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Der Rechtschreibreformer Horst Haider Munske

 
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Manfred Riebe



Registriert seit: 23.10.2002
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Beitrag: Montag, 02. Feb. 2004 23:50    Titel: Der Rechtschreibreformer Horst Haider Munske Antworten mit Zitat

<b>Der Rechtschreibreformer Horst Haider Munske</b>

Prof. Dr. Horst Haider Munske
Emeritus am Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft
Bismarckstr. 1, 91054 Erlangen,
htmunske@phil.uni-erlangen.de
http://www.sprachwissenschaft.uni-erlangen.de/personal/munske.html

Horst Haider Munske, geb. 1935 in Görlitz, war seit 1975 Professor für Germanische und Deutsche Sprachwissenschaft und Mundartkunde an der Universität Erlangen. Er war von 1988 bis 1996 Mitglied des Internationalen Arbeitskreises für Orthographie und 1997 Mitglied der Zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung. Er trat im September 1997 aus dieser Kommission aus.

Der Rücktritt des bayerischen Vertreters aus der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung, Professor Horst Haider Munske (Erlangen), hat seine Ursachen in dem menschenverachtenden Massengleichschaltungsexperiment der Reformer und Kultusminister. Munskes Rücktrittsgründe: Er wollte immer nur eine behutsame „Sprachpflege“ und verurteilt die „Überrumpelungsaktion“ der Kultusminister und die „Sprachplanung“ (= Sprachmanipulation), die im „Vereinfachungswahn“ der Reformer und Kultusminister wurzelt (SPIEGEL 22.09.97, S. 226, Nürnberger Nachrichten 26.09.97, S. 4). Bei diesem Wahn handelt es sich um den Irrglauben, daß die Orthographie das „Herrschaftsinstrument“ (KM Rolf Wernstedt, Pressespiegel des niedersächsischen Kultusministeriums vom 21.10.96, FAZ 27.01.97, S. 8) einer „elitären Bildungsschicht“ sei und daß sich die Orthographie zugunsten einer „Unterschicht“ so verändern lasse, daß diese „elitäre Bildungshürde“ abgebaut werde, so daß Rechtschreibschwache weniger Fehler machten - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=187 -.


Kleine Auswahl seiner Veröffentlichungen zur Orthographie

Munske, Horst Haider: Über den Sinn der Großschreibung - ein Alternativvorschlag zur Neuregelung. In: Augst, G. u.a. (Hgg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen, 1997, S. 397-417

Munske, Horst Haider: Orthographie als Sprachkultur, Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1997, 336 Seiten

Eroms, Hans-Werner / Munske, Horst Haider (Hg.): Die Rechtschreibreform : Pro und Kontra. Berlin. 1997 - www.vrs-ev.de/literatur.php#rsr
In diesem Sammelband sind Aufsätze von Befürwortern und Gegnern der Reform zusammengestellt. Als Gegner treten zwei der Reformer auf: Horst Haider Munske und Peter Eisenberg. Beide haben inzwischen die Reformkommission wegen der Mängel der Reform und des Verhaltens der Kultusminister unter Protest verlassen.

Munske, Horst Haider: Wie wesentlich ist die Rechtschreibreform?. In: Eroms, Hans-Werner / Munske, Horst Haider (Hg.): Die Rechtschreibreform : Pro und Kontra. Berlin. 1997, S. 143-156

Munske, Horst Haider: Goethe kann sich nicht mehr wehren. In: Der Tagesspiegel vom 5. Juli 1997
Grüne Schleife - Gegen die Rechtschreibreform
http://members.aol.com/JUiP/rsr-0797.htm
www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?p=685#685

Munske, Horst Haider: Rückblick auf die Rechtschreibreform. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 45 Jg., H. 4 (1998), S. 442-446.

Munske, Horst Haider: Was soll eine Orthographiereform leisten, was soll sie lassen? In: Sprachwissenschaft 23/4 (1998), S. 413-421.

Munske, Horst Haider: Verfehlte Kulturpolitik - Rechtschreibreform: Wird die deutsche Sprache den Stempel der Europa-Untauglichkeit erhalten?. In: Kunst + Kultur vom 23. Januar 1998
www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?p=497#497

Munske, Horst Haider; Habermann, Mechthild (Hrsg.): Germanistische Linguistik in Erlangen. Eine Bilanz nach 50 Jahren . Erlangen: Institut für Germanistik, Nr. 27, Palm & Enke, 1/2000, 169 Seiten, ISBN 3-7896-0650-2, S. 129-139,

Habermann, Mechthild; Müller, Peter O.; Naumann, Bernd (Hrsg.): Wortschatz und Orthographie in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Horst Haider Munske zum 65. Geburtstag . Tübingen : Niemeyer, 2000. - 407 Seiten. ISBN 3-484-73051-X

Eroms, Hans-Werner: Die Neuregelung der s-Schreibung und die Prinzipien der deutschen Orthographie. In: Habermann, M. / Müller, P.O. / Naumann (Hg.): Wortschatz und Orthographie in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Horst Haider Munske zum 65. Geburtstag. Tübingen, 2000, S.357-373.

Munske, Horst Haider: Neue Rechtschreibwörterbücher im Irrgarten der Rechtschreibreform. Wie soll man selber schreiben und publizieren in diesem Rechtschreibchaos? „Alles Rotgedruckte ist falsch! Man vermeide die roten Giftpilze im Duden!“ In: Schule in Frankfurt (SchiFF), Nr. 44, Juni 2001
www.schule-in-frankfurt.de/44/44-04.htm
www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=185

Horst Haider Munske: Die angebliche Rechtschreibreform, St. Goar: Leibniz-Verlag, 2005, 163 Seiten, ISBN 3-931155-13-7
___________________________________________________

Anmerkung:
In den VRS-Links wurde „viewtopic“ durch „themaschau“ ersetzt, damit sie wieder funktionieren.


Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Montag, 18. Dez. 2006 17:55, insgesamt 4mal bearbeitet
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Manfred Riebe



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Beitrag: Donnerstag, 03. Jun. 2004 21:33    Titel: Augenzeugenbericht eines Rechtschreibreformers Antworten mit Zitat

Augenzeugenbericht eines Rechtschreibreformers
___________________________________________

HORST HAIDER MUNSKE

Rechtschreibreform I:

Von der Amtshilfe zum Protest


Amtshilfe

Sie war kein Drittmittelprojekt und hatte keine Sponsoren, sie dauerte länger als ein Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, kostete die Auftraggeber aber weniger als eine kleine Sachbeihilfe. Dafür hat sie die Arbeitskraft aller Beteiligten außerordentlich in Anspruch genommen: die Vorbereitung der Rechtschreibreform von 1977-1997. Die Beteiligten waren von wissenschaftlicher Seite die Mitglieder der Rechtschreibkommissionen in der damaligen BRD, der DDR, Österreich und der Schweiz und von politischer Seite Ministerialbeamte der Kultus- bzw. Schulministerien, die sich in größeren Abständen über die Arbeit ihrer Kommissionen berichten ließen, in eigenen politischen Konferenzen den Fahrplan der Reform abstimmten und am Ende auf der Wiener Abschlußkonferenz im November 1994 das letzte Wort hatten. „Amtshilfe“ nenne ich die Arbeit der Kommissionen, weil sie unentgeltlich erfolgte, auch ohne jegliche Bereitstellung zusätzlicher Personal- und Sachmittel für die Ausarbeitung der Reformvorschläge. Die beteiligten Professoren der Germanistik bzw. der Fachdidaktik nahmen das Personal und die Etats ihrer Lehrstühle in Anspruch, im übrigen betrachteten sie ihre eigene Arbeit als angewandte Forschung.

Ich will meinen Anteil hieran von der hoffnungsvollen Mitwirkung bis zum Protest gegen die Einführung der neuen Rechtschreibung skizzieren und damit auch einen Einblick in die Arbeitsweise der Rechtschreibkommissionen geben. 1987 wurde ich durch das Kuratorium des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim zum Mitglied der „Kommission für Rechtschreibfragen“ dieses Instituts gewählt. Der Vorschlag war von der Kommission selbst ausgegangen, nachdem ich auf einer Expertentagung ein Modell für Möglichkeiten und Grenzen einer Reform der Fremdwortschreibung vorgestellt hatte. Das eigentliche Eintrittsbillett war jedoch mein damaliger Reformeifer. Die Kommission beschäftigte sich bereits seit 10 Jahren mit Vorarbeiten zur Rechtschreibreform, hatte aber erst in diesem Jahr einen offiziellen Auftrag seitens der KMK und des Innenministeriums erhalten, einen Vorschlag zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung auszuarbeiten.

Für den Kontakt mit der Mannheimer Kommission war von politischer Seite eine Arbeitsgruppe Rechtschreibreform gebildet worden, die sich aus Ministerialbeamten der Kultusministerien der Länder zusammensetzte. Das Interesse von dieser Seite war von Anfang an auf eine Vereinfachung der Rechtschreibung gerichtet, um den Rechtschreibunterricht zu erleichtern. Während dies Ziel im Prinzip auch die Möglichkeit radikaler Änderungen einschloß, waren die betreffenden Beamten tatsächlich eingedenk früherer gescheiterter Rechtschreibreformen sehr zögerlich gegenüber solchen Vorschlägen. So lehnten sie von vornherein eine Änderung der charakteristischen deutschen Substantivgroßschreibung ab, waren auch entschieden gegen durchgreifende Reformen der Fremdwortschreibung (wie z. B. Filosof) und natürlich gegen Änderungen der Vokallängebezeichnung, die bereits hundert Jahre zuvor eine Rechtschreibreform hatten scheitern lassen. Daß sie später dennoch einer Neuregelung zustimmten, die sich bald als sehr mangelhaft erwies, hat wohl zwei Gründe: Die Beamtengruppe stand nach mehrjährigen Beratungen der wissenschaftlichen Kommissionen unter Druck, endlich ein Ergebnis vorzulegen, das politisch „umsetzbar“ war so formulierte eine Ministerialrätin das Ergebnis der Wiener Abschlußkonferenz mit den Worten:„Hauptsache, wir können einen Erfolg melden!“ , zum anderen waren die tatsächlichen Auswirkungen dieser Neudarstellung und Reform der Rechtschreibung kaum in vollem Umfang absehbar. Zwar hatte die Mannheimer Kommission der Wiener Beschlußvorlage zur Veranschaulichung der Ergebnisse ein exemplarisches Wörterverzeichnis beigefügt, doch ahnte damals niemand, in welchem Umfang die neuen Regeln im gebräuchlichen Gesamtwortschatz zu Änderungen führen würden und wie zweifelhaft viele davon waren. Und schließlich wurde auch nicht vorausgesehen, daß es unterschiedliche Auslegungen geben könne. Das alles förderten erst die neuen Rechtschreibwörterbücher, die ab August 1996 erschienen, ans Tageslicht.

Doch zurück zu den Anfängen. Die Mannheimer Kommission bestand ausschließlich aus reformbewußten Sprachwissenschaftlern und Didaktikern, lediglich der Leiter der Dudenredaktion war meistens skeptisch und gestattete auch nie einen Zugang zu den umfangreichen Karteien und Dateien seiner Redaktion.
So fehlte der Arbeit von Anfang an der nötige empirische Bezug.

Die Ausarbeitung von Reformvorschlägen vollzog sich folgendermaßen: Die verschiedenen Bereiche der Rechtschreibung wurden an sogenannte Hauptbearbeiter verteilt, welche konkrete Formulierungsvorschläge für die Darstellung und gleichzeitig die Reform der Rechtschreibung ausarbeiteten. In etwa halbjährigen Abständen kam die Kommission zur Beratung dieser Vorlagen zusammen. Mir fiel zunächst die Fremdwortschreibung zu, für die ich auf der Grundlage eines umfangreichen Korpus eine Fremdwortstatistik erstellte.*30 Diese Statistik zielte darauf ab, Anzahl und Häufigkeit von sogenannten Fremdgraphemen (wie z.B. ph, th, ou etc.) im gebräuchlichen Fremdwortschatz zu bestimmen und zu überprüfen, inwieweit bereits eine Integration, d. h. ein Ersatz durch indigene Grapheme (z. B. f für ph in Telefon) üblich geworden war. Die Ergebnisse dieser Statistik führten zu einem relativ restriktiven Vorschlag. Gleichzeitig war jedoch sichtbar geworden, wie häufig bestimmte Fremdgrapheme im deutschen Wortschatz vorkommen. Das veranlaßte die Kommission, auch diese Grapheme in die Gesamtdarstellung der Laut-Buchstaben-Beziehungen aufzunehmen durchaus ein Novum in der Geschichte der Rechtschreibregelung. Wie überhaupt dies ganze Reformunternehmen unter zwei Aspekten gesehen werden muß: Einerseits ging es um eine umfassende Neudarstellung der geltenden Rechtschreibung, da die Regeln des Duden auf der Rechtschreibvereinbarung vom Jahre 1901 beruhten und nur geringfügig modifiziert worden waren. Die neueren Forschungen zur Rechtschreibung seit den 60er Jahren hatten bisher keinen Eingang in die Duden-Regeln gefunden. Die Rechtschreibung war überwiegend nur fallweise beschrieben, nämlich durch die betreffenden Wörterbuchartikel; es fehlte eine Gesamtdarstellung, nach der die Einzelregeln ihre Begründung fanden. Ein weiterer Kritikpunkt war, daß zwischen dem Regelteil und dem Wörterbuchteil des Rechtschreibduden zu wenig Verweisbeziehungen bestanden.

