschen nach der Obrigkeit, nach der Polizeitatze auch im Schriftverkehr, wie Wilhelm Raabe seinerzeit geklagt hatte.

Die ließ sich auch nicht lange bitten und gab den Deutschen auf, in Zukunft "Schifffahrt" statt "Schiffahrt" zu schreiben. Der Fehler bestand weniger in dem Drang nach einer wie auch immer gearteten Einheitlichkeit als in dem Anspruch, die Rechtschreibregeln exakt und logisch herzuleiten. Die Sprache ist jedoch kein logisches Konstrukt, das hätte man schon aus dem antiken Streit zwischen Analogisten und Anomalisten lernen können, an dem seinerzeit auch Cicero und Cäsar, natürlich auf verschiedenen Seiten, teilgenommen hatten. Wenn die Grammatik von Unregelmäßigkeiten nur so strotzt: warum die Schreibweise dann nicht? Die Orthographie/Orthografie regelkonform gestalten zu können oder zu müssen ist ein Irrglaube der Uhrmacher und Philologen.

Auch für die Sprache gilt, was Conrad Ferdinand Meyer seinem Ulrich von Hutten in den Mund legt, sie ist kein ausgeklügelt Buch, sondern eine Sache mit ihrem Widerspruch. Die richtige Antwort auf diese Erfahrung wäre ein hohes Maß an Toleranz gewesen; aber das liegt den Deutschen nicht. Sie wollen die unbedingte, die gültige, die Letztentscheidung und verlassen sich lieber auf das Urteil von irgendwelchen Experten als auf das eigene Gefühl, das Sprach- und Schreibgefühl. Vor allem deshalb hatte die Reform von Anfang an die Leute gegen sich, wobei der Widerspruch unter den Älteren, die ihr Schulwissen nicht mit einem Federstrich entwertet sehen wollten, naturgemäß noch lauter ausfiel als bei den Jüngeren.

Die Front läuft quer durch alle Gruppen und Parteien. Gemeinsam ist den Kombattanten nur der unbedingte Ernst, mit dem sie für eine Sache streiten, die soviel/so viel Einsatz gar nicht verdient. Peer Steinbrück, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, hat recht/Recht mit seiner Frage, ob denn die Deutschen keine anderen Probleme zu lösen hätten als die mißlungene/misslungene Rechtschreibreform. Auf absehbare Zeit wird das von den Reformern angerichtete Chaos wohl nur die eine Folge haben, daß/dass die Leute ihrem auf Herkunft und Gewohnheit begründeten Gefühl nicht mehr trauen. Unwahrscheinlich, daß/dass in einem Jahr, wenn die Interimsphase ausläuft und die neuen Regeln endgültig in Kraft treten sollen, wieder Frieden im Lande einkehrt. Der Drang nach Vorschrift, Regel und Konsistenz hat das Gegenteil hervorgetrieben, die Willkür, den Widerspruch und die Wirrnis.

Gebracht hat das Ganze nichts, zumindest nicht für den normalen, sprachbewußten/sprachbewussten und sprachverliebten Bürger. Bisher hat es nur Verluste gegeben, Verluste materieller und immaterieller Art. Den handgreiflichsten haben die Verleger zu tragen, die den wirtschaftlichen Schaden, der ihnen aus der schlecht geplanten und noch schlechter durchgeführten Reform entstanden ist, auf 250 Millionen Euro beziffern. Und damit nicht genug, denn die Sache geht weiter. Ein Mann wie Michael Klett spürt das Dilemma des Unternehmers, der als Schulbuchverleger anders handeln muß/muss, als seine belletristischen Neigungen ihm raten, am eigenen Leib. Er fühlt sich hin und her gerissen "zwischen meinem kulturellen Gewissen, das sagt und weiß, wie unnötig und unsinnig diese sogenannte/so genannte Reform ist, und andererseits meiner Verantwortung gegenüber meinem Unternehmen, seiner Position, seinen Arbeitsplätzen und so weiter". Wie lange noch?

DIE WELT, Samstag, der 7. August 2004
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Manfred Riebe



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Beitrag: Donnerstag, 07. Okt. 2004 21:54    Titel: Schüler schreiben nach Reform schlechter als vorher Antworten mit Zitat

Schüler schreiben nach Reform schlechter als vorher
Leipziger Wissenschaftler deckt eklatante Schwächen in der Rechtschreibung von Grundschülern auf

Von Dankwart Guratzsch

Eigentlich sollte nach der Reform das Schreiben leichter werden...
Foto: ddp

Leipzig - Das Kernstück der Rechtschreibreform wird von noch unveröffentlichten Studien stark in Zweifel gezogen: Nach Ergebnissen von Langzeittests des Leipziger Erziehungswissenschaftlers Harald Marx ist der Zischlaut „ß“ der fehlerträchtigste der Rechtschreibreform. Fazit: Die verschiedenen s-Schreibweisen werden sieben Jahre nach der Umstellung so sehr durcheinander gebracht, daß nach der Reform mehr Fehler auftreten als vor der Reform.

Bei der Auswertung von Schülerarbeiten hat der Pädagogikprofessor Marx herausgefunden, daß Kinder, die die neuen Regeln seit sieben Jahren lernen, zunehmend sämtliche s-Schreibweisen durcheinanderbringen. Die Fehlerträchtigkeit der neuen Regeln ist so augenfällig, daß sie sich in graphischen Darstellungen wie ein Bruch abzeichnet. Das stellt ein Hauptargument der Reformbefürworter in Frage, wonach die Reform vor allem den Schülern Erleichterungen bringen sollte.

Dabei hat sich zunächst keine der neuen Schreibregeln so reibungslos eingebürgert wie die neue s-Schreibung. Danach wird aus „ß“ nach kurzgesprochenem Vokal „ss“. „Schoß“ blieb „Schoß“, aber „Schloß“ wurde „Schloss“. Leichter, so möchte man meinen, geht es nicht. Für viele ist die neue s-Regel deshalb zur Lieblingsregel der neuen Orthographie geworden. Marx hat nun Schülerarbeiten der zweiten bis vierten Klasse, die 1996 - also vor der Reform - in alter Rechtschreibung geschrieben wurden, mit solchen verglichen, die in den Jahren 1998, 2001 und 2004 - also in neuer Orthographie - verfaßt sind.

Das Resultat, das der WELT exklusiv vorliegt, belegt: Bei den von der Reform betroffenen Wörtern kann Marx nichts von der versprochenen „Erleichterung“ durch die neue Rechtschreibung feststellen. Wußten 1998 noch 53 Prozent der Viertkläßler, daß ein Wort wie „Schoß“ mit „ß“ zu schreiben ist, so waren es drei Jahre später noch 47, 2004 lediglich noch 35 Prozent. Vor der Rechtschreibreform hatten noch 89 Prozent der Altersgenossen die Vokabel richtig geschrieben. Doch nicht nur von der Rechtschreibreform unberührte Wörter mit „ß“, auch solche mit „s“ werden zur neuen Fehlerquelle.

