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Schul-, Kinder- und Jugendbücher

 
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Manfred Riebe



Registriert seit: 23.10.2002
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Wohnort: 90571 Schwaig bei Nürnberg

Beitrag: Montag, 28. Jun. 2004 12:58    Titel: Schul-, Kinder- und Jugendbücher Antworten mit Zitat

„Die Schüler sind das schwächste Glied in der Kette.“
„Am meisten leidet die Sprachfähigkeit der Kinder.“
_________________________________________________________

Auf dem Rücken der Schwächsten. Schulbücher nach der Rechtschreibreform


Theodor Ickler

Die sogenannte Rechtschreibreform ist handstreichartig eingeführt worden. Einen Tag nach der Unterzeichnung der „Wiener Absichtserklärung“ lag das neue Bertelsmann-Wörterbuch in den Buchhandlungen, und auch die ersten umgestellten Schulbücher waren gedruckt, so daß im Sommer 1996, also zwei Jahre vor dem geplanten Inkrafttreten der Neuregelung, in den Schulen der meisten Bundesländer mit der Einführung begonnen werden konnte. Von der angekündigten Erprobungsphase war keine Rede mehr, die Umstellung galt als endgültig. Die Kultusministerien gaben denn auch bekannt, Schulbücher in bisheriger Rechtschreibung ab sofort nicht mehr genehmigen zu wollen.

Zu diesem Zeitpunkt lag das amtliche Regelwerk noch nicht in seiner endgültigen Fassung vor, es fehlte auch noch das amtliche Wörterverzeichnis, ganz zu schweigen von bitter nötigen Kommentaren, die das ungemein schwerverständliche Paragraphendickicht erläutert hätten. Die Schulbuchverlage versuchten notgedrungen, sich einen Reim auf die neuen Regeln zu machen. Mißverständnisse und Übertreibungen konnten nicht ausbleiben. Wenn sogar die erfahrene Dudenredaktion zu dem Schluß kam, „wiedersehen“ und zahlreiche ähnliche Wörter – durchweg von hoher Gebrauchshäufigkeit – würden nunmehr getrennt geschrieben, dann ist es kein Wunder, daß die schlechter informierten Schulbuchbearbeiter entsprechende Änderungen vornahmen. Es dauerte Jahre, bis dieser Irrtum behoben werden konnte.

Vielfach wurde die neuen Getrenntschreibung übergeneralisiert: Wasseramseln, so erfahren wird aus dem Gymnasiallehrwerk des Klett-Verlags, „ernähren sich von Wasser bewohnenden Insektenlarven“ (Natura. Klett 1998).

Aber auch und gerade da, wo die Neuregelung „korrekt“ angewandt ist, leidet der Sinn: Im Geschichtsbuch I (1997) des Cornelsen-Verlags heißt es, daß „sich die Menschenaffen und die Menschenvorfahren auseinander entwickelt hatten“ - als hätten sich die einen aus den anderen entwickelt, während sie sich in Wirklichkeit in verschiedene Richtungen, also „auseinanderentwickelt“ hatten.

Im ersten Übereifer strichen die Verlage eine Unmenge von Kommas, die nicht mehr stehen müssen, aber durchaus noch stehen dürfen und um der Lesbarkeit willen auch stehen sollten. Dabei trafen sie manchmal das Richtige, oft aber auch nicht.

„Es war, wie Fanny, das Kindermädchen, sagte, Platz in der Hölle um die ganze Stadt Wien und alle ihre Menschen zu verschlingen.“ (Canetti in Sprachbuch 9, Bayerischer Schulbuch-Verlag 1997) – „Warum weigern Sie sich nicht Licht anzudrehen, wenn Sie von Elektrizität nichts verstehen?“ (Dürrenmatt in Kennwort 10, Schroedel Verlag 1997) - „Nie hatte ich den Mut meine Absichten und Wünsche euch zu sagen, denn ich wusste, dass sie mit den euren nicht übereinstimmten.“ (Hermann Hesse in Verstehen und Gestalten 10, Oldenbourg Verlag 1996, auch die Kleinschreibung der Anrede ist neu.)
Aber auch die eigenen Texte der Schulbuchautoren leiden unter der Kommastreichung, selbst wo sie jetzt als „korrekt“ gilt: „Um weitere Bruderkriege unter den Stämmen zu vermeiden griffen Abu Bakr und sein Nachfolger Umar auf den Plan Mohammeds zurück den islamischen Staat nach Norden zu erweitern.“ (Geschichtsbuch 1, Cornelsen 1997) - „Da haben wir in Anbetracht unserer höchsten Milde und im Hinblick auf unsere immerwährende Gewohnheit allen Menschen Verzeihung zu gewähren geglaubt diese Nachsicht auch auf die Christen ausdehnen zu müssen.“ (ebd.)Ebenso häufig wurden Kommas getilgt, die nach wie vor verbindlich sind: „Nun aber fürchteten sie ihr König würde nie ans Ziel kommen.“ (Geschichtsbuch I, Cornelsen 1997.) - „Nachdem Marius zum Konsul gewählt war erhielt er den Auftrag Krieg gegen den Numiderkönig Jugurtha zu führen.“ (ebd.)