Die Neudarstellung der deutschen Rechtschreibung sollte die Grundlage eines verbesserten Rechtschreibunterrichts werden. Diesen Aufgabenteil habe ich stets für den wichtigeren gehalten. Soweit die Rechtschreibreform heute Zustimmung findet, gründet sich diese zumeist auf eine bessere Darstellung geltender Regeln. Der andere Aspekt war die Reform unter der Devise einer Vereinfachung. Diese Vermengung zweier Zielsetzungen führte dazu, daß die Grundsätze, die der geltenden Rechtschreibung zugrundelagen, wenig diskutiert wurden. Gegenstand der Beratungen waren immer zugleich bestimmte Reformvorstellungen und entsprechende Formulierungsvorschläge für das künftige Regelwerk. Diese Praxishabe ich vor allem bedauert, als ich später für die Fragen der Groß- und Kleinschreibung zuständig wurde. Worin die Regelhaftigkeit der Großschreibung tatsächlich bestand, war nie Gegenstand ausführlicher Diskussion. Hier wurde natürlich auch sichtbar, daß dieses Thema bisher kaum wissenschaftlich behandelt worden war. Alles Interesse hatte sich auf die Begründung und Einführung der Kleinschreibung gerichtet. Für sie traten (außer mir) sämtliche Mitglieder aller Rechtschreibkommissionen ein. Vergeblich. Denn unsere politischen Auftraggeber scheuten vor solchen Eingriffen zurück. Schützenhilfe erhielten sie dabei von den Ergebnissen einer Anhörung im Mai 1993, zu der über 30 Organisationen vom Börsenverein des deutschen Buchhandels bis zu den Akademien um Stellungnahmen gebeten worden waren. Grundlage dieses ersten Auftritts der Mannheimer Kommission war der weitgehend vollständige Vorschlag zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung vom Jahre 1992, welcher gemeinsam von den Rechtschreibkommissionen der vier Länder vorgelegt wurde.*31 In mehreren Arbeitstreffen hatten sie ihre Auffassungen untereinander abgestimmt, was nur deshalb so gut funktionierte, weil die Mannheimer Kommission eine gewisse Führungsrolle innehatte. Dabei waren die wichtigsten wissenschaftlichen Vorarbeiten seit Ende der 70er Jahre von einer Arbeitsgruppe der DDR geleistet worden. Meine Beiträge bezogen sich vor allem auf die Fremdwortschreibung, die Groß- und Kleinschreibung, die s-Schreibung und die Trennung von ck am Zeilenende.*32


Zweifel

Je stärker ich in die Ausarbeitung der Neuregelung einbezogen wurde und je intensiver ich mich mit der Entstehung und Begründung einzelner Regeln befaßte, desto größer wurden bei mir Bedenken und Zweifel am Sinn dieser Reform. Eines trat mir immer deutlicher vor Augen: daß die Orthographie weit mehr ist als die graphische Abbildung des Lautsystems durch Buchstaben. In der jüngeren Entwicklungsgeschichte der Rechtschreibung hat vielmehr eine Funktion vorrangig Bedeutung erhalten: die syntaktische, morphologische und lexikalische Struktur des Deutschen für Leser schnell erkennbar zu machen. Fast alle Kompliziertheiten der Rechtschreibung finden eine Begründung, zumeist auch eine Rechtfertigung in dieser Hauptfunktion.

Die Diskussion der Reform spitzte sich zu auf die Frage, wem sie dienen soll dem Schreiber und Schreiblerner oder dem Leser? Für Leser gab es kaum Reformbedarf. Vielmehr mußten sie fürchten, aus lang geübten Gewohnheiten gerissen zu werden. Die Kontinuität der deutschen Rechtschreibung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, der erfolgreiche Widerstand gegen zahllose Reformversuche waren das Ergebnis hartnäckigen Festhaltens an Normen der Schrift, die zugleich als Normen der darin verfaßten Literatur, als Normen der Kultur verstanden wurden. Demgegenüber waren die Bemühungen der Rechtschreibkommission wie auch der KMK-Auftraggeber primär auf Vereinfachung für den Schreiber gerichtet. Der Konflikt zwischen diesen beiden Orientierungen wurde in der Mannheimer Kommission nicht ausgetragen, weil die Position der Leser dort nicht vertreten war. Ich hatte inzwischen mit verschiedenen Publikationen, u. a. unter dem Titel „Läßt sich die deutsche Orthographie überhaupt reformieren?“ (1993)*33 erkennen lassen, daß ich zumindest mit einem Bein im falschen Lager stand. Dies machte sich alsbald in der Auseinandersetzung um die Modifikation der geltenden Großschreibung bemerkbar, die auf der Wiener Rechtschreibkonferenz 1994 einen Höhepunkt erreichte. Schon in den Vorbereitungen hatten sich zwei konträre Positionen gebildet: vermehrte Kleinschreibung in Weiterentwicklung der geltenden Regelung (Munske, Nerius) und vermehrte Großschreibung (Gallmann, Sitta u. a.), wobei diese Position vor allem von jenen vertreten wurde, die zuvor für Abschaffung der Großschreibung eingetreten waren. Der Kompromiß, den die Beamten der Kultusministerien in hektischen Sitzungen zustande brachten, folgte einem vertrauten Muster: möglichst wenig ändern, was häufig vorkommt und darum viel Anstoß erregt. Die Kohärenz des Systems ist dabei auf der Strecke geblieben.*34


Protest

Mit der Wiener Rechtschreibkonferenz vom November 1994 endete die Arbeit der nationalen Rechtschreibkommissionen; die Beamten der Kultusministerien und die Politiker nahmen nun alles weitere in die Hand. Ein Charakteristikum der folgenden Beratungen und Beschlüsse in Deutschland ist ihre Abstinenz von jeder öffentlichen Beteiligung und jeder parlamentarischen Mitwirkung. Die Wiener Vereinbarungen wurden jetzt politisch herausgeputzt, um die Zustimmung der jeweils höheren Amtsebene zu erlangen. Der Fachbeamte berichtete dem Amtschef, der Amtschef dem Minister, der Minister dem Ministerpräsidenten, wobei mit wachsender Entfernung von der Ebene der Fachleute und Sachverständigen nur noch Rechtfertigungsvokabeln weitergereicht wurden. Da in der KMK das Einstimmigkeitsprinzip gilt und praktisch alle Parteien irgendwo in der Regierung eingebunden waren, kam es auch nie zu einer politischen Auseinandersetzung der Parteien um die Rechtschreibreform. Zwar äußerten einige prominente Politiker Zweifel, ließen es aber bei diesem privaten Unbehagen bewenden. Als schließlich in dieser internen Pseudodebatte am 1. Juli 1996 Einigkeit erzielt wurde, die vor anderthalb Jahren getroffenen Wiener Vereinbarungen „umzusetzen“, war der Weg frei, die neue Rechtschreibung in den Schulen einzuführen. Dies geschah in mehreren Bundesländern umgehend und gegen den in der Wiener Absichtserklärung vereinbarten Zeitplan (ab 1. August 1998). Überraschenderweise kamen auch sofort mehrere neue Rechtschreibwörterbücher auf den Markt, die in Jahresfrist ausgearbeitet worden waren, es folgten Schulfibeln und Kinderbücher. Der Zug der Rechtschreibreform kam mit Volldampf in Fahrt. Und er überrollte alle Proteste der Schriftsteller, der Lehrer, der Leser, die sich in unzähligen Leserbriefen äußerten, der Journalisten, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und vieler vieler anderer. Im Jahre 1997 erschienen nun erstmals größere Publikationen und Streitschriften zu diesem Thema von Journalisten (Krieger*35) und Germanisten (Ickler*36, Munske,Zemb*37), aber auch zwei Sammelschriften von Augst/Blüml/Nerius/Sitta und Eroms/Munske*38, in denen beide Seiten der Debatte durch Beiträge vertreten waren.

Im April 1997 gelang es den deutschen Kultusministern endlich jene „Kommission für die deutsche Rechtschreibung“ am Institut für deutsche Sprache in Mannheim einzurichten, die sie im November 1994 mit Österreich und der Schweiz vereinbart hatten. Sie „wirkt auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hin“, so heißt es in Artikel III der„Gemeinsamen Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ und weiter „Sie begleitet die Einführung der Neuregelung und beobachtet die künftige Sprachentwicklung. Soweit erforderlich erarbeitet sie Vorschläge zur Anpassung desRegelwerks.“*39 Zur „Begleitung“ war es nun etwas spät geworden, nachdem die neue Rechtschreibung bereits in den Schulen vieler Bundesländer im Herbst 96 eingeführt worden war „freiwillig“, wie es hieß, aber natürlich endgültig. Weder hatte es eine Erprobung gegeben, noch irgendeinen Kontakt mit den Verlagen, die die neuen Rechtschreibwörterbücher ausarbeiteten oder mit den Schulbuchverlagen, die die neuen Schulbücher herstellten. Naiverweise war davon ausgegangen worden, daß sich dies aufgrund des Regelwerks schon regeln werde. Zu vieler Überraschung gab es jedoch sehr unterschiedliche Auslegungen dieser Vorschriften und entsprechend unterschiedliche Angaben in den Rechtschreibwörterbüchern und Schulbüchern. Jetzt erst erkannten Schriftsteller und Lehrer, Journalisten und Professoren, in welchem Maße die neue Rechtschreibung vom bisherigen Usus abweicht. Die Mehrheit der Kritiker trat für ein Moratorium ein. Auch zwei Mitglieder der neuen Kommission, Peter Eisenberg und ich, hielten dies für den einzigen praktikablen Weg zur Lösung des Konflikts. Dazu bestand jedoch seitens der Kultusminister und ihrer Berater keinerlei Bereitschaft. Die Rechtschreibreform war zu einem Prestigeobjekt der Kultuspolitik der Länder geworden, von der niemand trotz erheblicher Zweifel an deren Qualität Abstand zu nehmen wagte.

Die Kommission erhielt den Auftrag, die öffentliche Kritik zu prüfen, jedoch keinerlei Änderungen an dem schon beschlossenen Reformwerk vorzunehmen. Obwohl viele Mitglieder der Kommission mit der politischen Seite fürchtete, zu weitgehende Zugeständnisse an die Kritiker würden das gesamte Reformwerk desavouieren, bestand doch Einvernehmen, daß in einigen Bereichen, insbesondere der Getrennt- und Zusammenschreibung, Änderungen unumgänglich seien. Ich hatte Gelegenheit, eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema zu leiten. Unter großem Zeitdruck und mit Unterstützung umfangreicher Materialien einiger Verlage, versuchten wir, eine angemessene Korrektur vorzunehmen. Mitten in diese Arbeit traf das Erscheinen einer von der KMK angeregten Verteidigungsschrift „Rechtschreibreform. Eine Antwort an die Kritiker“ von Gerhard Augst und Burkhard Schaeder*40, in der all das, was wir gerade dabei waren, über Bord zu werfen, erneut bis ins letzte verteidigt wurde. Dies war ein Signal, daß keine Aussicht bestand, die nötigen Korrekturen an der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung vorzunehmen. Für mich der Anlaß, aus der Kommission auszutreten. Ein durchaus schmerzlicher Schritt, hatte ich doch 10 Jahre zuvor die Einrichtung eben dieser Kommission initiiert und detailliert in der nun praktizierten Organisationsform vorgeschlagen. Wenige Monate später, im Januar1998, wurde der KMK der Bericht der Kommission vorgelegt. Aus meiner Sicht ein viel zu halbherziger, mehr der Rechtfertigung als der Korrektur dienender Vorschlag, dem man aber immerhin den Versuch zugute halten konnte, die Zustimmung der Kultuspolitik zu einer Korrektur zu erreichen. Dies ist mißlungen. Alle Mühe der Kommission war umsonst. Ihre Ausarbeitungen blieben unbeachtet. Vielmehr erfolgte jetzt der endgültige Beschluß, die neue Rechtschreibung verbindlich in allen Schulen einzuführen. Alle Kritik, alle Verbesserungsvorschläge, auch alle Einsichten seitens der Reformer selbst zwischen dem Jahresende 1994 und dem Herbst 1998 wurden völlig ignoriert. Auch Peter Eisenberg verließ daraufhin die Kommission.

Ich habe meinen Widerspruch gegen die übereilte Einführung der neuen Rechtschreibung, gegen deren miserable Vorbereitung, gegen sachliche Mängel und gegen die Ignorierung des öffentlichen Widerstandes seitens der Kultusminister zuerst in einem ganzseitigen Beitrag im Tagesspiegel (5. Juli 1997), später in mehreren Interviews (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Spiegel, Focus, Nürnberger Nachrichten), in weiteren Kommentaren (Spiegel, Tagesspiegel, Welt, Kunst & Kultur) sowie in Radio und Fernsehen publik gemacht. Meinen Weg vom Rechtschreibreformer zum Reformkritiker habe ich in der Einleitung und verschiedenen Kapiteln des Sammelbandes Orthographie als Sprachkultur (1997)begründet.

Meine Bilanz zehnjähriger Mitarbeit an der „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ ist dennoch nicht ausschließlich negativ. Zur Positivliste zähle ich die wissenschaftlichen Einsichten in Gesetzmäßigkeiten im Aufbau eines Schriftsystems und auch die Einsicht in die Gründe des Widerstandes gegen jegliche Änderungen. Die Beschäftigung mit der Rechtschreibung hat stets ihre Impulse von möglichen Reformen erhalten. Das begann schon im 17. Jahrhundert, als Filip von Zesen und Friedrich Gottlieb Klopstock radikale Reformvorschläge ausarbeiteten und in ihren Schriften anzuwenden begannen. Wesentliche Impulse erhielt die Beschäftigung mit diesem Gegenstand durch Hieronymus Freyers schulpädagogische Verbesserungen, im 19. Jahrhundert durch radikale Reformversuche von Jacob Grimm, die eine anhaltende Debatte auslösten, welche erst mit der Rechtschreibeinigung im Jahre 1901 zu einem Ende kam. Keine der vielen Rechtschreibreformbemühungen in diesem Jahrhundert war so intensiv vorbereitet wie die jetzige. Daß sie dennoch in der Sache so schlecht ausgefallen ist, hat vor allem zwei Gründe: die völlig unzureichende empirische Überprüfung ausgedachter neuer Regeln („Kopfgeburten“) am Gesamtwortschatz der deutschen Sprache und das Versagen der Politik in der Vorbereitung und Durchführung dieser Reform. Das erste hätte spätestens vor Einführung in einem Korrekturgang geschehen müssen. Hier habe ich die Stimme verantwortungsbewußter Lexikographen vermißt, die bei der Ausarbeitung der neuen Rechtschreibwörterbücher auf alle Mängel der Neuregelung gestoßen sind. Ein Geburtsfehler dieser Rechtschreibreform lag darin, daß die verantwortlichen Politiker von vornherein ausschließlich reformorientierten Sprachwissenschaftlern das Feld überlassen haben, andere Gruppierungen des Faches ignorierten, vor allem aber alle diejenigen, die die Schriftkultur in unserem Lande repräsentieren, im Prozeß der Vorbereitung überhaupt nicht zu Wort kommen ließen, sondern sie lediglich mit einer nichtöffentlichen Anhörung abfertigten.
Diese Alibiveranstaltung, an der ich als Vertreter der Rechtschreibkommission teilgenommen habe, war überwiegend geprägt von nichtssagenden inkompetenten Stellungnahmen. Lediglich die Vertreter der Akademien und der Studiengruppe Geschriebene Sprache leisteten begründeten heftigen Widerstand. Sie hatten jedoch keinerlei Chance, ihre eigenen Vorstellungen in die Weiterarbeit einzubringen. Anhörungen sind ein politisches Mittel, ein unverbindliches Meinungsbild zu gewinnen, ohne daß die Handlungsvollmacht in irgendeiner Weise aus der Hand gegeben wird. Von ähnlicher Art war die Anhörung weniger Kritiker im Zusammenhang mit der Urteilsfindung des Bundesverfassungsgerichts.