Ein Wort wie „Last“, das in alter Rechtschreibung noch 90 Prozent aller Viert-, Dritt- und sogar Zweitkläßler richtig zu schreiben wußten, bringen heute, sieben Jahre nach der Reform, nur noch 75 Prozent der Zweitkläßler, 81 Prozent der Drittkläßler und 61 Prozent der Viertkläßler korrekt zu Papier.

Den Schülertests mißt Marx deswegen große Bedeutung bei, weil dessen Ergebnisse als repräsentativ gewertet werden können. 1200 Schüler von der zweiten bis zur vierten Klasse haben mittlerweile das immergleiche Diktat geschrieben, einen „Lückentext“, in den 44 Wörter eingefügt werden müssen. Diese Versuchsanordnung garantiert die höchste denkbare Objektivität.

Was aber ist es genau, das zur Vermehrung fehlerhafter Schreibungen bei Wörtern führt, an deren Schreibweise sich nichts geändert hat? Marx spricht von „Übergeneralisierung“ und meint damit: Die neue Orientierung der s-Schreibung an der Aussprache sowie die Tendenz, den Gebrauch des „ß“ einzuschränken, verleiten zu einer unzulässigen Verallgemeinerung dieser Neuerungen. Wer statt „faßt“ nun „fasst“ schreibt, der schreibt anscheinend bald auch „Lasst“ statt „Last“. Und wer früher kein Problem mit „Klößen“ und „Rockschößen“ hatte, der meint heute, er dürfe daraus „Klöse“ und „Rockschöse“ machen. Auf welche Wörter sich seine Untersuchungen konkret stützen, will Marx bisher noch nicht preisgeben. Die Veröffentlichung in dieser Zeitung kommt einem Aufsatz des Wissenschaftlers in einer Fachzeitschrift zuvor. Deshalb sind die hier genannten Beispielwörter auch nur als Verständnishilfen zu verstehen.

Auf die Diskussionen über die verbindliche Einführung der neuen Rechtschreibung an den Schulen im Sommer 2005 kann das Leipziger Forschungsprojekt nicht ohne Auswirkungen bleiben - zumal weder die Kultusministerkonferenz noch die Mannheimer Rechtschreibkommission über vergleichbare Erhebungen verfügen.

In Fachkreisen gilt Marx als Autorität. Der Professor für Pädagogische Psychologie und Dekan der Universität Leipzig hat sich als Herausgeber des angesehenen „Jahrbuchs der pädagogisch-psychologischen Diagnostik“ und der Buchreihe „Deutsche Schultests“ weit über seine Universität hinaus einen Namen gemacht. Über sich selbst sagt Marx: „Ich bin weder Anhänger noch Gegner der Rechtschreibreform.“ Inzwischen zeigen sich selbst die Urheber der Reform, die Mitglieder der Rechtschreibkommission in Mannheim, beeindruckt. Sie haben die jüngste Studie des Leipzigers angefordert.

Geht es nach der Mehrheit der Deutschen, hat die Rechtschreibung in ihrer jetzigen Form ohnehin keine Aussicht auf Erfolg. Waren im April noch 49 Prozent gegen die Reform, sind es mittlerweile 60 Prozent. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach. Nur noch 11 Prozent der Deutschen sind für den Erhalt der neuen Schreibweise. Auf der anderen Seite ist es jedem Dritten egal, nach welcher Rechtschreibregel geschrieben wird.

DIE WELT vom 8. Oktober 2004
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Manfred Riebe



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Beitrag: Donnerstag, 18. Nov. 2004 20:38    Titel: Die Rechtschreibreform-Reform Antworten mit Zitat

Die Rechtschreibreform-Reform
Erst vor drei Jahren wurden die Regeln geändert, jetzt soll schon nachgebessert werden

Von Joachim Peter

Der vertrauliche Bericht der Rechtschreib-Kommission sorgt für neue Konfusion und lässt FDP-Chef Westerwelle zu dem Schluss kommen: „Die Rechtschreibreform ist gescheitert.“

Schifffahrt oder Schiffahrt? Für FDP-Chef Guido Westerwelle stellt sich diese Frage nicht: „Eine Kultusministerkonferenz, die die Frage, ob man Schifffahrt mit zwei oder mit drei ,f' schreibt, für wichtiger hält als die Bekämpfung des Unterrichtsausfalls, gehört entmachtet.“ Anlass für Westerwelles Unmut ist der dritte vertrauliche Bericht der „Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung“ (die WELT berichtete). Darin kommt die Kommission zu dem Befund, dass die umstrittene Rechtschreibreform drei Jahre nach ihrer Einführung noch immer nicht in der Schriftsprache verankert ist. Vor allem die Umstellung in den Bereichen Schule, Verwaltung und Medien sei noch nicht abgeschlossen.

Seit 1998 erlernen nun schon Schülerinnen und Schüler in Deutschland die neue Rechtschreibung, und bis auf wenige Ausnahmen haben Zeitungen, Buchverlage und Behörden auf die neue Schreibweise umgestellt. Zuvor hatte es eine lange Debatte über Sinn und Unsinn einer solchen Reform in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gegeben. Wenn sich auch die Befürworter der Reform schließlich durchsetzten, so ist die Kritik an der neuen Rechtschreibung bis heute nicht verhallt.

Die Rechtschreibungskommission vermerkt in ihrem Bericht, es gebe in vielen Details „keinen Königsweg, sondern nur ein Abwägen des Für und Wider, dass eine jede Lösung Vorteile, aber auch Nachteile hat und dass linguistische Gründe allein nicht ausschlaggebend sein können, sondern auch sprach- und lernpsychologische Kriterien einzubeziehen“ seien. Demnach gibt es noch immer Schwierigkeiten bei der Anwendung der neuen Rechtschreibung, und die Schwierigkeiten sind der Kommission auch bekannt. Warum sollte sie es sonst für notwendig halten, „inhaltlich strittige Fragen noch weiterhin auch und vor allem mit Schreibpraktikern genau zu diskutieren“. Auch Regeländerungen werden weiterhin für möglich gehalten, wenn beispielsweise „die Schreibenden auf der Grundlage der neuen amtlichen Regelungen die Schreibung weiterentwickeln“. An anderer Stelle heißt es, Rechtschreibreformen träfen auf „sehr eingefahrene Verhaltensweisen“. Sie brauchten daher Zeit, bis sie sich durchsetzten. Gleiches gelte für die „einheitliche Praxis, den einheitlichen Umgang mit neuen Regeln“.

Haben die Deutschen die neue Rechtsschreibung noch immer nicht angenommen? Stellt die Kommission ihre eigenes Reformwerk infrage? Geschäftsführer Klaus Heller weist eine solche Lesart des Berichts entschieden zurück. „Das ist Unsinn.“ Es werde keine Änderungen der bestehenden Regeln geben.