Nach einem „hinweisenden“ Wort muß der Infinitiv neuerdings selbst dann durch Komma abgetrennt werden, wenn er nicht erweitert ist: „Er haßt es, zu arbeiten.“ Anfangs hielten viele, darunter das Bayerische Innenministerium, aber auch der einflußreiche Schulbuchautor Gerhard Schoebe gewisse Wortgruppen für solche kommapflichtigen Elemente: „Die Anwältin rief zu dem Zweck, noch rechtzeitig zur Verhandlung zu kommen, ein Taxi herbei.“ (Grammatik kompakt, Oldenbourg 1997) - Das ist jedoch ebenso unrichtig wie die von Schoebe vermutete Weglaßbarkeit des Kommas in: „Wie gesagt es war mitten im Winter.“ Solche Irrlehren durchziehen jetzt die Deutschbücher, die zudem auch ihre Wortschreibung durch die Reform bis zum grammatisch Fehlerhaften entstellt haben: „Die meisten Verbzusätze sind gleich lautend (!) mit einer Präposition oder einem Adverb.“ (Schoebe)

Das vollkommen überflüssige, jetzt aber obligatorische neue Komma als drittes Satzzeichen nach wörtlicher Rede wurde zunächst oft vergessen, zum Beispiel in Erstlesebüchern: „'Es hat geschneit!'„ ruft sie. (Williams: Mein Schneemann friert. Carlsen 1996) – „'Seid ihr sicher?'„ fragt Bauer Huber. (Nagel: Zwei Ferkel stehen Kopf. Carlsen 1996) Inzwischen findet man diesen Fehler in Büchern seltener, wohl weil dieses Komma leicht programmierbar ist. Schüler vergessen es natürlich fast immer; auf diese neue Fehlerquelle hatten Pädagogen schon früh, aber vergeblich hingewiesen.

Die fakultativen Kommas vor erweitertem Infinitiv sind unter genau gleichen Bedingungen einmal gesetzt und dann wieder weggelassen, ohne erkennbaren Grund. Selbst wenn neuerdings dauernd vom „stilistischen Komma“ gesprochen wird - wie soll sich ein Gefühl für den Wert dieses Kommas ausbilden? Eine entsprechende Anfrage beantwortete der Ernst Klett Grundschulverlag so: „Dass unter nahezu gleichen Bedingungen einmal ein Komma steht und das andere Mal nicht, lässt sich kaum vermeiden, so lange (sic) die Wahlmöglichkeit besteht. Und an dieser Situation kann ein Verlag leider nichts ändern.“ (Brief vom 30. 9. 1997)

Was die literarischen Texte aus neuerer Zeit betrifft, die in den Sprach- und Lesebüchern abgedruckt sind, so ist mit ihnen eine urheberrechtliche Frage verbunden. An einigen Beispielen war bereits zu erkennen, daß die Bearbeitung zu gewissen Veränderungen von Stil und Bedeutung führt. Sehen wir uns noch einmal die veränderte Kommasetzung an: „Törleß seufzte unter diesen Gedanken und bei jedem Schritte, der ihn der Enge des Institutes näher trug, schnürte sich etwas immer fester in ihm zusammen.“ (Musil in Sprachbuch 10, Bayerischer Schulbuch-Verlag 1997, Komma nach „Gedanken“ gestrichen) – „Ich versprach ihm daher auch nur kurz mir noch überlegen zu wollen, was mit ihm geschehen werde.“ (Musil ebd., Komma nach „kurz“ gestrichen)Ist hier nur eine gewisse Undeutlichkeit die Folge, so muß man bei Christa Wolf schon von einem ernsten Anschlag auf ihren eigentümlichen Stil sprechen: „Damals, im Sommer 1971, gab es den Vorschlag doch endlich nach L., heute G., zu fahren und du stimmtest zu.“ (ebd., zwei Kommas gestrichen) - „Nimm bloß den Sonnenplatz, dessen alten Namen du nicht ohne Rührung ins Polnische übersetzt auf den neuen blauen Straßenschildern wieder fandest.“ (ebd., Kommas vor und nach „nicht ohne Rührung“ gestrichen, die Aufspaltung von „wiederfandest“ ist ein zusätzlicher Schnitzer)