Als folgenschwersten Mangel dieses Unternehmens empfinde ich jedoch das Scheitern parlamentarischer Kontrolle. Zwar gab es innerhalb der Parteien, vor allem in der FDP und der CDU sowie bei einzelnen herausragenden Politikern mehr oder weniger deutliche Kritik. Dies änderte aber nichts daran, daß in das Verfahren der Beratung und Beschlußfassung innerhalb der KMK sämtliche Parteien eingebunden waren und eine kontroverse Debatte zwischen ihnen überhaupt nicht zustande kam. Es bildete sich eine All-Parteien-Koalition, die darauf abzielte, dieses Thema auf dem Verordnungswege abzuhandeln. Dies zeigte sich erneut, als der Kieler Landtag beschloß, die Ablehnung der neuen Rechtschreibung durch einen Volksentscheid bereits nach einem Jahr rückgängig zumachen.
Solche Mißachtung der entschiedenen Auffassung einer Bevölkerungsmehrheit ist nicht nur Ausdruck politischen Hochmuts in der Tradition des Obrigkeitsstaates; sie ist nicht nur das Ergebnis einer wuchernden Bürokratieherrschaft, die sich unter dem Deckmantel der Kultusministerkonferenz legislative Rechte anmaßt; hierin zeigt sich vielmehr, daß die politischen Organe unserer Republik nicht in der Lage sind, die langfristigen Aufgaben der Sprachpflege und Sprachkultur angemessen zu behandeln. Mangelnde Sachkompetenz, kurzfristige politische Strategien und wirtschaftliche Zwänge sind eben nicht mit der Verantwortung für Sprache vereinbar. Auch die Orthographie des Deutschen ist bei den Sprachteilhabern selbst, besonders denen, die täglich schreibend und lesend mit ihr umgehen, am besten aufgehoben.


30 Jetzt publiziert in Horst Haider Munske: Orthographie als Sprachkultur. Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 109- 148.

31 Deutsche Rechtschreibung. Vorschläge zu ihrer Neuregelung. Hg, vom Internationalen Arbeitskreis für Orthographie. Tübingen 1992.

32 Vgl. die entsprechenden Kapitel in Orthographie als Sprachkultur (1997). Zur Geschichte der Reformbemühungen in den einzelnen deutschsprachigen Ländern vgl. die ausführlichen Berichte in Gerhard Augst, Karl Blüml, Dieter Nerius und Horst Sitta (Hgg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen 1997, S. 7-72.

33 Wieder abgedruckt in Munske (1997), S. 177-205.

34 Die verschiedenen Positionen hierzu findet man in Munske (1997) und Augst/Blüml/ Nerius/Sitta (1997). Ein schriftliches Protokoll der Wiener Konferenz wurde nicht angefertigt.

35 Krieger, Hans: Der Rechtschreibschwindel. Zwischenrufe zu einem absurden Reformtheater. St. Gar 1998.

36 Ickler, Theodor: Die sogenannte Rechtschreibreform. Ein Schildbürgerstreich. St. Goar 1997.

37 Zemb, Jean-Marie: Für eine sinnige Rechtschreibung. Eine Aufforderung zur Besinnung ohne Gesichtsverlust. Tübingen 1997.

38 Eroms, Hans Werner und Horst Haider Munske (Hgg.): Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra. Berlin 1997.

39 Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis. Texte der amtlichen Regelung. Tübingen 1996, S. 2.

40 Augst, Gerhard und Burkhard Schaeder: Die Rechtschreibreform. Eine Antwort an die Kritiker. Stuttgart u. a. 1997.
__________________________________________

In: Munske, Horst Haider; Habermann, Mechthild (Hrsg.): Germanistische Linguistik in Erlangen. Eine Bilanz nach 50 Jahren . Erlangen: Institut für Germanistik, Nr. 27, Palm & Enke, 1/2000, S. 129-139

www.rechtschreibreform.com/Seiten2/Wissenschaft/801MunskeAmtshilfe.pdf
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Beitrag: Donnerstag, 15. Jul. 2004 23:00    Titel: Falsch bleibt falsch Antworten mit Zitat

Falsch bleibt falsch
Die Rechtschreibfehler der Minister

Von Horst Haider Munske

<i>Im November 1993 wurde in Wien beschlossen, die Reform bis 2005 in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbindlich einzuführen. Ein Protokoll dieser Konferenz gibt es bis heute nicht.</i>

Die Rechtschreibreform ist mißlungen - aber wie wird man sie wieder los? Darüber wollen die Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer demnächst beraten. Einige überlegen, den Kultusministern die Zuständigkeit aus der Hand zu nehmen und selbst zu entscheiden. Das ist ein richtiger, ja der einzig mögliche Weg, um aus der Sackgasse herauszukommen. Denn nirgends steht geschrieben, daß Kultusminister für die Rechtschreibung zuständig seien und ohne Gesetz Reformen für 100 Millionen Bürger verordnen dürfen. Sie haben sich diese Zuständigkeit genommen, und man hat sie gewähren lassen. Aber die Ausrede, sie seien für Schulen zuständig, berechtigt nicht, eine eigene Orthographie für sie einzuführen, der dann die ganze Sprachgemeinschaft nolens volens folgen muß.

Die Art und Weise, wie deutsche Kultusminister die Empörung der Schriftsteller und den Protest von Lehrern und Professoren, von Juristen und Journalisten und allen Akademien übergangen haben, hat bei unzähligen Bürgern das Vertrauen in sachbezogene Politik und demokratische Tugenden zerstört. Die lange Liste ihrer Fehler zeigt, daß man sie endlich von der Bürde der Rechtschreibreform befreien sollte.

Der erste Fehler war der schwerste: Sie beauftragten eine schon bestehende Kommission mit der Ausarbeitung eines Reformvorschlags, eine Kommission, deren Mitglieder sich schon lange eifrigst für eine Reform einsetzten und sich damit endlich am Ziel ihrer Wünsche sahen. Die Kommission war völlig einseitig besetzt, ohne Vertreter der schreibenden Berufe, der Verlage, der Schulen, der Akademien. Auch die Fachkompetenz aus der Sprachwissenschaft ließ zu wünschen übrig. Hier wurde der Bock zum Gärtner gemacht.

Diese Kommission war fortan der einzige Ratgeber einer Arbeitsgruppe, die die Kultusminister aus Beamten ihrer Ministerien einrichteten. Auch hier fanden sich einige ideologisch geprägte Reformstreiter zusammen, neben anderen, die von dem Thema zunächst keine Ahnung hatten und gutgläubig in den Reformzug einstiegen. Sie alle haben sich inzwischen so sehr in ihr Werk eingelebt und die Argumente der Rechtschreibkommissionen derart verinnerlicht, daß sie für Einwände gar nicht mehr zugänglich sind.

Der zweite Fehler wurde mit voller Absicht begangen: Die Minister sahen von der Unterrichtung der Öffentlichkeit so lange und soweit wie möglich ab, um frühen Protesten aus dem Wege zu gehen. Eine Anhörung zahlreicher Verbände im Mai 1993 fand nicht öffentlich statt. Auch später wurden die Beratungsergebnisse der Zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission nur widerwillig bekanntgemacht. Als ich im Mai l997 eine Schrift „Die Rechtschreibreform. Pro und Kontra“ vorbereitete und verschiedene Befürworter der Reform um Beiträge bat, erhielt ich von der KMK-Arbeitsgruppe und den meisten Mitgliedern der Kommission die Antwort, die Reform sei entschieden, da gebe es nichts mehr zu debattieren.

Nirgends wurde jedoch die Öffentlichkeitsscheu der beteiligten Politiker, Kultusbeamten und praktizierenden Reformer deutlicher als bei der abschließenden Wiener Rechtschreibkonferenz im November 1993. Diese Konferenz endete bekanntlich mit der Vereinbarung, die Reform bis 2005 in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbindlich einzuführen. Ein Protokoll dieser dreitägigen Konferenz gibt es bis heute nicht. So kann sich niemand darüber informieren, wie die Schweizer Delegation in letzter Minute vorherige Absprachen gebrochen und ihr Konzept einer vermehrten Großschreibung durchgesetzt hat oder wie der österreichische Vorsitzende, Hofrat Dr. Blüml, die Debatte darüber abgewürgt hat.

Das letzte Wort zu den Detailregelungen hatten aber nicht die Fachleute, sondern die Kultusbeamten. „Hauptsache, wir können einen Erfolg melden“, lautete ein Ausspruch aus diesem Kreis am Ende der Konferenz. Der dritte Fehler war besonders bezeichnend: Es fehlte an jeglichen Mitteln zur wissenschaftlichen Vorbereitung des erbetenen Reformvorschlags. Offenbar bestand die Erwartung, die Kommissionsmitglieder würden das aus dem Ärmel schütteln beziehungsweise die Ressourcen ihrer Universitätsinstitute in Anspruch nehmen. So unterblieb mangels Geld eine systematische Abschätzung der Änderungsfolgen für den gesamten deutschen Wortschatz. Das trat erst zutage, als im Herbst 1996 sehr verschiedene neue Rechtschreibwörterbücher auf den Markt kamen. Auch später, als die Zwischenstaatliche Kommission eingerichtet wurde und der Auftrag erging, die Kritik an der Reform zu prüfen, sollte dies in ehrenamtlicher Heimarbeit geschehen.

So wurde die Rechtschreibung von Anfang an falsch eingeschätzt als ein leicht veränderbares äußeres Sprachkleid. Entsprechend wurden auch die Kosten für die Schulen, die Verlage und die Allgemeinheit heruntergeredet.

Der vierte Streich war ein geplanter Coup: die überstürzte Einführung der Reformschreibung wenige Wochen nach dem Zustimmungsbeschluß der Länder. Ursprünglich sollte damit noch zwei Jahre bis 1998 gewartet werden, auch sollte die neue Zwischenstaatliche Kommission die Einführung der reformierten Schreibungen begleiten. Der Frühstart in den Schulen einiger Bundesländer war eine berechnete Überrumpelungsaktion der Reformer und der Kultusbürokratie, die hier erstmals als Verbündete gegen die Sprachgemeinschaft auftraten. Fortan hieß es, rückgängig machen könne man nun nichts mehr.

Die Motive für diese Aktion waren einfach. Rückblickend auf viele frühere vergebliche Reformversuche, wußte man: Kommt die Debatte um die Rechtschreibreform erst in Gang, ist ihr Scheitern unausweichlich. Nur ein schneller Vollzug konnte dies verhindern. Alle Fehler lassen sich am Ende auf das untaugliche, undemokratische Verfahren zurückführen, mit dem ohne Parlamente und ohne Gesetze tiefgreifende Einschnitte in die Schriftkultur und in unser Alltagsleben verordnet werden. Dies ist der Stil der sogenannten „Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder“ (KMK), in der die deutschen Kultusminister ihre gemeinsamen Angelegenheiten im Schul- und Hochschulwesen miteinander „abstimmen“, wie sie sagen.

Dabei sitzen alle Parteien, die in den Länderregierungen beteiligt sind, in einem Boot, nämlich in den Arbeitgruppen aus den Kultusbehörden. Haben sich die Vertreter aus verschiedenen politischen Lagern endlich geeinigt, gelangen die Entwürfe über die Abteilungsleiter und die Amtsleiter schließlich als Vorlage zu den Sitzungen der Kultusminister. Dann ist eigentlich alles gelaufen. Die Minister können ihre Amtsleiter, diese ihre untergebenen Beamten nicht desavouieren. Das Verfahren läßt überhaupt keine Debatte außerhalb der ministeriellen Arbeitsgruppen zu. Eingespielt ist auch der Umgang mit Verbänden, die man unverbindlich und nicht öffentlich anhört, sowie mit wissenschaftlichen Zuarbeitern, deren Interesse an der Sache man kostengünstig nutzen kann.

In der Praxis der KMK hat sich inzwischen ein Herrschaftshochmut entwickelt, der viele Parlamentarier in Bund und Ländern empört. Schon oft wurde die Abschaffung der KMK verlangt, die ja in unseren Verfassungen nirgends genannt wird. Hier ist aus einem pragmatischen Zwang zur Zusammenarbeit ein außerparlamentarisches, bürokratisches Herrschaftsinstrument entstanden, das keiner Kontrolle mehr zugänglich zu sein scheint. Die zahlreichen Fehler der KMK in der Vorbereitung und der Durchführung der Rechtschreibreform resultieren auch aus mangelnder Kontrolle und der bewußten Vermeidung jeder öffentlichen Auseinandersetzung. So gibt es nur einen Weg, sich dieser Reform zu entledigen: den Kultusministern die Zuständigkeit wegzunehmen.

Aber läßt sich die Reform denn überhaupt noch rückgängig machen? Die Verantwortlichen für das gegenwärtige Dilemma behaupten selbstverständlich, dies sei unmöglich. Das sagen sie seit 1996. Aber das war und ist falsch - ihr letzter Fehler. Denn gerade die vielen strittigen Schreibänderungen gehören nicht zum Grundbestand des Rechtschreibunterrichts. Getrennt- und Zusammenschreibung, Groß- und Kleinschreibung in festen Wendungen oder die Kommasetzung im Infinitiv - das lernt man erst in der Praxis und durch regelmäßige Lektüre. Nur die neue s-Schreibung, die ja schon früher einmal galt und (noch einfacher) seit langem in der Schweiz praktiziert wird, könnte ein Hindernis für den Rückbau sein. Denn sie gehört zum Kern der Stammschreibung, betrifft ein Rechtschreibprinzip, das für unsere Schreibung charakteristisch ist. An dieser s-Schreibung kann man festhalten, auch wenn sie sich nicht so bewährt hat, wie die Reformer erwartet haben. Alles andere ist leicht korrigierbar, wenn die Lehrer die bewährten alten Regeln wieder unterrichten dürfen. Zum Glück beherrschen die meisten von ihnen sie noch. Das ist die Macht der Tradition in unserer Schriftkultur.