Doch der Bericht der „Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung“ enthält die Ankündigung, man wolle „dort, wo es im Regelwerk zur Auslegungsschwierigkeiten oder Ungenauigkeiten gekommen ist, auf eine Präzisierung hinarbeiten“. Das bedeutet nichts anderes als Nachbessern. Auch erste konkrete Änderungsvorschläge sind auszumachen: Demnach könnte in Zukunft in vielen Fragen der Getrennt- oder Zusammenschreibung (Beispiele: nicht öffentlich oder nichtöffentlich; Aufsehen erregend oder aufsehenerregend) eine „Toleranz-Metaregel“ verschiedene Schreibweisen erlauben, wie jetzt schon bei Gewinn bringend oder gewinnbringend. Bei Fragen der Groß- und Kleinschreibung (Leid tun, leid tun oder gar leidtun; Pleite gehen oder pleite gehen) kommt die Kommission allerdings zu keinem Ergebnis. Hier soll die Lösung dem Schreibenden überlassen werden.

Kann man ein solch diffuses Regelwerk noch durchschauen? Theodor Ickler, Professor für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Erlangen und prominenter Gegner der Rechtsschreibreform, vertritt die Auffassung, dass es inzwischen „die“ Neuschreibung gar nicht mehr gebe, sondern „nur ein kaum noch überschaubares Durcheinander von amtlichen Regeln, halbamtlichen Empfehlungen und nichtamtlichen Hausorthographien“. Dass das große Durcheinander, die große Verwirrung durch ein diffuses Regelwerk bereits eingetreten ist, ahnt auch der rechtspolitische Sprecher der Union, Norbert Geis (CSU). Dennoch lehnt er eine Rücknahme der neuen Rechtschreibung ab. „Wir haben uns nun mal dafür entschieden.“ An einer Entscheidung dürfe man jedoch „nicht starr festhalten, sondern muss Korrekturen vornehmen“, sagt Geis, der von Anfang an Gegner der Rechtschreibreform gewesen ist. [Hervorhebung, MR] Indessen schlägt Guido Westerwelle, der sich gern in der Rolle des künftigen Bundesbildungsministers sieht, einen ganz anderen Ton an: „Die Rechtschreibreform ist gescheitert.“

DIE WELT vom 28. 02. 2002 – Politik
www.welt.de/daten/2002/02/28/0228de317303.htx
_____________________________

MdB Norbert Geis, Rechtsanwalt, rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, „sprach sich dafür aus, die Rechtschreibreform zunächst einmal auszusetzen“ (DIE WELT 01.08.97), gehörte zur Gruppe der 50 Antragsteller auf Stopp der Rechtschreibreform.
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Manfred Riebe



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Beitrag: Samstag, 25. Feb. 2006 21:36    Titel: Fünftes Votum der KMK Antworten mit Zitat

Pressespiegel
________________________

„Gräulich“ ist alle Theorie
Auch das fünfte Votum der Kultusministerkonferenz zur neuen Rechtschreibung
räumt nicht alle Mißverständnisse aus


von Dankwart Guratzsch

Mit dem Radfahren fing alles an. Die Unfähigkeit der Dudenredaktion, eine einheitliche Schreibweise für „rad- und Auto fahren“ zu finden, war vor dreißig Jahren eines der häufigsten Argumente für eine Rechtschreibreform. Hinzu kam das Wörtchen „das(ß)“. Die Fehlerklippe in Schülerdiktaten mußte als ein Hauptargument dafür herhalten, daß eine völlige Überarbeitung der deutschen Rechtschreibung unumgänglich sei.

Und noch ein dritter Aspekt, der wichtigste, kam hinzu: Der „elaborierte Code“, das „gewählte Deutsch“, die Hochsprache von hundert Millionen Mitteleuropäern, sollte abgeschafft und eingeebnet werden. Sie habe nur dazu gedient, „Herrschaftsverhältnisse“ zu zementieren, und gehöre deshalb in den Mülleimer einer demokratisierten Gesellschaft. „Gesellschaftsveränderung“ - eine der Kampfparolen der 68er - durch Abschaffung der Großschreibung: Das war, so lachhaft es heute erscheinen mag, die politische Botschaft der Sprachumkrempler.

Was ist daraus geworden? Wenn im März die Kultusministerkonferenz zum fünften Mal „endgültig“ über die von zwölf Schriftweisen reformierte und von 36 Oberaufsehern nochmals korrigierte deutsche Rechtschreibung entscheidet, wird sie den Schülern verordnen, von nun an „Rad fahren“ auseinander und groß zu schreiben. Alle Mißverständnisse beseitigt? Nein, denn „seiltanzen“ und „eislaufen“ sind wieder wie früher klein und in einem Wort zu schreiben. Auch die Klippe „das“ ist geblieben - mit dem kleinen Unterschied, daß das andere „das“, die Konjunktion, nun nicht mehr mit „ß“, sondern mit „ss“ zu schreiben ist. Ein grandioser Fortschritt.

Bis heute gibt es keine verbindliche Wörterliste, keine Zusammenstellung der Zweifelsfälle, keine amtliche Erhebung über die Fehleranfälligkeit der neuen Schreibweisen. Alle „privaten“ Statistiken, Beobachtungen und wissenschaftlichen Untersuchungen dagegen scheinen zu belegen: die Rechtschreibsicherheit (und damit die Sprachkompetenz) der Schüler hat dramatisch abgenommen. Nach einer aktuellen repräsentativen Umfrage des Verbands der südholsteinischen Wirtschaft (VSW) sind nur 19 Prozent der Betriebe mit dem Bildungsniveau der Lehrlinge zufrieden, mehr als die Hälfte der Firmen klagen: „Rechtschreibung mangelhaft“. Im Vergleich zum Vorjahr sei das Niveau sogar noch gesunken. Die Einschätzung deckt sich mit den Ergebnissen einer Befragung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) bei 500 Berufsbildungsexperten im Herbst 2005. Danach seien „fast alle“ Befragten davon überzeugt, daß die Beherrschung der deutschen Rechtschreibung und die schriftliche Ausdrucksfähigkeit in den letzten 15 Jahren nachgelassen haben.

Exakt in diese Zeit fällt die Einführung der neuen Rechtschreibung an den Schulen, die Erleichterungen und die Beseitigung von Ungereimtheiten und Zweifelsfällen bringen sollte. Aber offensichtlich hat deren Zahl seit Einführung der neuen Rechtschreibung eher zugenommen. Und seit dem vergangenen Wochenende steht fest: Auch der von den Kultusministern eingesetzte „Rat für deutsche Rechtschreibung“, der alles noch einmal überarbeiten sollte, hat sich dieser Tatsache gegenüber als „ratlos“ erwiesen.