Besonders rücksichtslos gingen die Bearbeiter gegen Thomas Mann vor. Dessen „Krull“ beginnt nun so: „Indem ich die Feder ergreife um in völliger Muße und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (sodass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärts schreiten können), indem ich mich also anschicke meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin.“ Abgesehen von der Änderung bei der Wortschreibung – „sodass“ und „vorwärts schreiten“ – sind drei Kommas gestrichen. Weiter heißt es: „Hier blühen ... jene berühmten Siedlungen, ... hier Rauenthal, Johannisberg, Rüdesheim und hier auch das ehrwürdige Städtchen, in dem ich wenige Jahre nur nach der glorreichen Gründung des Deutschen Reiches das Licht der Welt erblickte.“ Im Original stehen nach „ich“ und „Reiches“ Kommas; durch ihre Beseitigung werden Stil und Rhythmus völlig verändert.

Als diese folgenschweren Eingriffe bekannt wurden, erklärten zahlreiche bekannte Autoren, u. a. Aichinger, de Bruyn, Grass, Sarah Kirsch, Kunert, Kunze, Hermann und Siegfried Lenz, Muschg und Walser, daß sie jede Anwendung der Rechtschreibreform auf ihre Texte ablehnen. Die Verlage und die Inhaber der Autorenrechte untersagten den Schulbuchverlagen solche eigenmächtigen Veränderungen und verpflichteten sie zur Rücknahme in den nächsten Auflagen. Das „Sprachbuch 10“ zum Beispiel wurde daraufhin nochmals überarbeitet und aufs neue herausgebracht. Übrigens setzen die Reformer selbst die Kommas wie bisher, und die führenden Schweizer Mitglieder der Rechtschreibkommission haben schon 1996 in ihrem „Handbuch Rechtschreiben“ gefordert, die bisherige Kommasetzung im wesentlichen beizubehalten.

Bekannte Merkverse wurden für die neuen Sprachbücher umgeschrieben: „Aber, Atem, Eber, eben, Osten: Buchstaben so ganz allein, liebes Kind das darf nicht sein.“ Daraus wurde: „A-ber, E-ber, e-ben, O-fen, U-fer: Vokale stehen auch allein, das finden sie besonders fein.“ - Eine eigene Pointe besteht darin, daß die „besonders feinen“ neuen Trennungen nicht einmal von der Reformkommission benutzt werden; nur an den Schulen sollen sie „keine Fehler“ mehr sein.

Doch mit alldem nicht genug. Die Rechtschreibkommission hat unterderhand einen großen Teil der neuen Regeln bereits wieder zurückgenommen. Damit sind die umgestellten Schulbücher schon jetzt überholt. In „Verstehen und Gestalten“ Bd. 7 (Oldenbourg 1997) wird erwartet, daß die Schüler „hochbegabt“ und „vielversprechend“ getrennt schreiben; inzwischen ist aber laut neuestem Duden (22. Auflage), der in Absprache mit der Kommission verfaßt und von dieser für zuverlässig erklärt wurde, die Zusammenschreibung auch wieder möglich, oft sogar unumgänglich. Rund 15 Millionen gerade erst angeschaffte (oder von Bertelsmann geschenkte) Wörterbücher können von Lehrern nicht mehr benutzt werden, da sie für Korrekturzwecke untauglich sind.

Am meisten leidet die Sprachfähigkeit der Kinder. Wie hatte der führende Reformer, Gerhard Augst, im Jahre 1982 gesagt, als er sein Unternehmen noch nicht im Ernst als „Erfolg versprechend“ ansehen durfte? „Eine Änderung geltender Konventionen und Normen über den Schüler zu erreichen, ist zwar verlockend und wäre, wenn es gelänge, auch am erfolgversprechendsten, aber sie setzt an am schwächsten Glied in der Kette.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

2002

www.linse.uni-essen.de/linse/publikationen/rechtschreibreform


Zuletzt bearbeitet von Manfred Riebe am Montag, 28. Jun. 2004 18:36, insgesamt 2mal bearbeitet
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Manfred Riebe



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Beitrag: Montag, 28. Jun. 2004 13:24    Titel: Kinder- und Jugendbücher Antworten mit Zitat

