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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Dienstag, 03. Aug. 2004 10:20 Titel: DIE ZEIT |
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Die letzte Schangs
Die Rechtschreibreform ist überflüssig, teuer, widersprüchlich und unvermittelbar. Bloß weg damit!
Von Ulrich Stock
Müssen wir uns noch einmal über die neue Rechtschreibung echauffieren? Seit Jahren werden die Argumente hin- und hergewendet… Und doch ist die Zeit reif für einen neuen Blick aufs Ganze: auf die Begründung, die Qualität und das Resultat dieser seltsamen Reform. Ihr Ziel war die Vereinfachung der Orthografie; Schüler sollten sie leichter erlernen und anwenden können; die deutschsprachigen Länder sollten einheitliche Regeln bekommen. Ist dies gelungen? Und wird dies öffentlich anerkannt?
Die beste Antwort darauf gibt das gegenwärtige Tohuwabohu. Am 1. August 1998 trat das Regelwerk gegen größte Widerstände in Kraft und wird inzwischen an allen Schulen unterrichtet. Nun, im Sommer 2004, verlangen mehrere Ministerpräsidenten die Rücknahme. Sie wissen sich eins mit Politikern quer durch die Parteien, namhaften Schriftstellern und Sprachwissenschaftlern, vielen Eltern und Lehrern.
Während die Verfechter der Reform (nicht selten identisch mit ihren Urhebern) die Schuld am neuerlichen Aufstand beim Sommerloch suchen, zeigen Umfragen: Die überwältigende Mehrheit der Deutschen hält von der ganzen Schose nichts. Wenn es eine staatlich verordnete Reform in sechs Jahren nicht schafft, ein Quäntchen Akzeptanz zu erlangen, dann ist sie gescheitert. Warum soll eine Gesellschaft »einfacher« schreiben, wenn sie das einfach nicht will?
Die Reform, gedacht zur Beseitigung komplizierter Regeln, hat den Missstand fortwährenden Rumorens geschaffen: Das Volk zürnt, weil es sich seiner schwierigen, aber lieb gewonnenen Schrift enteignet fühlt. Schrieb man früher korrekt in bezug auf, aber mit Bezug auf – wen hat es wirklich gekümmert? Wer wollte, schaute im Duden nach; andere nahmen die kleine Unschärfe in Kauf. Für die Leser war das nicht weiter schlimm, sie waren sich ja auch nicht sicher, und im Übrigen ist weder die eine noch die andere Formulierung gutes Deutsch.
Aber solche Zweifelsfälle zu beseitigen war eine Absicht der Reform. Und? Heute gibt es mehr Rechtschreibunsicherheit als je zuvor. Selbst die Präsidentin der Kultusministerkonferenz konnte, von Journalisten gefragt, das Wort Husten nicht trennen. Den Bürgern geht es nicht besser als der obersten Kulturwächterin. Sie verstehen die neuen Regeln noch weniger als die alten und machen mit traumwandlerischer Sicherheit neue Fehler: mit welchem Ergebniss, weiss jeder, der liest.
Apropos – was ist mit den Lesern? Ihnen wird das Verständnis sogar durch korrekte Reformschreibweisen erschwert. Immer wieder stolpern sie über grammatikalisch unebene Stellen, die ihnen nicht Leid tun, sondern Leid antun, indem sie die Konzentration vom Geschriebenen auf dessen Schreibung lenken. Da kommt ein Satz regelgemäß ohne Komma und mit Komma wäre er doch viel leichter zu verstehen gewesen.
Schlimmer noch ist die Spaltung der Leserschaft. Schüler schreiben inzwischen anders als ihre Eltern und anders als Grass und Walser und Enzensberger, als all jene, die Sprache nicht regeln, sondern zum Leben erwecken. Somit hat die Reform ihren Zweck auf ganzer Linie verfehlt. Sie war unnötig, weil sie keinem dringenden gesellschaftlichen Erfordernis entsprang. Sie war teuer, weil Millionen Menschen ihr Lebens- und Arbeitszeit widmen mussten. Sie stiftet völlig unproduktives Durcheinander an Schulen und Universitäten, in Behörden und Verlagen.
In einem Jahr, am 1. August 2005, soll die wegen ihrer Mängel bereits mehrmals reformierte Reform Endgültigkeit erlangen. Dann soll die alte Rechtschreibung ihre staatliche Duldung verlieren – wenn nicht noch ein Wunder geschieht.