Sein jetzt vorgelegter (vorläufiger) Abschlußbericht belegt das auf frappante Weise. Dennoch soll er im März von der Kultusministerkonferenz verabschiedet werden, das Land Bayern ist vorgeprescht und hat schon vorab verkündet, die Änderungen übernehmen zu wollen. Aber was diese „Änderungen der Änderungen“ dem Schreibvolk tatsächlich abverlangen, das hat bisher weder ein Kultusminister noch ein Ministerpräsident geprüft. Der Dilettantismus setzt sich fort. Das Chaos wird immer größer.

„Was bleibt von der neuen Rechtschreibung?“ fragt die „Forschungsgruppe deutsche Sprache“, die sich als einzige ernstzunehmende Institution der Mühe unterzogen hat, das Ergebnis der endlosen Flickschusterei einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Und sie kommt zu einer Bilanz, die nicht nur die längst abgesetzte Rechtschreibkommission, sondern nun auch den Rechtschreibrat der Lächerlichkeit preisgibt. Denn die von der Forschungsgruppe auf Grund der Beratungsergebnisse des 36köpfigen „Rates“ präsentierte Wörterliste zeigt auf: Fälle wie „Rad fahren“ haben sich inflationsartig vermehrt - fast könnte man meinen, sie sind künftig „die Regel“.

Von haarsträubender Unlogik sind insonderheit die neuen „Varianten“, zu denen sich die 36 Koryphäen unter dem Dirigat des früheren bayerischen Kultusministers Hans Zehetmair, eines Hauptverantwortlichen der verpfuschten Reform, nach monatelangem Brüten durchgerungen haben. So dürfen wir nun „kennenlernen“ doch wieder zusammenschreiben, „lieben lernen“ dagegen keinesfalls. Das neue „bekannt geben“ darf weiterhin getrennt werden, „kundgeben“ jedoch nie.

Wir dürfen wieder „aufwendig“ wie „notwendig“ mit „e“ statt „ä“ schreiben, aber die Unterscheidung zwischen „greulich“ (von Greuel) und „gräulich“ (von grau) bleibt uns versagt. Fortan ist alles „gräulich“, was man schon früher von aller Theorie sagte, heute macht man sich der Greuelpropaganda verdächtig, wenn man darauf beharrt, die Rechtschreibreform „greulich“ zu nennen. Lehrer kommen ohne Wörterbücher, in denen jede einzelne von abertausend Wortverbindungen aufgeführt ist, nicht mehr aus. Aber derartige Wörterbücher gibt es nicht.

Die wachsende Rechtschreibschwäche und -unsicherheit, die auch vor der Lehrerschaft nicht haltmacht, kann nicht mehr getrennt von der Aushebelung bewährter Schreibweisen gesehen werden. Dabei haben sich die Ratsmitglieder eine der größten Fehlerfallen der neuen Orthographie noch nicht einmal vorgenommen: die Ersetzung des „ß“ durch „ss“. Nach Untersuchungen des Leipziger Universitätsprofessors Harald Marx hat sie zu einer dramatischen Fehlerhäufung in Schülerdiktaten geführt, obwohl gerade die partielle Abschaffung des jüngsten deutschen Buchstabens zu den populärsten Neuerungen der Schreibreform zählt. Denn nun treten Ungereimtheiten dort auf, wo sie bisher niemand erkennen konnte. „Lust“ und „Frust“, „mußt“ und „bezuschußt“, „Bus“ und „Stuß“, „Verlust“ und „verkrusten“ - warum soll man das nicht alles mit „ss“ schreiben? Denn, so lautet ja die neue Regel, der scharfe s-Laut nach kurzem Vokal wird einheitlich nur noch durch „ss“ wiedergegeben - aber eben nur bei Wörtern, die früher mit „ß“ geschrieben wurden. Man muß also die „alte“ Schreibweise kennen, um die neue anwenden zu können - und diese Kenntnis ist bei Schülern, die nur die neue Rechtschreibung gelernt haben, nicht mehr vorhanden.

Inkonsequenz, Praxisferne, Unwissenschaftlichkeit, grammatischer und linguistischer Dilettantismus sind die Hauptkennzeichen dieser großspurig angekündigten „Reform“, aber leider kaum weniger auch der nun empfohlenen „Reform der Reform“. Ganze Kapitel der neuen Rechtschreibung wurden überhaupt nicht angepackt, andere in haarspalterischer Rechthaberei über das bereits angerichtete Durcheinander hinaus zusätzlich verkompliziert. Das Echo in der Fachwelt ist vernichtend und noch weit wirrer als nach früheren Verbesserungsversuchen. In den Chor der Kritiker stimmen nun auch viele bisherige Befürworter ein.

So haben laut Anhörung im Januar 2006 von 25 angefragten, zum Teil im „Rat“ selbst vertretenen Institutionen nur etwa 50 Prozent den Vorlagen zugestimmt, und selbst von diesen die meisten nur mit Bedenken und Einschränkungen. Hauptkritikpunkte waren die Vermehrung der Varianten, der Zeitdruck, die Inkonsequenz und „unheimliche Kompliziertheit“ (Erziehungsdirektion des Kantons St. Gallen). Die von Beobachtern notierten Voten schwanken zwischen „nicht annehmbar“ (P.E.N.-Zentrum Deutschland) auf der einen Seite und „Abkehr vom ursprünglichen Anliegen“ (Brockhaus), „keine Vereinfachung“ (Symposion Deutschdidaktik), „keine Verbesserungen“ (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) und „Haarspalterei“ (Verband Bildung und Erziehung) auf der anderen Seite.

Die schroffste Kritik kommt aus der Schweiz. Ausgerechnet in diesem Land, das einmal eine Speerspitze der Rechtschreibreform war und die dogmatischsten Vertreter in die Rechtschreibkommission entsandt hatte, gewinnt eine regelrechte Absetzbewegung an Boden. Nachdem die Schweizer Depeschenagentur und die Ämter vorgeprescht waren, ist es nun der Dachverband der Lehrer (LCH), der gegen das Diktat der „Konferenz der Erziehungsdirektoren“, des Schwestergremiums der deutschen Kultusministerkonferenz, offen rebelliert. In einer fünfseitigen Expertise weist er die Ratschläge des Rechtschreibrates „vollumfänglich“ zurück und verlangt, „daß die Pflege der Rechtschreibung grundlegend neu und diesmal professionell geordnet wird“.