<i>Horst Haider Munske ist emeritierter Professor für Germanische und deutsche Sprachwissenschaft und Mundartkunde an der Universität Erlangen-Nürnberg.</i>

Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 163 vom 16. Juli 2004, S. 35
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Manfred Riebe



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Beitrag: Freitag, 16. Jul. 2004 08:29    Titel: Ungelegene Nachgiebigkeit Antworten mit Zitat

„Kompromiss“? - Ungelegene Nachgiebigkeit

Ein Beibehalten der ss-Regelung (die nicht mit der Stammschreibung begründet werden kann und auch im Kern nicht damit, sondern phonetisch begründet worden ist) wäre keine gute Lösung. Erstens würde sie ebenso wie die vollständige Rücknahme einen Neudruck aller Bücher nach sich ziehen; anders als die Rückkehr würde sie aber zugleich auch die riesige Masse der nichtreformierten Literatur entwerten sowie die Kenntnis der bewährten Rechtschreibung. Zweitens will die Bevölkerung das ss nicht. Wir stünden also genau wieder vor derselben Situation, daß die Politiker dem Volk eine nichtgewollte Rechtschreibreform aufzwingen. Die Rechtschreibreform steht vor dem Exitus - warum sollte man sie noch für weitere Jahre an den Tropf hängen?

15.7.2004 Theodor Ickler
www.rechtschreibreform.com/Perlen/KraftBank/KraftBank.pl?ThuJul1519:02:38CEST2004
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Manfred Riebe



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Beitrag: Freitag, 16. Jul. 2004 08:36    Titel: Ganz normale Rechtschreibung! Antworten mit Zitat

Horst Haider Munske denkt immer noch wie die Reformer
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Ganz normale Rechtschreibung!
Steigende Auflagenzahlen für die FAZ


Horst Haider Munske denkt leider immer noch wie die Reformer, meint, man könne Rechtschreibung am Reißbrett entwerfen, und die Leute würden dann das machen, was man sich im Elfenbeintrum oder am Grünen Tisch ausgedacht hat.

Irrtum, Euer Ehren!

Diesen Fehler haben schon die Reformer gemacht: Sie haben für zig Wörter die Auseinanderschreibung angeordnet und - rums - werden zig hoch 2 Wörter auseinander geschrieben, die von der Regelung gar nicht betroffen waren. Ja, die künstlichen angeordneten Schreibänderungen haben zur Folge, daß unsere Rechtschreibung völlig aus dem Leim zu gehen scheint. Dafür sprechen insbesondere die Texte, die man „heut zu Tage“ in privaten Anzeigentexten lesen kann.

Ein experimentelles Festhalten an der fehlerträchtigen und spaltenden ss-Regelung hätte, über die vermehrte Fehlerhaftigkeit in diesem Bereich zur Folge, daß die Leute an der Basis gar nicht kapieren würden, daß es die Rechtschreibreform nicht mehr gibt. Es gäbe auch keine Notwendigkeit, die Rechtschreibprogramme der Computer auf die immer noch vorhandene normale Rechtschreibung umzustellen, da man sich bald an eine breite Bandbreite gewöhnt haben würde, „es kommt ja eh nicht mehr darauf an“. Gerade der Wenigschreiber müßte mehr und mehr das Wörterbuch zur Hilfe nehmen, was mit Normalschreibung eher die Ausnahme ist. Das ist aber genau die Einstellung, die zum bisherigen Zustand geführt hat und die mittelfristig die Aufhebung aller Konvention zur Folge haben würde mit der Folge einer Verunsicherung beim Schreiben auf breiter Basis.

Man könnte das machen, aber man sollte es, also die Aufhebung aller Schreibkonvention, dann auch bewußt wollen. Die Einheit unserer Rechtschreibung wird man so nicht wiederherstellen können, und geordnete Verhältnisse an der Schule, die dem Schüler ein sicheres Sprachgefühl auf der Grundlage der bestens bewährten normalen Rechtschreibung vermitteln, ist so erst recht nicht zu erreichen.

Daher: Bitte keine weiteren Experimente mehr.

Die FAZ hat den richtigen Schritt gemacht, und die Leser, auch erkennbar an deutlich steigenden Auflagenzahlen, danken es ihr.

16.7.2004 Matthias Dräger
www.rechtschreibreform.com/Perlen/KraftBank/KraftBank.pl?FriJul1604:04:40CEST2004
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Manfred Riebe



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Beitrag: Freitag, 16. Jul. 2004 12:25    Titel: Der bösartige Kropf der neuen ss/ß-Beliebigkeitsschreibung Antworten mit Zitat

Zum „Herrschaftshochmut“ der Kultusministerkonferenz
und zum bösartigen Kropf der neuen ss/ß-Beliebigkeitsschreibung

Der Kniefall der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vor der Macht
Fauler Kompromiß und falsche Kollegialität


Kommentar zu Horst Haider Munske: Falsch bleibt falsch - Die Rechtschreibfehler der Minister. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 163 vom 16. Juli 2004, S. 35.

Horst Haider Munske faßt hier seine früheren hervorragenden Analysen und Kritiken wesentlicher politischer Fehler zusammen, die die Kultusministerkonferenz (KMK) und die Rechtschreibkommissionen bei der Durchsetzung der Rechtschreibreform gemacht haben („Herrschaftshochmut“). Seine Kritik hat deshalb Gewicht, weil er Insider war. Er bestätigt damit in einem wesentlichen Punkt die Kritik, die der Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege (VRS) in seinem Motto hinsichtlich des antidemokratischen und antirechtsstaatlichen Vorgehens der KMK und der Kommission an den Parlamenten vorbei ohne Gesetze zusammengefaßt hat: „Es ist nie zu spät, Natur-, Kultur- und Sprachzerstörung, Entdemokratisierung, Korruption und Steuerverschwendung zu stoppen!“ (VRS)

Allerdings fehlt die Gesamtschau und ganzheitliche fachübergreifende Betrachtung anderer wichtiger Aspekte der Rechtschreibreform. Die Politiker und die Presse sind zu sehr auf den sprachlichen Aspekt fixiert. Man hat den Eindruck, daß sie von demokratischen, pädagogischen, wirtschaftlichen und ökologischen Gesichtspunkten der Reform ablenken wollen, weil sie da ihre Pflichten versäumt haben.

Daß die KMK unkontrolliert schalten und walten konnte, haben alle Volksvertreter und Parteien mitzuverantworten. Der Artikel Munskes stellt der großen Mehrheit der Politiker ein Armutszeugnis aus. Die KMK konnte unkontrolliert von den Parlamenten gegen den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 26. März 1998: „Die Sprache gehört dem Volk!“ handeln. Die KMK wurde zum Handlanger der Interessen der bestimmter Medienkonzerne und –verbände, was sich am deutlichsten in der Gleichschaltung der Presse am 1. August 1999 herauskristallisierte, eine Machtdemonstration der Medienkonzerne gegen den Volksentscheid in Schleswig-Holstein. Vgl. Gedenktag: Volksentscheid in Schleswig-Holstein - Das Volk als Souverän und Untertan: Im Namen des Volkes gegen das Volk! - www.vrs-ev.de/pm270903.php -.

Allerdings macht Munske hinsichtlich der Problemlösung den Fehler, entgegen seiner Kritik den faulen Kompromiß der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (DASD) zu unterstützen und damit halben Herzens deren Kniefall vor der Macht der Medienkonzerne nachzuvollziehen.

Während Professor Theodor Ickler oben diesbezüglich recht sanft mit seinem Kollegen Horst Haider Munske umgeht, liest ihm Verleger Matthias Dräger deutlich die Leviten. Es geht um die wissenschaftliche Wahrheit, daher kann man auf professorale Empfindlichkeiten nicht besonders Rücksicht nehmen.

Professor Munske behauptet: „Nur die neue s-Schreibung, die ja schon früher einmal galt und (noch einfacher) seit langem in der Schweiz praktiziert wird, könnte ein Hindernis für den Rückbau sein. Denn sie gehört zum Kern der Stammschreibung, betrifft ein Rechtschreibprinzip, das für unsere Schreibung charakteristisch ist. An dieser s-Schreibung kann man festhalten, auch wenn sie sich nicht so bewährt hat, wie die Reformer erwartet haben.“

Man muß jedem Reformer auf die Finger sehen, nicht nur Professor Peter Eisenberg, Potsdam - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=241 -, dem Erarbeiter des Kompromißvorschlages der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (DASD - www.deutscheakademie.de -, sondern auch seinem Reformerkollegen Professor Horst Haider Munske.

Falsch ist die Behauptung Munskes: „Nur die neue s-Schreibung, die ja schon früher einmal galt und (noch einfacher) seit langem in der Schweiz praktiziert wird“.

Richtig ist dagegen: Die neue ss-Schreibung galt vor 1901 für kurze Zeit in Österreich.
Und in der Schweiz wird nicht „seit langem“ die ss-Schreibung der Neuregelung von 1996 praktiziert, sondern eine „Schweizer Sonderorthographie“ - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=419 -. Es handelt sich um eine durchgängige ss-Schreibung, wie sie auch die NSDAP in den 30er Jahren in ihrem Schriftverkehr verwendete - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=296 -. Die Schweiz führte diese durchgängige ss-Schreibweise merkwürdigerweise auch erst in den 30er Jahren ein. Aber sämtliche Schweizer Verlage, die für den deutschen Buchmarkt produzieren, richten sich weiterhin nach der deutschen Orthographie, weil der Zwergstaat Schweiz mit seinen 5 Millionen Einwohnern nicht genügend Absatzmöglichkeiten bietet.

Die Heyse-ss-Schreibung ist somit ein Rückschritt in die österreichische Schreibweise des 19. Jahrhunderts und somit veraltet. Die herkömmliche ss/ß-Schreibweise ist modern.

Munske behauptet dennoch: „An dieser s-Schreibung kann man festhalten, auch wenn sie sich nicht so bewährt hat, wie die Reformer erwartet haben.“

Munske gibt zu, daß die ss-Schreibung sich nicht bewährt hat. Im Widerspruch dazu vertritt Munske aber den faulen Kompromiß der DASD, obwohl sich die neue ss-Schreibung nicht bewährt hat. Warum? Solche faulen Kompromisse hatten die Reformer schon früher untereinander ausgehandelt ... Folglich geschieht das nun auch jetzt nur aus alter Kollegialität gegenüber Peter Eisenberg und Harald Weinrich (DASD).

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (DASD) hatte das ehemalige Kommissionsmitglied Eisenberg als Mitglied hinzugewählt und hatte sich damit ein Kuckucksei eingehandelt. Hinter Eisenberg steht in der Rechtschreibkommission der DASD Professor Harald Weinrich, Paris. Dieser wiederum ist ein Kollege von Jean-Marie Zemb, Paris. Als Auslandsgermanisten sind diese damit konfrontiert, daß auf ausländischen Tastaturen das Eszett fehlt. Somit kommt es bei ihnen zu Interferenzen. Man sollte sich jedoch nicht dem Diktat ausländischer Computer-Tastaturen beugen wie die Schweizer, die auf das Eszett angeblich verzichteten, weil es dies auf den französischen Schreibmaschinen nicht gab. Siehe: „Die Schweizer Sonderorthographie“ - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=419 -. Soll etwa die Technik über die Sprache herrschen? Ich meine, der Mensch sollte die Technik beherrschen. Vgl. „Kommissar Computer als Rechtschreib-Diktator?“ - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=357 -.

Man darf aus zwei Gründen nicht an der neuen ss-Schreibung festhalten:

1. Nachteile und Schäden durch die neue ss-Schreibung

Allein die Schäden durch die neue Heyse-ss-Schreibung sind beachtlich, zumal sie 90 Prozent der Reform umfaßt. Jedoch geht Professor Eisenberg allen diesbezüglichen Einwendungen aus dem Weg, so wie es seine Reformerkollegen auch tun.

1.1 Die ss-Regelung die 'schlechteste überhaupt denkbare Lösung'
Professor Eisenberg persönlich kritisierte, daß die ss-Regelung die 'schlechteste überhaupt denkbare Lösung' sei (Peter Eisenberg: Die deutsche Sprache und die Reform ihrer Orthographie. In: Praxis Deutsch, Heft 130, März 1995, S. 3-6). Nun plötzlich will er diesen Schaden hinnehmen. Warum wohl?

1.2 Der Betonungsgrundsatz der Reformer „nach kurzem Vokal Doppel-s“ gilt für viele Wörter nicht, z.B. Ast, August, du bist (aber: du musst), Bus, Diskus, fast, Gerüst, Gast, Hast, du hast (aber: du hasst), er ist (aber: er isst), Kasten, Kenntnis, Kiste, Kultus, Last, List, Lust, Mist, Verhängnis, Verlust, Zeugnis, usw. Wie sollen die Schüler nun lesen und schreiben? Die Reformer haben übersehen, daß das Deutsche verschiedenen Schreibprinzipien folgt und u.a. auch eine Unterscheidungsschreibung ist. Das zeigt sich besonders deutlich bei Wörtern mit verschiedener Bedeutung, die zwar gleich gesprochen, aber unterschiedlich geschrieben werden (Homophone): z.B. Aas/aß, büßte/Büste, fast/faßt, fasten/faßten, fliest/fließt, Frist/frißt, Hast/hast/haßt, ist/ißt, Küste/küßte, Last/laßt, leeren/lehren, lies/ließ, Mist/mißt, Moor/Mohr, Paste/paßte, Piste/pißte, reist/reißt, Saite/Seite, Sole/Sohle, Stil/Stiel, vergast/vergaßt, Verlies/verließ, vereist/verreißt, verwaist/verweist, weist/weißt, usw. Die Unterscheidungsschreibung schützt vor unliebsamen Lesestörungen.

1.3 Mundartlich gibt es verschiedene Aussprachen: Auf Grund des Neuschriebs wird dann Fußball zu Fussball, Gras zu Grass, Spaß zu Spass, eine Maß Bier in Bayern zur Mass.