Die meisten Zeitungen haben sich der Vorschrift weit im Vorhinein unterworfen. Gleichwohl haben viele rechtschreibsensible Redakteure die Hoffnung auf das Wunder noch nicht aufgegeben. Einstweilen versuchen sie, das amtliche Diktat durch geeignete Wortwahl zu unterlaufen: Wer über Geschmack verfügt, schreibt lieber über grauenhafte Pasta als über gräuliche Spagetti.
Das Wunder scheint möglich zu sein, wie der aktuelle Aufstand zeigt. Das problematische Regelwerk könnte mit vereinten Kräften doch noch gekippt werden. Die Reformer in ihrer Not suchen Zuflucht bereits bei Sekundärargumenten: Das Projekt sei international und könne nicht einfach aufgekündigt werden – was schon deshalb Unsinn ist, da die Schweiz bis heute kein ß verwendet und es nach wie vor keine länderübergreifend einheitliche Schreibung gibt.
Weiterhin rechtfertigen sich die Befürworter ausgerechnet mit dem von ihnen angerichteten Schaden: Man habe doch schon so viele Schüler in der neuen Rechtschreibung unterwiesen, so viele Bücher neu gedruckt … Als ob der Murks durch seine Fortsetzung gemildert würde.
Nachdem die Deutsche Bahn an den Bedürfnissen ihrer Kunden vorbei die alte Bahncard abgeschafft und durch ein wirklichkeitsfremdes Rabattsystem ersetzt hatte, halfen auch teure Werbekampagnen nichts. Waren nicht alle froh, als der Spuk schließlich vorbei war und die klassische Bahncard wiederkam?
Und nun kommt das allerletzte Argument für die Rechtschreibreform: Ihre Rücknahme bewiese die generelle Reformunfähigkeit Deutschlands. Das ist völlig absurd. Das Wahlvolk kann an Zutrauen in wichtigere Reformprojekte nur gewinnen, wenn die Politik auch einmal einen Fehler einbekennt und einen Irrtum korrigiert.
Die Ministerpräsidenten der Länder müssen ihren Kultusministern die Zuständigkeit für die Reform entwinden und sie kurz vorm Ziel stoppen. Um es im Geiste der neuen Rechtschreibung zu sagen: die letzte Schangs nutzen!
DIE ZEIT Nr. 32 vom 29. Juli 2004
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Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Donnerstag, 03. März. 2005 12:28, insgesamt 1mal bearbeitet |
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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Dienstag, 03. Aug. 2004 10:25 Titel: Die neue Freiheit |
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Die neue Freiheit
Die Rechtschreibreform erlöst von der Regelwut und bewahrt doch die Tradition der deutschen Sprache. Sie muss bleiben
Von Jens Jessen
Der größte Gewinn der Rechtschreibreform besteht in dem, was die Reformgegner am meisten aufregt. Es ist die Liberalisierung der Schreibweisen. Die Zahl der Regeln wurde halbiert, vieles Strittige ins Belieben gestellt, die verzwickte Kommasetzung durch weitgehende Freigaben ersetzt. Die Reform verlangt nicht, wie manchmal unterstellt, den Verzicht auf Kommas, wenn darunter der Sinn leidet. Jeder darf so viele setzen, wie er für nötig hält, um verstanden zu werden. So wird auch, um einen zweiten Stein des Anstoßes zu nennen, niemand gezwungen, unschöne Trennungen vorzunehmen; wer aber griechische Fremdwörter nicht kennt, muss auch nicht angstgepeitscht im Lexikon nachschlagen, um die Trennung At-rophie zu vermeiden.
Es gibt also einen antiautoritären Zug in der Reform. Er wird noch dadurch verstärkt, dass es neben der gewollten eine ungewollte Liberalisierung gibt. Von vielen wird die neue Orthografie nicht oder nur fragmentarisch angewandt. Man nennt das Rechtschreibschwäche; sie gab es immer und überall. Nicht aber wird aus der behaupteten Unverständlichkeit der neuen Regeln ein Argument für die alten, denn diese waren viel komplizierter. Wer die neuen nicht versteht, wird auch die alten kaum begriffen haben. Sie verlangten Kenntnisse von Semantik und Grammatik bis in die Verästelungen hinein, die es erlauben, zwischen der Behandlung seines Problems im ganzen und der eines Problems im Ganzen zu unterscheiden. Wenn der Schreiber aber das Problem sowohl mit allen seinen inneren Facetten im ganzen wie mit allen äußeren Zusammenhängen im Ganzen behandeln wollte, konnte er vor dem Duden nur verzweifeln.