Schon hat sich ein „Sprachkreis Deutsch“ (SKD) formiert, dem Peter Müller von der Schweizerischen Depeschenagentur, Men Haupt, der Präsident des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbandes, und Filippo Leutenegger, einflußreicher Nationalrat und Chef der mächtigen Verlagsgruppe Jean Frey AG (Weltwoche, Beobachter), beigetreten sind. Sie fordern die Schweizer Regierung zu einer „sprachwissenschaftlichen Überprüfung des ganzen Regelwerks“ auf, verlangen die Auswechslung der Schweizer Delegation im Rat für Rechtschreibung und die Aufschiebung der Rechtschreibreform nach dem Muster des Kantons Bern. Die Absichtserklärung zur Einführung der neuen Orthographie, die die Schweiz 1996 unterzeichnet hat, verpflichte das Land zu nichts. Ihren Aufruf unterschreiben die Initiatoren mit einem Appell, der die Politiker mahnt, ihre Verantwortung jenseits von Prestigesucht und obrigkeitlichem Schreibdiktat zu sehen: „Verpflichtet sind wir unserem Gemeinwesen, unseren Schülern und unserer ersten Landessprache.“

Noch ist es nicht zu spät, sich diese Haltung auch in Deutschland und Österreich zu eigen zu machen.

DIE WELT vom Dienstag, 21. Februar 2006
http://www.welt.de/data/2006/02/21/848925.html
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Ulrich Brosinsky



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Beitrag: Donnerstag, 02. März. 2006 23:22    Titel: Leserbrief von Prof. Dr. Rüppel Antworten mit Zitat

Leserbrief
zum Artikel von D. Guratzsch in der "Welt" von 21. 2. 06 mit dem Titel " Gräulich ist alle Theorie"

http://www.welt.de/data/2006/02/21/848925.html


Mit dem Artikel " Gräulich ist alle Theorie"  hat  D. Guratzsch eine beachtliche, kleine Abhandlung zum Stand der "Rechtschreibreform" und den einander sich ablösenden Reformen geboten.  Er belegt an Beispielen recht detailliert deren Fehlerhaftigkeit.  Noch bedeutsamer aber ist, daß er die geringe Kompetenz ja den Dilletantismus in der für das "Chaos" verantwortlichen Rechtschreibkommission bzw. dem Rechtschreibrat anspricht.  Er erwähnt auch den Vorsitzenden des Rates, den ehemaligen bayerischen Kultusminister H. Zehetmair, der als "Hauptverantwortlicher
für die verpfuschte Reform" bei der für Anfang März vorgesehenen, erneuten Änderung selbst wieder Ratlosigkeit gezeigt habe.  Der Verfasser dieses Leserbriefes hat diesen Vorsitzenden vor einiger Zeit in einem Rundfunkinterview (DF) gehört, wie
er zur Begründung einer einfachen Silbentrennungsregel in peinlicher Weise völlig falsche Analogieschlüsse verwendet hat.  Mangelnde Professionalität bei der Reform beklagen ja auch die im Artikel zitierten Schweizer Stimmen. Dabei stellt sich nun folgende Frage:  Wenn es stimmt, daß sich die deutsche Orthographie in über 100 Jahren ohne Reglementierung allein durch den allgemeinen Schreibgebrauch frei entwickeln konnte ( nach Professor Eisenberg, Potsdam, zu einer der bestausgebildeten im europäischen Raum ),  sollte es bei derselben nicht mehr viel geben, was sinnvoller Weise und nachhaltig noch zu verbessern wäre.  Deshalb wäre es in der derzeitigen Lage der einzig vernünftige Schritt für die Kultusministerkonferenz, statt der wiederholten Reform um der Reform willen die bewährte, klassische Rechtschreibung wieder "amtlich" einzuführen.  Wenn dieses zu einem nicht zu fernen Termin geschieht, könnten in dem der Reform gefolgten Schriftgut wie Zeitungen, Zeitschriften, Schriftverkehr etc. allmählich auch deren Reste wieder verschwinden.

Nachsatz:*) Wenn sich die Orthographie, wie oben gesagt, durch langen Schriftgebrauch frei entwickelt hat, sollte ihre Struktur optimiert sein.  Deshalb wird eine Änderung bezüglich eines Merkmals vielleicht eine kleinen Fortschritt bringen, bezüglich eines anderen, damit gekoppelten Merkmals aber wird sich ein noch größerer Rückschritt ergeben. Dieses läßt sich mit einer Bewegung auf einem flachen Hügel vergleichen: Beim Verlassen des Gipfels wird man in allen Richtungen absteigen.  Dieses Phänomen kann beispielhaft erklären, warum die besten Reformer es schwer haben, ein optimiertes System wie die deutsche Rechtschreibung noch merklich zu verbessern und warum eine Rückkehr zum alten Zustand nicht nur sinnvoll sondern auch geboten ist.
                                                                                                                   
Dr. phil.-nat H. Rüppel, Berlin

*) Zur Erklärung für den LB-Redakteur gedacht, weniger zur Publikation.
 


Zuletzt bearbeitet von Ulrich Brosinsky am Sonntag, 26. März. 2006 13:20, insgesamt 1mal bearbeitet
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Sigmar Salzburg



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Beitrag: Mittwoch, 15. März. 2006 12:29    Titel: Deutscher Elternverein Antworten mit Zitat

Günter Grass unterstützt Elternverein

Kiel - Der Nobelpreisträger und Schriftsteller Günter Grass hat als erster einen bundesweiten Aufruf des Deutschen Elternvereins mit Sitz in Kiel unterzeichnet. Mit der Aktion werden Unterschriften für den Erhalt der klassischen Rechtschreibung gesammelt. „Der Gebrauch klassischer Schreibweisen darf an den Schulen nicht länger als fehlerhaft diskriminiert werden", forderte Vereinsvorsitzender Ulrich G. Kliegis. Ziel der Aktion sei es, der klassischen Rechtschreibung wieder den ihr gebührenden Platz an unseren Schulen zu verschaffen. Kliegis verglich die Rechtschreibreform mit dem Bau des Brutreaktors in Kalkar, der von der Politik beendet worden sei, als klar war, daß das Projekt nicht mehr zu realisieren sei. „Wir warten darauf, daß die Bildungspolitiker einfach nur zugeben, daß sie sich geirrt haben - und dann entsprechend handeln", sagte Kliegis. esh

[DIE WELT 15.03.2006 S.40, Norddeutschland]
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Peter Lüber



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Beitrag: Sonntag, 20. Aug. 2006 15:58    Titel: An die Jünger der Ältern Antworten mit Zitat

ss oder ß?


Detlef Lindenthal im Rechtschreibforum am 13.8.2006:

Zitat:
Schutzstaffel

SS-Mann Günter Grass

Müssen die Rechtschreibschützer jetzt von ihm abrücken, der (normalerweise wohl als Kriegsfreiwilliger) 1944 seinen Eid auf den Führer Adolf Hitler geschworen hat? Ich vermute: nicht.
Auch Hitlers Oberleutnant Franz-Josef Strauß, nachmaliger Atom- und Verteidigungsminister und Kanzlerkandidat, hatte voll freiwillig den Eid auf seinen Führer geschworen.
Ebenso Oberleutnant Helmut Schmidt, unser nachmaliger Bundeskanzler und Atombomben-Raketen-Nachrüster (Pershing II).
Und auch Hitler-Hauptmann Richard von Weizsäcker, nachmaliger Vietnam-Kriegsgewinnler, Menschenverstümmeler (mittels Krebs- und Mißbildungenerreger, Chlorakneerzeuger und Bäumetöter Agent Orange der Firma Boehringer, deren geschäftsführender Gesellschafter er damals war) und Bundespräsident, der 1945 in Ostpreußen noch schnell die ihm anvertrauten Kompanien verheizen half und ihre Reste desertierend dann im Stich und in die sowjetrussischen Todeslager gelassen hat.