1.4 Die Dreikonsonantenschreibung wie „Schlossstraße“, Missstand“ oder gar „Stresslesssessel“ erschwert die Lesbarkeit und ist auch unästhetisch. Günter Jauch sollte das Wort „Bambusessstäbchen“ lesen. Er konnte es nicht! Warum soll man die PISA-Lesedefizite noch vergrößern? Mit dem Eszett („ß“) ist die Silbenfuge oder Wortgrenze dagegen klar erkennbar: Schloßstraße.

Die Reformer haben den Grundsatz der Binnengrenzschreibung, die Kompositionsfuge nicht zu verwischen, nicht beachtet: Genusseis, hasserfüllt, Messerfassung, Messergebnis, Messingenieur, Schlosserhaltung. Weil durch das Zusammentreffen von drei gleichen Buchstaben die Lesbarkeit erschwert wird, empfehlen die Reformer die Schreibung mit Bindestrich: Kompromiss-Kurs, Prozess-Auftakt. Warum soll man an solchen Krücken gehen, wenn es vorher auch ohne ging?

1.5 Und wer mit „daß/das“ nicht klarkommt, dem wird es auch mit „dass/das“ nicht gelingen.

1.6 Durch die neue ß/ss-Regelung steigen die Fehlerzahlen an, z.B. ausser, Beweiß, Grüsse, Hinderniss, schliessen, Strasse, Verständniss, Zeugniss.
Beim stimmlosen s-Laut am Wort- oder Silbenende oder vor einem Mitlaut gab es bisher nur zwei Schreibweisen: s und ß (Erlebnis - Fuß).
Die Reformer verlangen jedoch drei Schreibweisen mit s, ss und ß (Glas - Hass - Maß). Für einen rechtschreibschwachen Schüler, für den die Reform angeblich gemacht wurde, steigt somit die Fehlermöglichkeit von 50 Prozent auf 66,6 Prozent.

Die Änderungen der Schreibweisen betreffen zu 90 Prozent die ß/ss-Schreibung. Sie ist jedoch überflüssig wie ein Kropf und dient nur als Füllmaterial, um überhaupt eine Reform nötig erscheinen zu lassen, damit die Verlage und Medienkonzerne ihre Druckereien auslasten und Geschäfte machen können. Die ß/ss-Regelung ist folglich der Silikonbusen der Rechtschreibreform. Sie täuscht Volumen, Modernität und Qualität der Reform vor, wo nichts vorhanden ist. Vgl. „Zur ss/ß-Regelung, dem Silikonbusen der Rechtschreibreform“ - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=404 -.

2. Beim DASD-Vorschlag auch nach dem Jahr 2005 keine einheitliche Orthographie

Ab 2005 gelten keineswegs überall die gleichen Regeln, denn es gibt für die Schulschreibung kein Rechtschreibgesetz - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=252 -, so daß es auch keine Allgemeingültigkeit der Schulschreibung gibt - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=251 -. Personen außerhalb der Schulen können auch über das Jahr 2005 hinaus wie bisher nach den traditionellen Regeln der Erwachsenenorthographie schreiben. Vgl. Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 14. Juli 1998, Az.: 1 BvR 1640/97, S. 59, - www.bverfg.de/entscheidungen/frames/rs19980512_1bvr164097 -.
Die traditionellen Regeln werden daher von etwa 80 Prozent der Bevölkerung auch über das Jahr 2005 hinaus weiterhin verwendet.

Schlußfolgerung: Da auch nach dem Jahr 2005 die traditionelle Orthographie weiterhin gilt, gäbe es weiterhin keine einheitliche Schreibweise, wenn man in den Schulen an der ss-Schreibung festhielte, sondern eine anhaltende Sprachspaltung. Der vorgebliche Grund für das Kompromißangebot der Akademie, eine angebliche allgemeine Gleichschaltung der Rechtschreibung, entfällt also. Die einheitliche Orthographie wird auch nach 2005 weiter zerstört, so daß sich die Beliebigkeitsschreibung verbreitet: www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=105

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ist nicht nur zu spät aus ihrem Schlaf erwacht, sie ist schon wieder eingeschlafen; denn ihre Hausaufgaben hat sie ausgerechnet dem Ex-Reformer Eisenberg übertragen. Früher war er gegen die ss-Schreibung, heute bietet er sie als faulen Kompromiß an.

Ab 2005 gelten keineswegs überall die gleichen Regeln. Schon allein deswegen ist der Akademievorschlag sinnlos. Die Kultusminister mußten früher auch schon die Ganzwortmethode und die Mengenlehre zurücknehmen, weil sie sich nicht bewährt hatten.

„Angesichts der Machtverhältnisse“ beugt sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den wirtschaftlichen Interessen der Verlage (2) und prostituiert sich damit, anstatt als Sprachwächterin die sprachlichen Belange des Volkes und die Interessen der Sprachwissenschaft zu wahren. Denn in der Sprachwissenschaft geht es im Gegensatz zur Politik bei Problemlösungen nicht um Kompromisse, sondern es geht kompromißlos um die Erkenntnis, ob etwas richtig oder falsch ist.

Es ist ein Irrweg, die ss-Schreibung beizubehalten, damit die Schulbuchverlage weiterhin ihre Geschäfte machen und die Kultusminister ihr Gesicht wahren können. Professor Munske sollte der wissenschaftlichen Wahrheit mehr verpflichtet sein als seinem Reformerkollegen Eisenberg.

„Falsch bleibt falsch“: Ein fauler Kompromiß ist falsch! Fehler werden überall gemacht. Aber man sollte so souverän sein, sie zuzugeben und sie zu korrigieren.

Im übrigen ist auf Grund der Komplexität der Materie, die überhaupt noch nicht erkannt und berücksichtigt wurde, eine Gesamtschau bzw. eine ganzheitliche, interdisziplinäre Betrachtung nötig. Beispiele:

Ideologische Aspekte - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=88

Sprachwissenschaftliche Aspekte: Ickler, Theodor: Kritischer Kommentar zur „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“, 2. Auflage, Erlangen: Verlag Palm & Enke, 1999

Pädagogische Aspekte: www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=375

Demokratische Aspekte: www.vrs-ev.de/pm270903.php

Rechtliche Aspekte:
www.rechtschreibreform.de/php/einzelner_Datensatz.php?BeitragNr=12268
www.bverfg.de/entscheidungen/frames/rs19980512_1bvr164097

Haushaltsrechtliche Aspekte: www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=238

Wirtschaftliche Aspekte: www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=433

Ökologische Aspekte:
- Naturzerstörung durch die Rechtschreibreform - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=323
- BUNDmagazin - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=324
- Greenpeace - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=326

Orthographiegeschichtliche Aspekte: www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=296

Schrifthistorische Aspekte: www.rechtschreibreform.de/php/einzelner_Datensatz.php?BeitragNr=11270

Schreibtechnische Aspekte: www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=357

In vielen Fachgebieten kann man den „Vereinfachungswahn“ der Reformer (Munske, Spiegel vom 22.09.1997) entdecken. Zudem kann man ihre Märchen dem einen oder anderen Gebiet zuordnen, wie z.B. das 50-Prozent-weniger-Fehler-Märchen, die Märchen von den wundersamen Regelverminderungen, der angeblichen Kostenneutralität der Reform usw., mit denen man die Politiker täuschte und sie leichtfertig steuervergeudend entscheiden ließ.

Einen besonders wichtigen Aspekt hat Professor Ickler oben genannt: Bei einer Zwischenlösung mit Duldung der ss-Regelung wäre ein Neudruck aller Bücher nötig. Damit nicht genug: Man muß auch an die Software denken. Das wäre eine unnötige Kostenbelastung.

Da aber die ss-Regelung das Einfältigste und Dümmste ist, was den Reformern einfiel, ist sie nicht mehrheitsfähig. Das bedeutet aber, daß man dann letztendlich doch zur traditionellen Qualitätsorthographie zurückkehren muß. Wer soll das bezahlen?

Die Rückkehr zur traditionellen Orthographie kann dagegen sofort und ohne großen Auwand geschehen; denn diese ist nach wie vor im Duden enthalten.

Der Nutzungsdruck, der von der Druckbranche auf die Sprache bzw. die Wörter und den Wortschatz ausgeübt wird, hat schon zu einer Art Raubbau, Privatisierung und „Zersiedelung“ der Sprache als scheinbar herrenloses Gut geführt: Es sind Hausorthographien entstanden, die an die Zersplitterung der Rechtschreibung im 19. Jahrhundert erinnern.

Der Deutsche Bundestag hatte zwar am 26. März 1998 beschlossen: „Die Sprache gehört dem Volk!“, hatte es aber versäumt, die deutsche Sprache unter den Schutz der Verfassung zu stellen, ihr Verfassungsrang zu verleihen. Die Rechtschreibung hat keinen Verfassungsrang. Die Sprache der Deutschen ist daher antastbar. So konnten im Herbst 1998 deutschsprachige ausländische Nachrichtenagenturen über die deutsche Orthographie beschließen, weil die deutschen Abgeordneten sich ihrer Verantwortung entzogen. „Die Sprache gehört dem Volk!“ und nicht irgendwelchen Konjunkturrittern, Profitjägern und Medienzaren. Auf diesem Gebiet hat auch das Bundesverfassungsgericht kläglich versagt. Es hätte der Legislative einen Auftrag für einen verfassungsmäßigen Schutz der deutschen Sprache geben können.

Artikel 3 (3) GG lautet:
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Hier geht es um den Schutz von Minderheitssprachen, wie die Sprache der Sinti und Roma, Bairisch, Plattdeutsch und Sorbisch. Zusätzlich gibt es eine Europäische Charta für Minderheitssprachen. Das bedeutet aber im Umkehrschluß, daß natürlich der Schutz der Mehrheitssprache gewissermaßen als „Kulturdenkmal“ oder „Weltkulturerbe“ in der Verfassung als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Daraus resultiert auch der Beschluß des Deutschen Bundestages vom 26. März 1998: Die Sprache gehört dem Volk. In den Verfassungen anderer Staaten ist die Staatssprache oder sind die Staatssprachen in der Verfassung geregelt. Zusätzlich gibt es Sprachgesetze.

Die Sprache fällt daher keineswegs unter die Kulturhoheit der Länder, so daß die Kultusminister eine alleinige Zuständigkeit beanspruchen könnten. Aber wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Mit dieser Frage hat sich daher das Bundesverfassungsgericht noch nicht beschäftigt.

Forum > Rechtschreibforum > VRS
www.rechtschreibreform.de/php/einzelner_Datensatz.php?BeitragNr=12268

Es wird höchste Zeit, daß der Deutsche Bundestag den Bundesländern die Kompetenz für den Natur- und Sprachschutz entzieht, indem er diese in den Grundrechten regelt.

In Erinnerung an den alten Cato könnte man ständig wiederholen:
Ceterum censeo, reformationem ad peius scribendi delendam esse...
Auf deutsch: Im übrigen bin ich der Meinung, daß die Schlechtschreibreform zerstört werden muß ...

„Es ist nie zu spät, Natur-, Kultur- und Sprachzerstörung, Entdemokratisierung, Korruption und Steuerverschwendung zu stoppen!“ (VRS)
________________________________________________________________

1) Anmerkungen vom 19. März. 2004 im VRS-Forum zu Theodor Icklers Leserbrief: „Unterschied zwischen das, daß und dass“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 67 vom 19. März 2004, S. 11.

Zemb meint, die neue ss/ß-Schreibung sei besser, „weil die Kürze oder Länge des vorausgehenden Vokals dadurch klarer erkennbar werde.“

Der oben zitierte Professor Dr. Jean-Marie Zemb, Coll*ge de France, Paris, stellt das Ergebnis seiner Untersuchungen der Rechtschreibreform gewitzt noch vor dem Titelblatt seines Buches in einer kommentierten Zeichnung „Der Kropf“ dar. Zemb kommentiert, mehr als 10 Prozent der Bevölkerung seien Kropfträger. Die Struma sei wegen des häufig gleichzeitigen Kretinismus (Kleinwuchs, Schwachsinnigkeit) ein soziales Problem. Später warnt er: „Ob ein Kropf gutmütig oder bösartig ist, stellt sich erst ein, wenn er da ist. Schon deswegen sollte man sich keinen anlegen.“ (Jean-Marie Zemb: Für eine sinnige Rechtschreibung. Eine Aufforderung zur Besinnung ohne Gesichtsverlust. Tübingen: Niemeyer Verlag, 1997, S. 104)

Wenn man aber Zembs Buch genauer betrachtet, entdeckt man, daß sich auch darin bereits der bösartige Kropf der neuen ss/ß-Beliebigkeitsschreibung ausgebreitet hat. Deshalb ist Zemb im Hinblick auf sein Eintreten für die neue ss-Schreibung kein besonders glaubwürdiger Zeuge. Er ist im Gegenteil ein Zeuge dafür, daß die neue ss-Schreibung sehr viel fehlerträchtiger ist, so daß selbst einem Germanistik-Professor Fehler unterlaufen.

Wenn schon ein Fachgelehrter immer wieder „ß“ schreibt, wo er eigentlich „ss“ schreiben wollte und umgekehrt, dann wird dies auch bei Journalisten und Schülern vorkommen.
Tatsächlich stellte der Psychologe Professor Harald Marx einen signifikanten Fehleranstieg bei der neuen ß/ss-Schreibung fest (Marx, Harald: Rechtschreibleistung vor und nach der Rechtschreibreform: Was ändert sich bei Grundschulkindern? In: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, Göttingen: Hogrefe-Verlag, 31/1999, S. 180-189).

Die ss-Schreibung gehört somit zu den Bereichen, die von den Reformern nicht einmal andiskutiert, geschweige denn ausdiskutiert wurden, obwohl Peter Eisenberg rechtzeitig im März 1995 die ss-Regelung als die ‘schlechteste überhaupt denkbare Lösung’ bezeichnete (Peter Eisenberg: Die deutsche Sprache und die Reform ihrer Orthographie. In: Praxis Deutsch, Heft 130, März 1995, S. 3-6).

Der gleiche Peter Eisenberg wurde in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (DASD) gewählt und in deren Rechtschreibkommission aufgenommen. Ausgerechnet er ist verantwortlich für den Kompromißvorschlag der DASD, in dem diese lediglich auf Grund der Machtverhältnisse die neue ss-Schreibung akzeptieren will. Vgl. „Der Rechtschreibreformer Peter Eisenberg“ - http://www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=241

Professor Harald Weinrich (Paris), ein Kollege Jean-Marie Zembs, ist ebenfalls Mitglied der DASD-Rechtschreibkommission und auch Verfechter der ss-Schreibung. Deshalb liegt die Vermutung nahe, daß Jean-Marie Zemb seinem Pariser Kollegen aus politisch-solidarischen Gründen zustimmte, obwohl es sich um einen faulen Kompromiß handelt.