Sprache verfügt, um Verständlichkeit herzustellen, eben nicht nur über die Mittel der Präzision, sondern auch über die der Vagheit. Eine Rechtschreibung muss elastisch genug sein, alle Mittel zu erlauben. Diese Elastizität verlor die alte Schreibung, je mehr sie sich über die Jahrzehnte verfeinerte. Sie täuschte damit auch eine Logik vor, die in der Grammatik gar nicht enthalten ist; viele ihrer Regeln waren leere Sophistereien, mit denen ein fundamentaler Unterschied zwischen radfahren und Auto fahren konstruiert wurde.
Sprachen sind aber keine logischen Systeme; sie sind halb logisch, halb systematisch, voller Ausnahmen und Reste früherer Sprachverhältnisse. Darum ist es auch Unfug, der reformierten Schreibung Widersprüche vorzuwerfen. Sie enthält zwar Unlogisches. Aber nur weil jede Logik an der einen Stelle Unlogik an einer anderen produziert. Widerspruchsfrei wäre nur eine rein fonetische Orthografie, wie es sie im Italienischen, Russischen, Portugiesischen gibt. Eine solche würde uns allerdings zur Entscheidung zwingen, ob wir weich und Keiser oder Kaiser und waich schreiben wollen. Wir müssten uns auch von der grammatikalisch begründeten Großschreibung verabschieden, obwohl sie, wie viele Untersuchungen gezeigt haben, die Lesbarkeit entscheidend erhöht.
Erst das wäre der große Kulturbruch, den die Reformgegner schon jetzt beklagen. Tatsächlich aber ist die neue Schreibung noch immer auf dem deutschen Sonderweg unterwegs, der darin besteht, sowohl fonetische wie etymologische wie syntaktische wie semantische Aspekte zu berücksichtigen. Aber die Reform hat sich um Ordnung bemüht. Es ist vernünftig, bei der Unterscheidung von ss und ß vor allem fonetisch, also nach Länge des vorangegangenen Vokals, zu entscheiden. Es ist auch vernünftig, die Wortbildung so durchsichtig wie möglich zu machen, also etwa die Verwandtschaft von aufwändig und Aufwand nach dem Muster von anständig und Anstand zu betonen. Nicht vernünftig war es, behände zu Hand zu stellen, weil es damit nichts zu tun hat. Aber solche Scheinverwandtschaften, Volksetymologien genannt, kannte auch die alte Schreibung. Wetterleuchten hatte nichts mit Leuchten zu tun (sondern mit mittelhochdeutsch leich, Spiel).
Volksetymologien sind nicht verwerflich; sie entstehen bei dem Versuch der Sprecher, sich die eigene Sprache zu erklären. Wir haben sie aus Jahrhunderten vorwiegend mündlicher Überlieferung geerbt; sie zeigen die historische Tiefe der Sprache an. Auch die rücksichtslose Eindeutschung von Fremdwörtern ist nicht neu; der Schose (Chose) ist schon die Perücke (Perruque) vorausgegangen. Gerade die Vergangenheit aber tritt uns in der neuen Schreibung wieder näher, anders als der ungebildete Konservatismus der Reformgegner meint. Ein Beispiel ist die Zunahme von Groß- und Getrenntschreibungen; sie ist eine Rückkehr zu Gewohnheiten des 19. Jahrhunderts, wo im Zweifel groß und auseinander (zum Beispiel auch aus einander) geschrieben wurde.
Selbst manche willkürliche Neuerung schärft den Sinn dafür, dass Orthografie eine Sache der Mode ist. Es gibt keine wahre, heilige Schreibung des Deutschen. Schiller und Goethe, Kleist und Fontane schrieben nicht nach dem alten Duden. Man kann sie verstehen, obwohl sich mancher über Hülffe oder fodern (statt fordern) wundern mag. Die alte Schreibung wird zu Unrecht als klassisch empfunden; sie entstand im Kern durch die Rechtschreibkonferenz von 1901. Auch sie war das Ergebnis einer Expertenkommission und keiner demokratischen Volksbewegung.