Jene Politiker haben bei den damaligen Angriffskriegen mitgemacht, die heutigen Politiker machen bei den heutigen Angriffskriegen mit oder schauen zu. Es ist eben alles nicht so ganz einfach.

Na gut, bleiben wir wirklichkeitsnah: Natürlich wird dem SS-Schergen Grass verziehen werden, nach 61 Jahren. Zumal er sich seither antimilitaristisch geäußert hat.

Ob mir, Detlef Lindenthal, nach 14 Jahren verziehen werden könnte, daß ich 1992 als freiwilliger Helfer Hilfsgüter (Kleidung, Saatgut, Werkzeug) zu Bürgerkriegsflüchtlingen nach Ostpreußen gefahren habe? Immerhin habe ich mich die Jahrzehnte zuvor als Kriegsdienstverweigerer, Umweltschützer, Nachrüstungsgegner, Menschenrechtler und Aufklärer eingesetzt und war 1981 standhaft, als das Verwaltungsgericht Koblenz mich anschrieb, ich möge doch meine Klage gegen das (nun inzwischen wegen fehlender Baugenehmigung stillgelegte) Atomwerk Mülheim-Kärlich zurückziehen. (Der inzwischen verstorbene Rentner Walter Thal war mit seiner Klage erfolgreich; 7 Milliarden DM – Pienatz gegenüber dem Schaden durch die RS„R“ – hat die Atomindustrie dort in den Sand bzw. in die Rhein-Kiesel gesetzt, tägliche Stillstandskosten 1 Mio. DM, weil während des Baues gemerkt wurde, daß unter dem Bauplatz eine Erdbebenspalte ist, weshalb Reaktorhaus und Turbinenhaus 14 Meter weit auseinandergerückt und mit einer biegsamen Rohrleitung verbunden wurden – die getrennten Gebäude können Sie sehen, wenn Sie mit dem Zug an der heilen Ruine vorbeifahren. Doch dreisterweise hatte der Bauherr, das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk (RWE), diese Änderung ohne Baugenehmigung vorgenommen.
Für den greisen Walter Thal hat das Bundesverwaltungsgericht den Atommeiler abschalten lassen. Ich selbst wurde mit meiner Klage auf genetische Unversehrtheit für meine Kinder bei Gericht abgewiesen und hernach von den Atombetreibern mit Gerichtskosten empfindlich verfolgt.

Oder ist das Nichtmitheulen mit der Meute das ärgere Vergehen?


Ich darauf, am selben Tag:

Zitat:
Vielen Dank, Herr Detlef Lindenthal, für Ihren Beitrag.

Es trifft sich gut, daß der Name „Graß“ heute mit zwei kleinen „s“ geschrieben wird – von böswilligen Zeitgenossen sogar mit zwei großen „S“.

Sie selbst bezeichnen sich als ehemaligen „Kriegsdienstverweigerer“: davor alle Achtung! Ich selbst stand, zu meinem Glück, niemals in der Pflicht, Kriegsdienst zu leisten. Als Militärdienstuntauglicher durfte ich Zivildienst leisten.

Die Menschen, welche sich heute gegen Günter Graß erheben, sollten sich wieder hinsetzen, um in aller Ruhe darüber nachzudenken, wie sie selbst als Siebzehnjährige waren. Ich vermute, daß derzeit in Deutschland weniger Helden unterwegs sind, als in Bayreuth auf der Bühne stehen. Jedenfalls muß zu Ehren der Heerscharen anonymer Schreiberlinge, die sich heute abschätzig und feige aus dem Hinterhalt über Günter Graß’ späterfolgtes Bekenntnis äußern, der Walhalla kein Erweiterungsbau hinzugefügt werden.


Sigmar Salzburg heute im selben Forum, als Zitierender:

Zitat:
Versuchte Glosse im Tagesspiegel


Das S-Wort

Eine ENTHÜLLUNG von Jens Mühling

Nach der Selbstoffenbarung des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass sehen Deutschlands Intellektuelle immer mehr scheinbare Gewissheiten in Zweifel gezogen. So erklärte gestern ein anonymer Germanist, auch Grass’ vehemente Ablehnung der Rechtschreibreform müsse im Lichte seiner Waffen-SS-Mitgliedschaft neu bewertet werden. Der Wissenschaftler wies schlüssig nach, Grass habe die Reform des Regelwerks vor allem deshalb zu verhindern getrachtet, weil die weitgehende Ersetzung des Buchstabens ß durch den Doppelkonsonanten ss ein „biografisches Trauma des Schriftstellers berührt“ habe. Aus demselben Grund habe Grass seine Enthüllung auch in der „FAZ“ publik gemacht, weil diese, so der Germanist, „bis heute sz schreibt, wo die SZ ss schreibt“.

In diesem Zusammenhang wies der Germanist auf einen am Tag der Enthüllung veröffentlichten Kommentar des „FAZ“-Herausgebers Frank Schirrmacher hin, in dem dieser erklärt hatte, Grass sei entgegen der üblichen Waffen-SS-Gepflogenheiten zwar nicht mehr tätowiert worden, weil dafür die Zeit gefehlt habe, dennoch trage er bis heute „das Mal“ der SS an sich. Der Literaturwissenschaftler bezichtigte Schirrmacher in diesem Zusammenhang der „Verbreitung gefährlichen Halbwissens“. Er verwies auf die Tatsache, dass Günter Grass 1927 in Danzig unter dem Namen Günter Graß geboren wurde. Nachforschungen des Germanisten zufolge kam es dann 1944 an der Ostfront zu folgendem Wortwechsel zwischen Grass (zu diesem Zeitpunkt noch Graß) und Heinz Harmel, dem Kommandeur der SS-Panzer-Division Frundsberg:

Harmel: „Panzerschütze Graß, Sie haben die Wahl: Tätowierung – oder Namensänderung!“

Graß: „Keine Tätowierung, Herr Gruppenführer! Gegen Tinte bin ich allergisch!“

Unter massivem Druck, erklärte der Germanist, habe sich „SZ-Graß dann in SS-Grass umbenannt“. Die Enthüllung löste unter Intellektuellen im In- und Ausland kontroverse Reaktionen aus. Frank Schirrmacher schrieb in einem neuerlichen „FAZ“-Kommentar, er nehme „mit Verdruß zur Kenntniß“, dass Grass „nunmehr auch in linguistischer Hinsicht nicht mehr das Gewißen dieser Nation“ sei. „SZ“-Chefredakteur Hans Werner Kilz entgegnete, auch für ihn sei die Affäre „eine grosze Enttäuschung“. Der Rat für deutsche Rechtschreibung erklärte, die Enthüllung werde „mitnichten zu einer Rücknahme der Reform“ führen.