* Die neue ss-Schreibung ist schwierig und fehlerträchtig
http://www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?p=826#826

http://www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?p=510#510

2) Hans Krieger: Ein Kniefall vor der Macht. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gibt Opposition gegen Rechtschreibreform auf. In: Nürnberger Nachrichten vom 15. März 1999, S. 32
______________________________________________________________

Siehe auch:

Jan-Martin Wagner an Konrektorin Dr. Renate Maria Menges: „Als was schätzen Sie denn diesbezüglich den Kompromißvorschlag der DASD ein – von dem Prof. Eisenberg selbst gesagt hat, daß er nur 2. Wahl ist und also das eigentlich Richtige, weil Bessere, noch darüber hinausgeht? Gerade bei der ss/ß-Regel windet sich Eisenberg zu offensichtlich mit einer Notargumentation heraus, die durchblicken läßt, daß er genau weiß, was eigentlich dazu zu sagen wäre.“

Jan-Martin Wagner: Hier mit Antiqua-Lang-s! (Bei dem folgenden Text handelt es sich – weitgehend – um eine Kopie des Beitrages Antiqua versus Fraktur)
24.03.2004 23.04

Forum > Rechtschreibforum >Sammlung: Probleme der ss/ß-Schreibung
www.rechtschreibreform.de/php/einzelner_Datensatz.php?BeitragNr=22270

Jan-Martin Wagner: Kritik auf zwei Ebenen
13.01.2002 01.42

Forum > Rechtschreibforum >Sammlung: Probleme der ss/ß-Schreibung
www.rechtschreibreform.de/php/einzelner_Datensatz.php?BeitragNr=11270
www.rechtschreibreform.de/php/einzelner_Datensatz.php?BeitragNr=13638
www.rechtschreibreform.de/php/einzelner_Datensatz.php?BeitragNr=16338


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Manfred Riebe



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Beitrag: Dienstag, 20. Jul. 2004 14:16    Titel: Die fünf Vorteile der Eszett-Schreibung Antworten mit Zitat

Die fünf Vorteile der Eszett-Schreibung
Das „ss“, der Geßlerhut, den man grüßen mußte

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Briefe an die Herausgeber

Das ss-Diktat der Kultusminister

In seinem eindrucksvollen Aufsatz über die Rechtschreibreform „Falsch bleibt falsch“ (F.A.Z.-Feuilleton vom 16. Juli) kommt Professor Horst Haider Munske zu dem Schluß, daß man alles rückgängig machen sollte außer vielleicht der „neuen s-Schreibung“, an der man festhalten könne, da sie in sich schlüssig sei. Bei der ss-Schreibung geht es aber gar nicht um richtig oder falsch, sondern um gut oder schlecht.

Nicht weniger als fünf Argumente sprechen gegen eine Beibehaltung. Zunächst löst die ss-Regel nichts an irgendeinem Rechtschreibproblem, sie berührt vor allem nicht die häufigste Schwierigkeit: die Unterscheidung von „das“ und „daß“. Im Gegenteil ist „daß“ wegen der prägnanten Gestalt des Schlußbuchstabens leichter von „das“ zu unterscheiden als das auch ergonomisch ungünstige „dass“.

Außerdem ist die ss-Schreibung eindeutig fehlerträchtiger als die bisherige Regelung, auch bei Schreibanfängern, wie Professor Harald Marx nachgewiesen hat. Warum ist das so? Vor allem wohl, weil die bisherige Regel („ss am Schluß bringt Verdruß“) sehr viel einfacher ist als die Frage nach der Vokallänge. Aus diesem Grund wäre es für die Schüler auch ganz einfach, in Schulbüchern das Reform-ss in das klassische „ß“ zurückzuverwandeln, während es viel schwieriger ist zu entscheiden, wo laut Rechtschreibreform ein „ß“ in „ss“ verändert werden soll.

Das dritte Argument ist das finanzielle: Bei jeder Änderung der Rechtschreibreform müssen die Wörterbücher sofort und die Schulbücher nach und nach angepaßt werden, ob man nun 10, 20, 90 Prozent oder 100 Prozent der Neuregelung ändert. Was aber ist mit den anderen Büchern? Wenn alles außer der ss-Regel geändert würde, kämen auch die literarischen Verlage ab 2005 unter permanenten Druck, ihre Bücher für viel Geld der ss-Schreibung anzupassen.

Viertens bliebe - und das wäre das Schlimmste - das entscheidende Druckmittel der Rechtschreibreform erhalten. Wie viele Sekretärinnen, wie viele Beamte und wie viele Schülerinnen und Schüler wurden in den letzten Jahren schon wegen dieser Lächerlichkeit von oben gepiesackt! Für viele war und ist dieses „ss“ deshalb das einzige, was sie von der Rechtschreibreform übernommen haben, es ist der Geßlerhut, den man grüßen mußte und muß, um ungeschoren davonzukommen. Soll man ausgerechnet dieses Wahrzeichen einer total mißglückten Reform stehen lassen? Das wäre so, wie wenn ich einem Dieb, der mir meinen Schmuck gestohlen hat und der ausnahmsweise festgenommen wird, einen Teil der Beute ließe. Nur wenn nichts von dieser unseligen „Reform“ bleibt, können wir sie nach jahrelangen Verwirrungen und Streitereien und völlig sinnlosen Unkosten endlich vergessen wie eine überstandene Krankheit.

Und nur dann sind - fünftens - die Millionen von Büchern in unseren Bücherschränken und in den Bibliotheken nicht auf einen Schlag altmodisch, „überholt“ oder gar fehlerhaft.

Friedrich Denk, Weilheim i. OB

Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 166 vom 20. Juli 2004, S. 8
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Beitrag: Montag, 04. Okt. 2004 21:45    Titel: Lob der Rechtschreibung Antworten mit Zitat

Lob der Rechtschreibung

Von Prof. Dr. Horst Haider Munske

Es gibt viele Versuche, die deutsche Rechtschreibung zu korrigieren. Alle leiden an zwei Mängeln. Übersehen wird die Bedeutung der Orthographie für Leser, ignoriert die Kontinuität der Schriftform und deren Symbolwert für die eigene Sprache. Eine Charakteristik und Verteidigung der bewährten Rechtschreibung.
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Die deutsche Rechtschreibung ist lobenswert. Lobenswert ist sie für ihre vielen guten Eigenschaften, die das Lesen erleichtern, ohne das Schreiben besonders schwer zu machen. Sie übertrifft darin die Schriftnormen vieler weitverbreiteter Sprachen.

Zu loben ist sie vor allem für ihre Einheitlichkeit, die in langer Tradition gewachsen ist und vor mehr als hundert Jahren einvernehmlich besiegelt wurde. Sie hat in ihrer Geschichte bewiesen, daß sie fähig ist, sich der Sprachentwicklung und den Bedürfnissen ihrer Benutzer anzupassen. Das ist noch heute eine ihrer Stärken. Ein besonderes Lob verdient sie für die Widerstandskraft, die sie gegenüber zahllosen Reformversuchen gezeigt hat. Diese dankt sie natürlich ihren Verteidigern, die sich nicht von platten Nützlichkeitsideen ins Bockshorn jagen ließen, die Ausdauer bewiesen und Überzeugungskraft.

Und ich lobe sie auch für ihr Alter, für die Züge kontinuierlicher Entwicklung und geschichtlicher Herkunft, die sie nicht verbirgt. Ihre Kindheit liegt im frühen Mittelalter bei christlich-frommen Mönchen, die die Kunst des Schreibens mit lateinischen Buchstaben in den spätlateinischen Schriften der Kirchenväter und der Vulgata-Bibel kennengelernt hatten. Sie übertrugen diese Schrift auf ihre bairischen, alemannischen und fränkischen Dialekte, die nie zuvor aufgezeichnet worden waren. Ähnlich hatten fast ein Jahrtausend zuvor Freunde der griechischen Kultur deren Schrift auf italische Dialekte übertragen und damit jene lateinische Schriftkultur begründet, die schließlich die ganze Welt erobert hat. Spuren dieser Adaptionsgeschichte prägen bis heute die deutsche Orthographie und sind ein Teil ihrer Eigenart.

I. Alphabet und Alphabetschrift.

Züge des Alters verrät schon die Begrifflichkeit. Das Wort „Alphabet“ wurde im Mittelalter aus dem kirchenlateinischen Wort „alphabetum“ ins Mittelhochdeutsche entlehnt und geht zurück auf ein entsprechendes griechisches „alphabetos“, das sich aus den Bezeichnungen für die ersten beiden Buchstaben des griechischen Alphabets „alpha“ und „beta“ zusammensetzt. Das Wort hat die Adaption ins Lateinische überstanden und ist von dort in alle europäischen Sprachen aufgenommen worden: ein kleiner Spiegel unserer Kulturgeschichte.

Ähnlich erging es dem Wort „Orthographie“, dem wir noch heute die Herkunft aus dem Griechischen ansehen. Auch das wurde zuerst ins Lateinische entlehnt und von dort im 15. Jahrhundert ins Deutsche. Hier wurde es offenbar erst gebraucht, als man sich in Schulen und ersten Orthographielehren um richtiges Schreiben bemühte. 1571 begegnet uns erstmals die Übersetzung „Rechtschreibung“, Glied für Glied dem griechischen Original nachgebildet. Das „richtige Schreiben“ war also offenbar eine Forderung, die schon in der Frühzeit europäischer Schriftlichkeit erhoben wurde. Das griechische Wort belegt es und sagt damit viel über die Bedeutung der Normierung von Schriftsystemen. Alle Rede, man könne auf Normen doch verzichten, mißachtet Grundbedingungen der Schriftlichkeit, die so alt sind wie diese selbst.

Schreiben mit Buchstaben ist nur eine von vielen Möglichkeiten der Verschriftung, aber offenbar die erfolgreichste und einfachste, da wir mit einer kleinen Anzahl von Buchstaben eine unendliche Menge von Wörtern graphisch abbilden können. Das ist möglich, weil die einzelnen Zeichen nicht bestimmte Bedeutungen (zum Beispiel den Zahlenwert von 1, von 2, von 3) haben wie in ostasiatischen Wortschriften mit vielen tausend Zeichen, sondern sich auf die begrenzte Zahl von Lauten einer Sprache beziehen. Allerdings sind diese Laut-Buchstaben-Beziehungen niemals einfach (ein Laut = ein Buchstabe), sondern zumeist kompliziert wie im Deutschen, Französischen und Englischen.

Die Ursachen dieser Kompliziertheit liegen in der Geschichte des jeweiligen Schriftsystems begründet, in der Adaption eines Alphabets einer fremden Sprache (hier des Lateins), im Wandel der Sprache seitdem und besonders in der eigenständigen Entwicklung der Rechtschreibung. Wollte man alle Folgen und Zeugnisse dieser Entwicklung beseitigen, würde man jede Orthographie ihrer Identität berauben, all jener Züge, in denen ihre Benutzer das vertraut Eigene ihrer Sprache erkennen. Das gilt im Deutschen zum Beispiel für die Zeichenverbindungen ch, sch, ck, tz, für Dehnungs-h, Dehnungs-e (ie) und besonders unser ß.

II. Schrift als Symbol.

Warum eigentlich geben die Griechen nicht ihre griechische Schrift auf? Warum schreiben die Russen noch immer in kyrillischer Schrift, die vor mehr als tausend Jahren aus der griechischen entstand? Und warum lassen sich die Chinesen nicht bekehren, von ihrer altertümlichen Wortschrift zugunsten der lateinischen Alphabetschrift abzugehen? Im Gegenteil: Die Griechen zeigten während der Olympischen Spiele mit nationalem Stolz ihre eigenen Schriftzeichen vor, die kaum ein Besucher lesen kann. Die fremde Schrift hat hier keinen Informationswert, aber einen hohen Symbolgehalt. Sie ist ein Identifikationsmerkmal der Nation, nach innen und nach außen.

Einen ähnlichen Symbolgehalt haben die Besonderheiten unserer Orthographie. Rechtschreibreformer haben stets das Ziel vor Augen, sie völlig zu beseitigen. Die einzige Grenze, die sie notgedrungen akzeptieren, ist der Widerstand der Sprachgemeinschaft, der ihnen Stück für Stück ihrer Reformen zunichte macht. So werden Rechtschreibreformen immer magerer, bis sie ganz sterben.

III. Rechtschreibung für Leser.

Die Alphabetschrift basiert auf der Wiedergabe von Lauten durch Buchstaben. Welchen Sinn hat dann die Großschreibung am Wort- und Satzanfang, die Unterscheidung von Leere und Lehre, von daß und das? All das kompliziert doch offensichtlich das Verhältnis von Lauten und Buchstaben und macht das Erlernen der Rechtschreibung schwerer. So ist es, und es hat einen guten Grund: die Ausrichtung der Rechtschreibung auf den Leser.

Sie begann in der Medienrevolution des 16. Jahrhunderts. Die Verbreitung des Buchdrucks und die Verwendung preiswerten Papiers (anstelle teurer Tierhäute), außerdem die Erfindung der Lesebrille ermöglichten die Verbreitung gedruckter Schriften und Bücher für ein schnell wachsendes Lesepublikum. Die Buchkultur des Mittelalters war nur für eine kleine Elite in den Klöstern bestimmt. Die Vervielfältigung von Texten geschah durch einfaches Abschreiben oder durch Nachschreiben eines Vorlesers. Es gab eine Kultur der Buchkunst, aber keine Lesekultur. So war auch das System der Verschriftung vorrangig auf die Wiedergabe der Laute gerichtet.

Das änderte sich im Europa der frühen Neuzeit. Jetzt wurden in kurzer Zeit und sprachübergreifend graphische Mittel entwickelt, um das visuelle Verstehen von Texten zu erleichtern und zu beschleunigen. Hier liegen die Grundlagen unserer deutschen Orthographie. Dies ist vor allem deshalb bedeutsam, weil Rechtschreibreformer stets mit den Schreibschwierigkeiten argumentieren, als ginge es bei der Rechtschreibung mehr um das rechte Schreiben als um das leichte Lesen. Die Schriftgeschichte lehrt uns, daß es umgekehrt ist. Unsere Orthographie ist eine Leseschrift. Differenzierungen für Leser sind zumeist Erschwernisse für Schreiber. Das ist in Jahrhunderten entwickelt und akzeptiert worden. Jetzt muß es gegen jene verteidigt werden, die aus ideologischen Gründen der Erleichterung des Schreibens den Vorrang geben wollen.