Sprache ist etwas Gewachsenes; eine verbindliche Schreibung dagegen immer ein Hoheitsakt. Wer zu einer alten Orthografie zurückkehren will, müsste erklären, warum er ausgerechnet die Duden-Schreibung nach 1901 will und nicht etwa zu Johann Christoph Adelungs Wörterbuch von 1786 zurückmöchte. Die Reformgegner haben nur die Bequemlichkeit ihrer Generation auf ihrer Seite. Sie könnten sich aber auch an der neuen Liberalisierung erfreuen.
DIE ZEIT Nr. 32 vom 29. Juli 2004
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Anmerkungen:
Jens Jessen, geboren 1955 in Berlin, studierte Germanistik und Kunstgeschichte. Bei der Deutschen Verlangsanstalt in Stuttgart arbeitete er als Lektor für Neue deutsche Lyrik und bei Manesse in Zürich für Ältere Literatur. Anschließend war er acht Jahre lang Literaturredakteur bzw. Berliner Kulturkorrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dann Feuilletonchef der „Berliner Zeitung“. Jetzt leitet Jessen das Feuilleton der Hamburger Wochenzeitung „DIE ZEIT“.
www.rechtschreibreform.com/Perlen/KraftBank/KraftBank.pl?FriJul3011:11:31CEST2004
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Abstimmung auf der ZEIT-Internetseite manipuliert
Hallo.
Die Internet-Abstimmung bei http://www.zeit.de/feuilleton/rechtschreibung wird derzeit massiv mit „Nein“-Stimmen manipuliert: Es kommen mehrere „Nein“-Stimmen pro Sekunde. Der Server scheint die Manipulation erst nach einiger Zeit als solche zu erkennen, dann ist für ein paar Minuten Ruhe - vermutlich bis sich der Urheber de Manipulation eine neue IP-Adresse besorgt hat.
www.rechtschreibreform.com/Perlen/KraftBank/KraftBank.pl?FriJul3011:12:32CEST2004 |
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Manfred Riebe
Registriert seit: 23.10.2002 Beiträge: 2840 Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg
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: Freitag, 04. März. 2005 17:53 Titel: Kampagnen, Orden, Knallfrösche |
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Kampagnen, Orden, Knallfrösche
Der Streit um die Rechtschreibreform hat die politische Kultur verändert: Journalisten machen immer unverhohlener Politik - und Politiker lassen immer mehr mit sich machen
Von Dirk Metz
Längst gehören die Journalisten zu den Mächtigsten im Lande. Gegen die Schlagzeilen der Presse kann kein Politiker regieren und kein Unternehmen bestehen«, hat der Journalist und Publizist Wolf Schneider unlängst formuliert, und Jürgen Leinemann, langjähriger Reporter des Spiegels, brachte es auf den Punkt: »Die politischen Journalisten – die wirklich politischen Journalisten, die dem richtig verfallen sind –, die sind schon genauso im Geschäft wie die Politiker auch. Die wollen es wissen, die wollen mitreden.« Wollen sie nur mitreden, oder wollen sie beeinflussen, Macht ausüben? Teile der Medien verstehen sich immer mehr als Politikgestalter, Teile der Politik meinen, diesen Begehrlichkeiten Rechnung tragen zu sollen. Man schaukelt sich gegenseitig hoch. Und die »Kunden«, sie verstehen Medien und Politik immer weniger.
Medien entscheiden wesentlich mit über die öffentliche Wahrnehmung, sie prägen in beachtlichem Ausmaß die öffentliche Meinung. Aber sie haben kein Mandat zur Machtausübung. Sie sind von niemandem gewählt, und sie werden auch von niemandem inhaltlich so kontrolliert, dass sich daraus Einfluss auf die tagesaktuelle Arbeit ergeben könnte. Selbst für fehlerhafte Berichterstattung wird in aller Regel niemand zur Rechenschaft gezogen, tagesaktuell formulierte Einschätzungen, die sich als völlig falsch erweisen, haben kaum Konsequenzen. Es handelt sich also um eine Macht ohne Kontrolle im engeren Sinne – und um eine immense Macht dazu.
Eine einschneidende Veränderung des politischen Journalismus der letzten Jahre ist der Trend zum Themenhopping. Hektisch wird ein Thema nach dem anderen hochgezogen, sodass neben dem jeweiligen Topthema auch wichtige Dinge keinen sonderlichen Stellenwert mehr haben. Die Reduzierung auf ein Thema und die exzessive Berichterstattung sorgen für falsche Gewichtung. Bedeutendes fällt hinten runter, Komplexes wird abgedrängt. Unter der Dominanz der Berichterstattung und der Bilder muss dem normalen Zuschauer das Maß verloren gehen.