Dies hatte zuvor der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski gefordert, der zudem die Umbennung von Günter Grass’ Geburtsstadt Danzig (polnisch: Gdansk) in „Aouiea“ (deutsch: Stadt ohne Konsonanten) ankündigte. Als „Zugeständnis an die internationale Gemütslage“ erklärte der Rat für deutsche Rechtschreibung: „Verhandelbar ist eine Umbenennung der Waffen-SS in Waffen-ß.“ Ein namhafter deutscher Osteuropaforscher kündigte unterdessen weitere Enthüllungen über Grass in einer „großangelegten Studie über kaschubische Zischlaute“ an. Des Weiteren stellte ein Berliner Journalist die Frage: „Darf man über so was eigentlich Gloßen schreiben?“

Tagesspiegel online 16.08.2006

http://www.tagesspiegel.de/politik/archiv/16.08.2006/2716606.asp

[Eine Glosse für Spätmerker. 1996 mußte ich meinen Wagen ummelden. Die Dame in der Kfz-Meldestelle sagte mir sogleich ungefragt, mit dem Blick auf meine Initialen: „Kennzeichen mit SS geben wir hier nicht heraus, mit SA auch nicht.“ Das erstaunte mich sehr, denn ich hatte gerade die staatlich betriebene ss-Reform kennengelernt. Dieser Widerspruch ist von mir seither zur Genüge glossiert worden. Dennoch haben beide Regelungen bis heute amtliche Geltung.]


Und darauf nochmals, zum Überdruß, ich:

Zitat:
Green, green Grass of Home

Anmerkung zu Jens Mühlings „Enthüllung“, welche im Tagesspiegel am 16. Tag dieses Monats erschien. Darüber schrieb ich bereits am 13. Tag dieses Monats in diesem Forum etwas zur allgemeinen Belustigung. Selbst durch die Konsultation der „Wikiblödia“ hätte einjeder Wißbegierige auf diese „Runen-Problematik“ aufmerksam werden können; aber, wie nicht anders zu erwarten war, wurde diese in ihr vermerkte behutsame Anregung zu weiterführenden genealogischen Studien stracks entfernt – wahrscheinlich im Sinne einer fürsorglichen Bevormundung.*

Nicht erst seitdem ich weiß, daß der berühmte Schriftsteller Adolf Muschg auf seiner Schreibmaschine ein großes „B“ tippte, um das auf der Tastatur fehlende „SZ“ (ß) zu schreiben, weiß ich von der Existenz der „Runen-Problematik“. Nein, schon Jahrzehnte vorher beschäftigte mich dieses Problem, als hoffnungslos in ältere Mädchen verliebter Jüngling zunächst, sodann als Liebhaber gebrochener Schriften und Herzen.

*Sie lautete wie folgt: „Günter Grass (eigentlich: Günter Graß; * 16. Oktober 1927 in Danzig-Langfuhr) ist ein deutscher Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker“ etc.
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Peter Lüber



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Beitrag: Sonntag, 20. Aug. 2006 18:29    Titel: Re: An die Jünger der Ältern Antworten mit Zitat

Noch ein Wort

Wenn es hier nicht hinpaßt, dann sollen die zuständigen Moderatoren und Administratoren es löschen, ihret-, aber nicht meinetwegen: Kein Volk dieser Erde hat einen so hohen Preis für die Verbrechen seiner Vorfahren bezahlt, wie das deutsche: den weltweiten Verruf seiner gesamten großartigen Kultur.
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Manfred Riebe



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Beitrag: Freitag, 03. Aug. 2007 22:22    Titel: „Ein Wirrwarr wie im 19. Jahrhundert“ Antworten mit Zitat

Rechtschreibreform
„Ein Wirrwarr wie im 19. Jahrhundert“

Von Dankwart Guratzsch

Die neuen Schreibweisen der Reform sind ab morgen in ganz Deutschland verbindlich, selbst für Nachrichtenagenturen. Von einer einheitlichen Regelung kann aber trotzdem keine Rede sein: Schweizer verglichen die Reform schon mit den Zuständen vor über 100 Jahren.

Nach einem Jahr „Pause“ in Sachen Rechtschreibreform werden Schüler, Lehrer, Ämter und Zeitungsleser von heute an erneut mit „neuen“ oder „neu verbindlichen“ Schreibweisen konfrontiert. Der Grund ist ein doppelter: Einmal vollzieht der von den Kultusministern ins Leben gerufene Rechtschreibrat unter Vorsitz des früheren bayerischen Kultusministers Hans Zehetmair (CSU) den offiziell zunächst „letzten“ Schritt der Rechtschreibreform. Gleichzeitig führen die Nachrichtenagenturen vereinheitlichte Schreibweisen ein, die ihrerseits aber keineswegs den Schreibweisen an den Schulen entsprechen müssen.

Was ändert sich, und was ist verbindlich? Die Deutsche Presseagentur hat zum Stichtag eine Wörterliste veröffentlicht, in der künftige verbindliche Neuschreibungen aufgelistet werden. „Eislaufen“ muss nun wieder klein und zusammengeschrieben werden, „leidtun“ – anders als früher – ebenfalls. Für andere Verbindungen wie „näher kommen“, „kennenlernen“, „warmmachen“, „richtigstellen“ oder „schwerkrank“ ist Zusammen- oder Getrenntschreibung freigestellt, „Rad fahren“ darf nur noch groß und getrennt geschrieben werden. „Bis auf weiteres“ und „sich zu eigen machen“ sind wieder verbindlich kleinzuschreiben, der „Blaue Brief“ und die „Rote Karte“ kommen – je nach Bedeutung – wie einst in großer und kleiner Schreibweise vor.

Auch diesmal ist es nicht durchgreifend gelungen, die unterschiedlichen Schreibweisen mit Bedeutungsgehalten zu verbinden. Nach „offizieller“ Rechtschreibung und damit auch an den Schulen wird von heute an ein zusammengeschriebenes „wieviel“, „zuviel“ oder „jedesmal“ als Fehler angestrichen. Wer in Analogie zur nun allein offiziell zugelassenen Schreibung „jedes Mal“ allerdings auch „dies Mal“ oder „jeder Zeit“ schreibt, macht ebenfalls einen Fehler.

Bei „Schiff-Fahrt“ taucht plötzlich als neue Variante ein Bindestrich auf, bei Fremdwörtern bleiben kuriose Neuschreibungen wie „Ketschup“ oder „Grafologe“ gestattet.