IV. Stammschreibung.

Warum schreiben wir Leute und heute, aber mit gleichem Laut läuten und häuten? Warum Eltern, aber älter, warum Bild und Burg, aber halt und stark, wo doch in beiden Fällen eine „hartes“ t beziehungsweise k gesprochen wird? Offensichtlich widersprechen diese Schreibungen dem Grundprinzip der Laut-Buchstaben-Beziehung. Dem folgte das Mittelhochdeutsche viel besser. Man schrieb bilt, burc und lenge für Bild, Burg und Länge. Erst seit dem 16. Jahrhundert tauchen Schreibungen auf, die sich am Stamm orientieren, also Bild mit d wegen der Paradigmenformen Bildes, Bilde, Bilder oder Länge wegen der Ableitung aus lang. Diese sogenannten Stammschreibungen werden schon in den ersten Rechtschreiblehren von Kolross (1530) und Frangk (1531) angeführt. Wir interpretieren diese Entwicklung der deutschen Orthographie als Orientierung am Leser, der die Wörter einer Wortfamilie schnell erkennen soll. Das wird zweifellos erreicht, wenn man die lautlichen Abwandlungen in einem Beugungsparadigma und in Ableitungen nicht berücksichtigt, sondern die Wortstämme immer gleich schreibt.

Ein besonderer, für das Deutsche charakteristischer Typ solcher Stammschreibung sind die Umlautschreibungen ä und äu (statt e und eu). Durch die Ähnlichkeit zwischen ä und a beziehungsweise äu und au wird gleichsam eine graphische Eselsbrücke hergestellt. Das ist eine Besonderheit und eine Stärke unserer Rechtschreibung. Allerdings funktioniert sie nur in der Flexion ausnahmslos (Haus - Häuser, alt - älter), bei Wortbildungen nur so lange, wie sie durchsichtig sind (lang - länglich, Tat - Täter). Sind die semantischen Beziehungen zum Grundwort verdunkelt wie bei Eltern, behende oder schneuzen, bedarf es keiner Umlautschreibung mehr. Entsprechende Reformversuche sind widersinnig und gegen die Sprachentwicklung gerichtet.

V. Das ß.

Das ß ist das eigenartigste Zeichen der deutschen Orthographie. Es stammt aus der Frakturschrift, die in Deutschland in vielen Varianten vom ausgehenden Mittelalter bis 1942 als Schreib- und Druckschrift verbreitet war. In diesen sogenannten gebrochenen Schriften entstanden zwei s-Zeichen, ein langes s-Zeichen für Wortanfang und -mitte und ein kurzes, rundes für den Schluß. Aus ihrer Kombination in einer sogenannten Ligatur, das heißt zwei miteinander verbundenen Bleilettern, ist wahrscheinlich unser Eszett entstanden. Es war also ursprünglich ein Doppelzeichen. Die „Übersetzung“ in die Antiquaschrift war schwierig, denn dort gab es nur ein einziges s-Zeichen. So wurde die ß-Ligatur einfach entlehnt, ein Sonderzeichen, das bis heute an die Frakturschrift erinnert. Seinen Namen hat es vielleicht nach dem „geschwänzten“ z der Frakturschrift.

Die Verwendung des ß ist begrenzt: nie am Anfang, niemals groß geschrieben. Scharfes s nennen es manche, denn es steht immer nur für stimmloses s, nie für stimmhaftes. Darin unterscheidet es sich vom einfachen s, das sich auf beide Laute beziehen kann. Es gibt mehrere Verwendungen des ß: im Inlaut nach Langvokal und Diphthong steht es für stimmloses s, um es vom stimmhaften zu unterscheiden. So können wir Muse und Muße, reisen und reißen, die sich lautlich unterscheiden, auch in der Schreibung erkennen. Ferner als Schluß-ß nach kurzem Vokal und in dem Wörtchen daß. Beides soll künftig beseitigt werden.

Ist es hier überflüssig? Wir wollen verstehen, wozu es dient. Das sogenannte Schluß-ß tritt auf, wenn eigentlich ss nach Stammprinzip zu erwarten wäre. Statt muss wie in müssen steht muß, statt müsste steht müßte. Das ß übernimmt damit eine zusätzliche Information, die über den Lautbezug hinausgeht. Es sagt uns: Hier endet das Wort muß oder der Stamm müß-. Was ist damit gewonnen? Es ergänzt die Information von Wortzwischenräumen, Interpunktion und Großschreibung. Solche Grenzsignale sind ein wichtiges Merkmal leserorientierter Schriftsysteme. Meist wird der Wortbeginn markiert, die Kennzeichnung des Stamm- oder Wortendes erfolgt seltener. Das ß ist dazu das einzige Mittel. Eine besonders wichtige Funktion hat es in Zusammensetzungen wie Ausschußsitzung, Mißstand, Eßsaal oder Schlußsatz. Hier zeigt es die Kompositionsfuge an und erleichtert es, die Teile des zusammengesetzten Wortes zu erkennen. Diese Erleichterung des Lesens sollte man nicht ohne Not über Bord werfen.

VI. Zum Wörtchen „daß“.

In der Schule gilt „daß“ als das Kummerwort der deutschen Sprache. Es wird gleich gesprochen wie das Pronomen das, aber verschieden geschrieben. Das muß lange geübt werden. Wo stecken die Schwierigkeiten? In der Grammatik. Unsere Orthographie leistet sich hier den Luxus, einen grammatischen Unterschied, der in der Lautung nicht zum Ausdruck kommt, durch Verschiedenschreibung zu kennzeichnen: hier die Konjunktion daß, dort der sächliche Artikel, das Relativpronomen und das Demonstrativpronomen das. Es ist interessant, daß gerade Lehrer darauf bestehen, das daß beizubehalten. Sie sagen, es schule das Verständnis für Grammatik. Rechtschreibunterricht wird zum Helfer.

Oder muß man sagen: Er wird durch diese Inanspruchnahme belastet? Wohl kaum. Denn es geht hier auch darum zu zeigen, wie sehr die Schreibung unsere Sprache in all ihren Eigenheiten abbildet. Und dazu gehört die Herausbildung der Konjunktion aus dem Pronomen das - ein komplizierter Vorgang in der Sprachgeschichte, der schon am Anfang deutscher Schriftlichkeit einsetzt. Ich habe einen Text aus dem Jahre 1341 gefunden, abgedruckt in der Sammlung von Weistümern von Jacob Grimm, in dem mit großer Regelmäßigkeit die Konjunktion mit ß, die Artikel und Pronomina mit s geschrieben werden. Gerade Rechtstexte sind auf Präzision angewiesen. Bei den professionellen Kanzleien des Mittelalters liegen die Anfänge einer Schriftnormierung. Deshalb kann dieses Zeugnis nicht überraschen.

Es ist leider wenig bekannt, welche bedeutende Rolle die Rechtskodifizierung für die Sprachnormierung gespielt hat. Am bekanntesten ist vielleicht die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) im Jahr 1900. Ihre Sensibilität in Sprachfragen hat deshalb viele Juristen dazu veranlaßt, gegen die Rechtschreibreform zu protestieren. Differenzierung in der Sprache ist für sie bedeutsam für die Differenzierung in der (Rechts-)Sache.

Gute Gründe haben also dazu geführt, daß die Unterscheidungsschreibung selbst in der sogenannten Rechtschreibreform beibehalten wurde. Warum dann aber eine Schreibänderung von daß zu dass? Offenbar sollte dem Schluß-ß unbedingt der Garaus gemacht werden. Dabei gab es gute Gründe, am daß nicht zu rühren. Doppelkonsonanten sind nämlich in unserer Rechtschreibung vor allem flektierbaren Wörtern vorbehalten, um ein Gelenk zwischen zwei Silben bilden zu können (Män-ner). Unflektierbare Einsilber wie in, mit, bis schreibt man zu Recht nur mit einfachem Konsonanten. Will man also weiterhin Pronomen und Konjunktion in der Schreibung unterscheiden, dann ist dafür das Sonderzeichen ß am besten geeignet. Es hebt auch durch seine graphische Oberlänge die Konjunktion daß gegenüber dem Pronomen das ab. Die Weisheit historischer Entwicklung ist auch hier den falschen Vereinfachungen von Reformern vorzuziehen. Das bestätigt auch die erhöhte Fehlerquote der neuen ss-Schreibung.

VII. Groß oder klein?

Die Großschreibung der Substantive und Substantivierungen ist die hervorstechendste Eigentümlichkeit unserer Rechtschreibung. Wir finden sie bereits in der Lutherbibel aus dem Jahr 1543 vorgebildet und in der gesamten klassischen deutschen Literatur angewandt.

Reformer wollen diese deutsche Eigentümlichkeit seit langem loswerden. Meist wird argumentiert, die Substantiv-Großschreibung sei schwer erlernbar, stellenweise auch willkürlich. Demgegenüber sagen viele Ausländer, daß dies kein Problem sei, vielmehr machten die hervorgehobenen Substantive das Lesen deutscher Texte leichter. Empirische Nachweise sind für beide Positionen schwer zu erbringen. Bisherige Tests bestätigten meist das, was die betreffenden Wissenschaftler beweisen wollten. Jedem zweifelhaften Reformversuch steht die Macht der Tradition gegenüber.

Der Kern der Regel ist einfach: Wir schreiben nicht nur Substantive groß, sondern auch Wörter anderer Wortarten, die wie Substantive gebraucht werden, zum Beispiel Präpositionen in „das Für und Wider“, Pronomina in „das traurige Ich“, Verben in „das Soll und Haben“ und schließlich Adjektive und Partizipien wie „das Blau des Himmels“, „die Ausgestoßenen“.

Es geht dabei um den Wortartgebrauch im Text. Das ist der Clou dieser Regel. So können wir als Leser sofort erkennen, was die Gegenstände der Rede, die Hauptwörter, sind. Manchmal führen solche Substantivierungen dazu, daß der betreffende Gebrauch fest wird, lexikalisiert. So sind unzählige neue Wörter entstanden wie die Studierenden, die Angestellten, die Auszubildenden, Lesen, Schreiben oder Wandern.

Eine folgerichtige Anwendung ist auch die Großschreibung fester substantivischer Ausdrücke wie Erste Hilfe, Schneller Brüter, Kleine Anfrage (im Parlament). Das war nie als Vorschrift formuliert, wurde aber in der Praxis gern und häufig benutzt.

Auch die Kleinschreibung von Verben, Adjektiven und Pronomina ist einfach. Probleme bereitet nur ein charakteristischer Zug der Sprachentwicklung: das Verblassen von Substantiven zu Präpositionen (kraft), Adverbien (abends), Adjektiven (es tut mir leid) sowie in scheinbaren Substantivierungen von Adverbien (im übrigen, des öfteren) und Pronomen (folgendes, der meinige). Solche Entwicklungen in der Schreibung nachzuvollziehen - das ist die Stärke unserer Rechtschreibung. Die Reformer sind dabei, sie zu zerstören.

VIII. Getrennt oder zusammen?

Kein Thema hat die Kritiker der Rechtschreibreform heftiger aufgebracht als die neuen Regeln zur sogenannten Getrennt- und Zusammenschreibung. Worum geht es dabei, und weshalb ist die überlieferte Regelung besser?

Getrennt oder zusammen - das gehört zum wichtigen Bereich der Abgrenzung von Wörtern in einem Text. Wortzwischenräume erleichtern das Lesen, weil sie einen unmittelbaren Zugriff auf die sinntragenden Elemente ermöglichen. Unterstützt wird das durch Großschreibung und Zeichensetzung. Was ein Wort ist und was man also auf diese Weise kennzeichnet, erscheint zunächst unproblematisch. Es gibt einfache Wörter sowie Wortbildungen. Jeder, der Deutsch spricht, kennt die Muster der Ableitung und der Zusammensetzung. Deshalb träten auch kaum Probleme der Schreibung bei solchen komplexen Wörtern auf, gäbe es nicht Bereiche der Wortbildung, die noch nicht kanonisiert sind, erst im Entstehen sind und noch schwankend im Gebrauch. Es handelt sich dabei stets um Wörter, die im Text benachbart stehen und syntaktisch aufeinander bezogen sind. Das ist der Fall etwa bei fertig und machen, tot und schlagen in den Verben jemanden/etwas fertigmachen, jemanden totschlagen; die Adjektive fertig und tot beziehen sich auf das Objekt der verbalen Handlung. Sie werden dem Verb als Verbzusatz einverleibt.

Entsprechend werden zahllose Verben dieses Typs zusammengeschrieben. Das ist jedoch nicht zwingend erforderlich und muß auch nicht reglementiert werden. Gerade darin liegt die Qualität einer Orthographie, daß sie es ermöglicht, sprachlichen Entwicklungen zu entsprechen, ohne daß Regeln geändert werden müssen. Es ist Aufgabe der Wörterbücher, solche Entwicklungen des Schreibgebrauchs zu dokumentieren.

Ähnlich verlaufen die Prozesse der Einverleibung bei Verben wie eislaufen, maschineschreiben und Partizipien wie ratsuchend, Alleinstehende. In völliger Unkenntnis solcher im Entstehen befindlicher Wortbildungsmuster haben die Rechtschreibkommissionen unsinnige Schreibungen wie Rat suchend, allein Stehende vorschreiben wollen. Sie stehen auch in dem jüngsten Reformduden, jetzt aber schon wieder neben den bisherigen Schreibungen.

In anderen Fällen wiederum wird die Zusammenschreibung genutzt, um semantische und syntaktische Unterschiede zu markieren, zum Beispiel frei sprechen (frei ist Adverb zu sprechen) und (jemanden von einer Schuld) freisprechen (frei ist Verbzusatz, der sich auf das Objekt der Handlung bezieht). Seit Jahrhunderten unterschieden wird zwischen so genannt und sogenannt, so in dem Satz „Seit wann wirst du so genannt?“ (so ist Modaladverb) und der Formulierung „die sogenannte DDR“ (so ist Verbzusatz zum Partizip).