Das Themenhopping korrespondiert unmittelbar mit dem »Sofortismus«, dem vermeintlichen Anspruch der Medien, für alle neu auftauchenden Probleme – erst recht für solche, die im Rahmen des Themenhoppings nach oben »geschossen« werden – abschließende Lösungen präsentiert zu bekommen. Das Leben aber wird demgegenüber, man mag es ja bedauern, immer komplexer und komplizierter. Es gibt immer mehr Probleme, für die es keine sofortige Lösung gibt und immer mehr Vorschläge, zu denen man nicht sofort eine fundierte und vor allem abschließende Meinung parat hat. Manchmal lässt sich der Eindruck gewinnen, je komplizierter die Frage, desto schneller werden einfache und schnelle Lösungen abgefragt, ja abverlangt.
Es gibt nicht für jedes Problem die sofortige, 15-sekündige Antwort
Ein selbstkritischer Journalismus sollte sich prüfen, ob er der Politik nicht mehr Zeit lassen müsste. Gerade angesichts der Kompliziertheit der heutigen Probleme ist es nicht altmodisch, sondern klug, wenn Politik sich kompetente Fachleute holt, Fragen stellt, sich klug redet, abwägt – und sich dann erst mit Antworten an die Öffentlichkeit wendet. Es gibt nicht auf jede Herausforderung die sofortige, 15-sekündige und schlüssige Antwort – und Politiker sollten auch bereit sein, das zu sagen.
Immer wieder werden von manchem politischen Journalisten interessante, aber auch skurrile oder gar undurchführbare Vorschläge geboren – frei nach dem Motto: »Lass dir etwas einfallen, und suche dir einen Politiker, der es öffentlich vertritt.« Legendär sind die »Initiativen«, Mallorca zum 17. deutschen Bundesland zu machen oder Gaststätten, die nicht wenigstens ein deutsches Gericht auf der Speisekarte ausweisen, mit einer »Pizza-Steuer« zu belegen. Unvergessen auch die Forderung eines Ausgehverbotes für Jugendliche nach 21 Uhr oder der Vorstoß, wonach Auslandsurlaub nur noch alle fünf Jahre möglich sein sollte. Während solche Skurrilitäten das geneigte Publikum vielleicht noch zu unterhalten vermögen, wird es gefährlicher, wenn in regelmäßigen Abständen vermeintlich oder tatsächlich gute Vorschläge präsentiert werden, die dann jedoch im politischen Nichts enden, enden müssen. Das gilt für verschiedene Vorschläge zu einer Länderneugliederung, kredenzt von Politikern, die sehr wohl wissen, dass weder Bremen noch das Saarland und sicher auch nicht Schleswig-Holstein oder Rheinland-Pfalz bereit sein werden, sich selbst aufzulösen.
Ähnliches gilt für die regelmäßig erhobene Forderung nach der Bündelung aller Landtagswahlen. Sie ist völlig unrealistisch, weil Wahlperioden in rechtlich völlig unvertretbarem Ausmaß massiv gekürzt oder verlängert werden müssten. Die Bürgerinnen und Bürger aber finden solche Initiativen gut, ja überfällig. Umso mehr ärgern sie sich darüber, dass solche Vorschläge in regelmäßigen Abständen gemacht werden, die Politik aber nicht einmal eine solche vermeintliche Kleinigkeit, ja Selbstverständlichkeit umzusetzen vermag. So ergibt sich ein kleines Teil im großen Puzzle der Politikverdrossenheit.
Immer öfter begnügen sich Teile der Medien freilich nicht mehr »nur« mit »Wochenend-Knallfröschen«, sondern betreiben ganz offen Kampagnen, um Politik zu gestalten, politische Entscheidungen zu verändern. Ein Beispiel war die von einer großen deutschen Boulevard-Zeitung im Jahr 2003 erhobene Forderung nach einem Vorziehen der ursprünglich zum 1. Januar 2005 vorgesehenen Steuerreform. Wochenlang wurden Verfechter dieses Schrittes journalistisch belobigt, bekamen den symbolischen »Steuer-Orden« verliehen. Der mediale Druck war sicher ausschlaggebend dafür, dass schließlich die Steuerreform in einem ersten Schritt zum 1. Januar 2004 zur Hälfte vorgezogen wurde.