Auch die Nachrichtenagenturen haben mit der Reform zu kämpfen

Dieselbe Uneinheitlichkeit begegnet einem auch in der von heute an eingeführten Rechtschreibung der Nachrichtenagenturen. Mit ihr sollten Widersprüche zwischen den Wörterbüchern Duden und Wahrig beseitigt werden. Wie die Forschungsgruppe Deutsche Sprache moniert, ist dies aber keineswegs gelungen. „Vielmehr bieten sie eine inkonsistente Mischorthografie an, in der es zwar ,hartgekocht‘, aber ,gar gekocht‘, zwar ,nass geschwitzt‘, aber ,rotgeweint‘ heißen soll: eine Orthografie also, die unerlernbar und nicht nur für die Zwecke der Printmedien unbrauchbar ist“, kritisiert das Gremium, dem Sprachwissenschaftler wie Theodor Ickler und Christian Stetter sowie die Schriftsteller Walter Kempowski, Sten Nadolny und Adolf Muschg angehören.

Heftige Kritik an den Endergebnissen der Rechtschreibreform kommt auch von der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK). Nach ihrer Meinung habe der Rat für deutsche Rechtschreibung ein Regelwerk vorgelegt, „das bloss (Schweizer Schreibweise) ein politischer Kompromiss, aber keine Grundlage für eine sprachrichtige und einheitliche Rechtschreibung ist“. Dadurch herrsche heute in Kernbereichen der Rechtschreibung ein „Wirrwarr, wie wir ihn zuletzt im 19. Jahrhundert hatten“.

Die SOK empfiehlt daher „ohne weiteres“, „des weiteren“ (nicht: ohne Weiteres, des Weiteren) und „der eine“, „der erstere“ (nicht: der Eine, der Erstere) zu schreiben. Und sie will nicht gelten lassen, das längst übliche Wort „jedesmal“ durch „jedes Mal“ zu ersetzen. Generell solle mit „grossen Buchstaben“ (Schweizer Schreibweise) „sparsam“ umgegangen werden.

Für Deutschland hat Hans Zehetmair angekündigt, dass sich die neuen Schreibweisen entsprechend dem Schriftgebrauch weiter verändern würden. Dafür will der 40-köpfige Rechtschreibrat unter seiner Führung sorgen. Ob das auch zur (weiteren) Rückkorrektur neu eingeführter Schreibweisen führen kann, hat er nicht gesagt.

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gelten die neuen Schreibregeln auch weiterhin nur für Schulen und Behörden. Im Alltagsschreibgebrauch kann jeder Bürger auch künftig die ihm sympathischste Rechtschreibung wählen. Die Mehrheit der prominenten Schriftsteller – an der Spitze Günter Grass – hat dieses Recht für sich ausdrücklich in Anspruch genommen und veröffentlicht die eigenen Werke nach wie vor in herkömmlicher Rechtschreibung.
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Bildunterschrift: Die letzte Übergangsfrist ist vorbei, nun muss in der neuen Rechtschreibung geschrieben werden

Dankwart Guratzsch: Rechtschreibreform. „Ein Wirrwarr wie im 19. Jahrhundert“. In: DIE WELT online vom 31. Juli 2007

http://www.welt.de/politik/article1069858/Ein_Wirrwarr_wie_im_19._Jahrhundert.html

In der Papierausgabe lautet die Überschrift:

Dankwart Guratzsch: Ab heute gibt es wieder den „Blauen Brief“ und die „Rote Karte“. Die Rechtschreibreform tritt endgültig in Kraft. In: DIE WELT Nr. 24 vom 1. August 2007, S. 4

Auf der Seite 1 schreibt Guratzsch:

Rechtschreibreform: Jetzt wird es für Schüler ernst

Hamburg - Nach den Sommerferien wird es für deutsche Schüler ernst: Rechtschreibfehler werden ausnahmslos angestrichen, denn am heutigen 1. August ist die Übergangsfrist nach der Rechtschreibreform vorbei. Als erstes Bundesland ist Nordrhein-Westfalen betroffen. Ein Jahr lang galten veraltete Schreibweisen nicht als Fehler. Auch Nachrichtenagenturen stellen ihre Schreibweise endgültig um. Bei der Axel Springer AG, in der die WELT erscheint, gilt die neue Rechtschreibung seit einem Jahr. DW

DW (= Dankwart Guratzsch): Rechtschreibreform: Jetzt wird es für Schüler ernst. In: DIE WELT Nr. 24 vom 1. August 2007, S. 1
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Anmerkungen:

Dankwart Guratzsch gehört zu den wenigen Journalisten, die beim Thema „Rechtschreibreform“ keine Desinformation betreiben. Guratzsch sagt klar, daß der Neuschrieb laut Bundesverfassungsgericht nur für die Schulen gilt und daß außerhalb der Schulen jedermann so weiterschreiben kann wie bisher.

Interessant ist daher die Überschrift in der Papierausgabe: „Die Rechtschreibreform tritt endgültig in Kraft“, mit der der flüchtige Leser politisch korrekt desinformiert wird.

Aber man muß ergänzen, daß auch innerhalb der Schule kein Schüler gezwungen werden kann, die sich ständig verändernde neue Rechtschreibung zu verwenden. Die Schülerin Josephine Ahrens hat es auf dem Klagewege erreicht, daß sie die traditionelle Orthographie schreiben kann, wie unsere hervorragenden Schriftsteller.

* Die Schüler als Opfer und „Humankapital“ - http://www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=411

* Josefine Ahrens (15) aus Elsfleth: „Ich klage gegen die Rechtschreibreform“ - http://www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?p=3021#3021

* Schülerin klagt vor dem Verwaltungsgericht - http://www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?p=3649#3649

* Wer herkömmlich schreibt, macht keinen Fehler - http://www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?p=4089#4089

Diese Ausnahme bestätigt die Regel: Die Deutschen sind ein Volk von Pickelhaubern: Pickelhaube auf und in Fünferreihen im Gleichschritt marsch!

Aber nach welcher der neuen Schreibweisen sollen die Schüler schreiben? Nach Duden, nach Bertelsmann, nach welcher Auflage? Dürfen sie schreiben wie die FAZ: „Potential“? Früher war man stolz, wenn man die Rechtschreibung beherrschte. Aber wer beherrscht heute die Rechtschreibung, ohne nachzuschlagen? Jetzt kann jeder Trottel schreiben, wie er mag.

Der von Hans Zehetmair mit der Rechtschreibreform eingeleitete intellektuelle Rückbau wird fortgesetzt. Man befindet sich in einem Prozeß permanenter Rechtschreibreformen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die Wörterbuchverlage. Die Steuerbürger zahlen und die Verlage kassieren.

Dieser Prozeß der Deintellektualisierung ist zugleich ein antidemokratischer Prozeß, der das Grundrecht der Bürger auf freie Meinungsäußerung noch mehr einschränken soll.
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