Gerade auf diesem Feld, das 1901 noch nicht amtlich geregelt wurde, hat sich eine Kultur der Differenzierung entwickelt, die schwer in starre Regeln zu bringen ist und damit viele Möglichkeiten für intelligente Schreiber eröffnet. Es ist kein Zufall, daß gerade auf diesem scheinbar unbedeutenden Gebiet der Rechtschreibung die Reformer ihr Canossa erlebt haben.

IX. Konservative Schriftkultur

Welches sind die Merkmale einer historisch geprägten Schriftkultur? Kontinuität, Einheitlichkeit und Differenziertheit. Kontinuität wird erzielt durch Konservativität, durch das Festhalten am Schreibgebrauch über Jahrhunderte hinweg. Dauerhaftigkeit des Schriftkodes ist eine Grundbedingung jeder Schriftkultur. Deshalb nimmt die Schrift keine Rücksicht auf Veränderungen der Lautsprache, sondern gibt den üblichen Zeichen eine neue Interpretation. So entstand unser Zeichen für langes i (ie) auf folgende Weise: Im Mittelhochdeutschen gab es einen Diphthong i-e wieder (zum Beispiel in lieb, bieten, die); diese Schreibung blieb auch erhalten, als i-e zu langem i wurde (Monophthongierung). Später wurde diese Schreibung sogar generalisiert für fast alle deutschen Wörter mit langem i. Lautwandel einerseits und Konservativität der Schreibung andererseits haben mehrfach zu Komplizierungen der Laut-Buchstaben-Beziehungen geführt. Das gilt für die Orthographien vieler Sprachen.

Ein anderes Beispiel für außerordentliche Konservativität ist die Schreibung griechischer Lehnwörter im Deutschen. Die Zeichen ph, th und ch in Philosoph, Theologie, Christus erklären sich aus der langen Entlehnungsgeschichte dieser Wörter, vom Griechischen ins Lateinische und vom klassischen Latein der Humanisten ins Deutsche. Ursprünglich bezeichneten die griechischen Zeichen phi, theta und chi stimmlose Verschlußlaute mit einer folgenden Behauchung (Aspiration). Römische Schreiber griechischer Lehnwörter gaben das mit den Kombinationszeichen ph, th und ch wieder. Und dabei blieb es, obwohl im hellenistischen Griechisch aus den Verschlußlauten längst Reibelaute entstanden waren. Dem entspricht unsere Aussprache von ph als f. Die Humanisten haben diese Tradition der Verschriftung griechischer Wörter getreulich aufgenommen, und zwar nicht nur im Deutschen, sondern auch im Englischen und Französischen.

X. Haut der Sprache.

Oft kommt es zu Rechtschreibreformen, weil die Orthographie fälschlicherweise für ein „Kleid der Sprache“ gehalten wird. Kleider kann man wechseln, Kleider sind zeitbedingt, Kleider haben mit dem Körper Sprache wenig zu tun. Das eben ist der Irrtum.

Zweierlei ist falsch. Erstens wird Sprache seit der Verbreitung von Lesen und Schreiben über das Geschriebene und Gedruckte identifiziert. Nicht das Hörbare, sondern das Sichtbare, was man schwarz auf weiß besitzt, macht Sprache für uns faßbar. Den Rang dieser Erscheinungsform kann man auch daran ermessen, daß die standardisierte gesprochene Hochsprache durch Sprechen nach der Schrift entstanden ist. Bis heute ist auch in der Schule (gegenüber Dialektsprechern) die Schriftsprache Orientierung der Sprechsprache. Kein Zufall, daß „Schriftsprache“ überhaupt „Standardsprache“ bedeutet.

Ich will der irreführenden Metapher vom „Kleid der Sprache“ eine andere entgegensetzen: Die Rechtschreibung einer Sprache ist die „Haut der Sprache“. Sie ist untrennbar mit ihr verbunden, mit der Sprache gewachsen und gealtert. Sie gibt ihre Besonderheiten auf je eigene Weise wieder und ermöglicht alle Differenzierungen, die ihre Benutzer verlangen.

Das macht die Eigenart jeder Orthographie aus. Keine gleicht der anderen. Es gibt keine Konfektion bei Orthographien. Man mache eine Probe, zum Beispiel schreibe Deutsch in englischer Orthographie oder umgekehrt. Zwei Beispiele: „Ai law mei kantri“; „Ish leebe mine lund“. Was für eine Verballhornung! Wegen dieser Spezifik wird die Schreibung oft für die Sprache selbst gehalten, weshalb viele die Rechtschreibreform als eine Sprachreform empfinden. Denn wer die Haut der Sprache verletzt, beschädigt auch den Körper.

Die verschiedenen Versuche, die deutsche Rechtschreibung zu korrigieren, leiden an zwei grundlegenden Mängeln. Sie verkennen die Leistung einer Orthographie für Leser und erzeugen deshalb nur Verschlimmbesserungen. Vor allem aber ignorieren die Reformer die Grundvoraussetzungen aller Schriftkultur: Kontinuität der Schriftform und deren Symbolwert für die eigene Sprache. Das begründet den anhaltenden Widerstand gegen die Rechtschreibreform.

Der Verfasser lehrte Germanische und Deutsche Sprachwissenschaft und Mundartkunde an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 231 vom 4. Oktober 2004, S. 8
_______________________________________________________

Vgl. Der Rechtschreibreformer Horst Haider Munske - www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=264

Anmerkung:
In den VRS-Links wurde „viewtopic“ durch „themaschau“ ersetzt, damit sie wieder funktionieren.


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Beitrag: Freitag, 03. Dez. 2004 23:38    Titel: „ICKLER“ und „DUDEN“ Antworten mit Zitat

David gegen Goliath?

Die Neuausgaben von „Ickler“ und „Duden“ markieren die Positionen im Rechtschreib-Streit

Zwei Rechtschreibwörterbücher, der bewährte Duden und der neue Ickler, repräsentieren die beiden wichtigsten Positionen im Konflikt um die deutsche Rechtschreibung. Hier das Traditionswerk aus dem Duden-Verlag im jüngsten Kleid der Reform, dort der Gegenentwurf des prominenten Verteidigers der bewährten Rechtschreibung.

Der Duden hat eine lange Geschichte und leitet daraus seine Vorrangstellung ab. Bereits 1880, wenige Jahre nach dem Scheitern der Rechtschreibreform von 1876, erschien unter dem anspruchsvollen Titel „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ eine Wörterliste von 187 Seiten, die die Regeln der Preußischen Schulorthographie auf den Grundwortschatz des Deutschen anwandte und eine leicht lernbare Richtlinie bot. Konrad Duden, ursprünglich durchaus Reformen zugeneigt, schlug sich damit auf die Seite der Tradition und setzte das neugefasste, aber in der Sache kaum veränderte Regelwerk der deutschen Orthographie in ein Wörterbuch um. Der Erfolg seines Buches bahnte den Weg für die Rechtschreib-Einigung im Jahre 1901.

Gespeicherte Schreibschemata

Damit wurde die Traditionslinie deutscher Schreibnorm seit dem 18. Jahrhundert fortgeführt. Seitdem ist der Duden nicht nur ein unumstrittener Leitfaden der deutschen Rechtschreibung, er wurde nach dem Tod Dudens zunehmend zu einem kleinen Universalwörterbuch des Deutschen ausgebaut. Man findet kurze Angaben zu Aussprache, Grammatik und Etymologie, vor allem Bedeutungsangaben zu den allermeisten Fremdwörtern. Jede neue Auflage verzeichnet die jüngsten Neuerwerbungen des deutschen Wortschatzes und leitet daraus ihre Aktualität ab.

So auch die jüngste 23. Auflage mit 5000 neuen Stichwörtern. Äußerlich hat sich wenig geändert: ein gelber laminierter Einband, Reformschreibungen in Rot, viele informative Kästen über schwierige Rechtschreibbereiche. Leider fehlen die Angaben über „alte Schreibung“ aus der letzten Auflage. Noch vor dem Wörterbuchteil steht die Duden-eigene Regeldarstellung zu Rechtschreibung und Zeichensetzung, verständlicher und eindeutiger als die amtliche.

Wie es im Vorwort heißt, entsprechen „die in diesem ,Duden‘ verzeichneten Schreibungen dem allerneuesten Stand des amtlichen Regelwerks“. Dies meint die jüngsten Empfehlungen der Zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission, die sich die Kultusministerkonferenz im Frühjahr zu eigen gemacht hatte. Sie haben zu „Regelergänzungen“ in den Paragraphen 34, 36, 40, 41, 55, 58 und 64 geführt, die einleitend mitgeteilt werden. Es sind größtenteils Zugeständnisse an die Kritiker: Man darf wieder vieles zusammenschreiben, etwa „sogenannt“ und „weitgereist“, „diensthabend“, „Alleinerziehende“ und „Ratsuchende“; daneben gelten aber die so genannten Reformschreibungen weiter, also „Dienst habend“, „allein Erziehende“, „allein Stehende“.

Diese erscheinen im Wörterbuch an erster Stelle, die bisherigen Zusammenschreibungen sind nur tolerierte Varianten. Dazu heißt es im Kommissionsbericht: „Die Kommission schließt nicht aus, dass in Zukunft auf manche Variantenschreibung verzichtet werden kann. Das wird vor allem solche Varianten betreffen, die lediglich ein Zugeständnis an gespeicherte Schreibschemata der alten Rechtschreibung darstellen.“ Dies ist ein zarter Hinweis auf künftige Änderungen und den nächsten, den vierten Reformduden.

Im übrigen gibt es Änderungen bei der Großschreibung. Man darf wieder schreiben „Kleine Anfrage“, „Letzter Wille“ und „Schneller Brüter“, alles feste Ausdrücke mit spezifischer Bedeutung. Abgesehen von diesen Neuerungen mit schätzungsweise zwei- bis dreitausend zusätzlichen Varianten bleibt auch dieser Duden der verordneten Reform treu. Erstmals in seiner Geschichte geriet der Duden damit in einen Konflikt zwischen Tradition und Obrigkeit und hat sich für letztere entschieden.

Für alle, die diesen Weg nicht mitgehen möchten, bietet Theodor Ickler einen Ausweg. Sein „Rechtschreibwörterbuch“ aus dem Jahr 2000 liegt jetzt in einer erweiterten Fassung vor. „Klassisch“, „bewährt“, „bisherige“ oder gar „alte“ Rechtschreibung – was ist die angemessenste Bezeichnung für unsere Schreibtradition? Ickler entscheidet sich im neuen Titel des Bandes für die Bezeichnung „normal“. Das soll heißen: jene Norm, die tatsächlich in der bisherigen Schreibpraxis existiert, basierend auf dem letzten Traditionsduden (1991), aber ohne alle seine Quisquilien, seine übermäßige Regeldichte.

Ickler hat diese Gebrauchsnorm aus unzähligen Texten ermittelt. Tatsächlich werden nämlich viele Dudenregeln gar nicht beachtet und keiner findet es falsch. Das gilt vor allem für viele Fälle der Getrennt- und Zusammenschreibung. Deshalb lässt Ickler in allen Fällen, wo beide Interpretationen möglich sind, die Wahl offen. So deutet ein kleiner Bogen zwischen „fern“ und „stehen“ an, dass man „fernstehen“ oder „fern stehen“ schreiben kann; einmal ist (grammatisch gesehen) „fern“ ein Verbzusatz, einmal Adverb. Ähnlich bei „fertigstellen“, „totschweigen“, „vollbeschäftigt“.

Amtliches und Klares

Wie man sich sinnvoll entscheidet, erläutert Ickler im Einleitungsteil. Dem folgen in 29 Paragraphen „Hauptregeln der deutschen Orthographie“. Wer je versucht hat, den Text „Die amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung“ aus der Feder der Reformkommission zu lesen und zu verstehen (abgedruckt im neuen Duden), wird Icklers Darstellung als wohltuend, behutsam und klar empfinden. Schon dafür lohnt die Anschaffung seines Buches. Im übrigen ist der „Ickler“ – wie der einstige erste Duden – ein reines Rechtschreibwörterbuch ohne die unzähligen Komposita und Ableitungen, die der Duden verzeichnet. Denn wie man Wörter wie „Mischungsverhältnis“ oder „Mittelstreckenrakete“ schreibt, kann jeder Drittklässler aus der Schreibung seiner Komponenten ableiten. Stattdessen verwendet Ickler in der neuen Auflage große Sorgfalt auf die Nennung und kurze Erläuterung von Eigennamen, deren Schreibung ja tatsächlich nicht einfach, aber wichtig ist. Kaufempfehlung des Rezensenten: Sprachinteressierte brauchen beide Bücher, für die anderen genügt das Rechtschreibprogramm im Computer.

HORST HAIDER MUNSKE

DUDEN. Die Deutsche Rechtschreibung. 23., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. Dudenverlag, Mannheim u.a. 2004. 1152 Seiten, 20 Euro.

THEODOR ICKLER: Normale deutsche Rechtschreibung. Sinnvoll schreiben, trennen, Zeichen setzen. 4., erweiterte Auflage. Leibniz Verlag, St. Goar 2004. 579 Seiten, 18 Euro.

Süddeutsche Zeitung vom 1. Dezember 2004
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Anmerkungen:

Hat Munske seinen Text so geschrieben oder wurde er von der Redaktion in den Neuschrieb umgwandelt?

„Der Bogen U kennzeichnet Wortverbindungen, die in bestimmten Stellungen zusammengeschrieben werden können: kalt U stellen = kaltstellen oder kalt stellen“ (Ickler, S. 69).

„Konflikt zwischen Tradition und Obrigkeit“??? Das bedeutet sprachwissenschaftlich ausgedrückt: der Konflikt zwischen Deskription und Präskription, siehe www.vrs-ev.de/forum/themschau.php?t=235 -. Das ist das Problem, mit dem sich die Politiker bisher noch nicht auseinandergesetzt haben. Was wäre demnach die angemessenste Bezeichnung für unsere Schreibtradition? Normale oder deskriptive Rechtschreibung? Die Überschrift „David gegen Goliath?“ könnte auch lauten: „Deskription kontra Präskripion!“

Daß das Rechtschreibprogramm im Computer ausreichen soll, wage ich zu bezweifeln.

Anmerkung II:
In den VRS-Links wurde „viewtopic“ durch „themaschau“ ersetzt, damit sie wieder funktionieren.
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