Und noch gewaltiger war der mediale Druck im Sommer 2004, um das endgültige Inkrafttreten der Rechtschreibreform zum 1. August 2005 zu verhindern und eine Rückkehr zur alten Rechtschreibung durchzusetzen. Auch diesmal wurde ein Orden verteilt, an die so genannten Retter der deutschen Sprache. Mag man sich über eine solche Auszeichnung noch amüsieren, so wird es offenkundig fragwürdig, ja gefährlich, wenn Journalismus nicht mehr nur Partei bezieht, sondern Partei sein will und ist. Anders ist kaum zu erklären, wenn am Wochenende nach dem Großangriff einiger deutscher Verlage auf die neue Rechtschreibung in einer Sonntagszeitung vier Politiker und ein Literaturkritiker im Aufmacher die Position dieser Zeitung einnahmen, den Leserinnen und Lesern aber völlig verschwiegen wurde, dass parallel am Tag vor dem Erscheinen der Zeitungsausgabe fünf Ministerpräsidenten und zwei Kultusminister öffentlich gegen ein Zurück zur alten Rechtschreibung Position bezogen und die Deutsche Presse-Agentur eine Dreiviertelmehrheit der Bundesländer für die Beibehaltung der neuen Regeln konstatierte.
Wer Politik gestalten will, ist in den Parteien herzlich willkommen
Die Debatte um die Rechtschreibreform dürfte die politische Kultur in Deutschland endgültig verändert haben, weil Medien mit der Macht ihrer Auflage in einem bislang ungekannten Maße Druck auf politische Entscheidungen machen wollen und Politik die Frage beantworten muss, ob sie in der Lage ist, diesem Druck standzuhalten. Medien sollen selbstverständlich Position beziehen, aber sie sind keine politisch Handelnden.
Politiker sind nicht Mitarbeiter von Medien, so wie Journalisten nicht Mitarbeiter der Politik oder von Parteien sind. Wer als Journalist Politik gestalten und sie mit kreativen Ideen bereichern will, ist in den Parteien herzlich willkommen und sollte in ihnen versuchen, Mehrheiten zu finden. Medien sollten überdenken, was sie Politikern zumuten, deren Standing in der jeweiligen Partei oder beim Wahlvolk nun einmal auch von Präsenz in den Medien abhängt. Wo ein Bundeskanzler, eine Parteivorsitzende oder ein Ministerpräsident noch zu widerstehen vermag, mag ein einzelner Abgeordneter dem Reiz einer Idee erliegen, die ihn vielleicht ein einziges Mal in eine auflagenstarke Zeitung, ins Radio oder Fernsehen führen kann.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Wer Gehör finden will, wer etwas bewegen will, muss Publizität erlangen. In einer Mediendemokratie gehört es zum Rüstzeug der Politik dazu, Vorschläge so zu präsentieren, dass sie vom Publikum auch verstanden werden. Und wenn Politiker über Unterhaltungswert verfügen, ist dieses genauso erfreulich, wie wenn sie über rhetorische Qualitäten verfügen. Beides kann die Beschlagenheit eines Politikers in Sachfragen wohltuend ergänzen, es sollte sie jedoch nicht ersetzen.
Wir brauchen ein Umdenken in den Medien, eine neue Sachlichkeit. Die Medienkultur hängt nun einmal zuallererst von Qualität und Ethos der in den Medien Tätigen ab. Mehr Zurückhaltung und mehr Unparteilichkeit, mehr Zuverlässigkeit und Selbstkritik, mehr Besinnen auf die Informationsvermittlung als den wichtigsten Auftrag der Medien. Dann ist die Sorge, wir seien in unserer Gesellschaft overnewsed and underinformed, weniger berechtigt.
Und wir brauchen eine Politik, die sich auch auf die sachlichen Probleme konzentriert, die sich nicht von Demoskopie und Medien drängen lässt, sondern gelassen ist. Und eine Politik, die sich wieder ernster nimmt. Dann wird sie auch wieder ernster genommen.
Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrags wird im März 2005 in dem Sammelband »Politik nach Drehbuch. Von der politischen Kommunikation zum politischen Marketing«, hrsg. von Lars Rademacher, Lit Verlag, Münster/London/Wien, erscheinen.
Dirk Metz ist Staatssekretär und Sprecher der Hessischen Landesregierung. Er gilt als einer der engsten Vertrauten von Ministerpräsident Roland Koch. Metz, 48, studierte Politologie in Bonn und arbeitete früher als Zeitungsredakteur.
DIE ZEIT Nr. 9 vom 24. Februar 2005, S. 15 - Politik |
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