Richtig falsch.
Die Rechtschreibreform in Kinder- und Jugendbüchern


Theodor Ickler

„Jakob bat und bettelte dabei bleiben zu dürfen.“ Das soll Michael Ende geschrieben haben. In Wirklichkeit hat er geschrieben: „Jakob bat und bettelte, dabeibleiben zu dürfen.“ Die nicht gerade leserfreundliche Änderung geht auf das Konto des Verlags, der den „satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch“ des verstorbenen Schriftstellers durch viele hundert Eingriffe auf Reformschreibung getrimmt hat. Seit 1996 ist nahezu die gesamte Kinder- und Jugendliteratur in dieser Weise verändert worden. Was die Schulbuchverleger betrifft, so hatten sie keine Wahl, nachdem die Kultusminister im Sommer 1996 (zwei Jahre vor dem Inkrafttreten der Reform und neun Jahre vor dem Ende der Übergangszeit) angekündigt hatten, keine neuen Schulbücher in herkömmlicher Orthographie mehr zulassen zu wollen. Aber die Kinder- und Jugendbuchverlage ließen es an vorauseilendem Gehorsam gleichfalls nicht fehlen, wobei sie geltend machten, die Kunden wünschten es so – eine Begründung, die nie genauer belegt wurde. Ein Geschäft war mit den umgestellten Büchern zwar nicht zu machen; die Umstellung bereits vorliegender Bücher kostet pro Titel zwölf- bis fünfzehntausend Mark, und der Umsatz erhöhte sich keineswegs. Die Aktion hat aber nicht unwesentlich zur gegenwärtigen Scheinblüte der Reformorthographie beigetragen.

Weder korrekt noch richtig

Bisher ist es noch niemandem gelungen, die neuen Regeln auch nur einigermaßen korrekt anzuwenden. Im Jahre 1996 war noch ziemlich unklar, wie das umfangreichste und komplizierteste Orthographie-Regelwerk aller Zeiten überhaupt auszulegen sei. Meist hielt man sich an den neuen Duden, der zum Beispiel (mit Billigung einiger Reformer) die Auskunft gab, „wiedersehen“ und viele ähnliche Wörter seien jetzt getrennt zu schreiben. Dieser Irrtum, dem sich nach und nach alle anderen Wörterbücher anschlossen, wurde erst mit der Neubearbeitung vom August 2000 korrigiert – Zeit genug, um die falsche Schreibweise in Tausende von Büchern eindringen zu lassen:

„Kann es nicht sein, dass du sie noch wieder findest?“ (Kirsten Boie: Kerle mieten. Oetinger)
„Überhaupt war der Hummerfischer jetzt nicht wieder zu erkennen.“ (James Krüss: Mein Urgroßvater und ich. Oetinger). „Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er sie wieder erkannte.“ (Andreas Steinhöfel: Beschützer der Diebe. dtv junior)

Viele Fehler entstehen auch durch Übergeneralisierung der neuen Regeln: „‘Geschähe ihr Recht’, meinte er bitter.“ (Thomas Jeier: Hilferuf aus dem Internet. Arena) „Ratte ist immer an allem Schuld.“ (Das große Jahrbuch für Kinder 1999. Velber) „‘Morgen!’, sagte er Hände reibend.“ (Brigitte Blobel: Die Neue, mein Bruder und ich. Schneider) „Die Geschwister hatten längst mit dem Geld verdienen angefangen.“ (Paul Maar: Philipp hat Glück. Ellermann)

Auch solche Irrtümer und Mißgriffe sind aufschlußreich, zeigen sie doch, was Lektoren heutzutage für möglich halten und wie weit sie zu gehen bereit sind.

Nicht korrekt, aber richtig

Der häufigste Fehler besteht natürlich darin, daß bisherige Schreibweisen weiterverwendet werden: „langbewimperte Lider, schattenspendende Dächer, schiefgehen, brühendheiß“ (Stefan Wolf: TKKG – Im Schloss der schlafenden Vampire. Pelikan) „Es tut mir leid!“ (Doris Schröder-Köpf / Ingke Brodersen: Der Kanzler wohnt im Swimmingpool. Campus) „ein schwarzgelockter Knabe“ (ebd.) (Der Campus-Verlag hat das Buch der Kanzlergattin zwar in reformierter Rechtschreibung herausgebracht, doch sind dabei einige Dutzend Fehler unterlaufen – wie man sieht, durchaus nicht immer zum Schaden des Buches.)

Daß „noch mal“ neuerdings zusammengeschrieben werden muß, hat fast niemand mitbekommen, denn es steht an sehr versteckter Stelle im neuen Regelwerk.

Korrekt, aber nicht richtig

Zu den übelsten Folgen der Reform gehört die grammatisch falsche Getrenntschreibung in Fällen wie: „Dein Appetit ist Furcht erregend!“ (Krüss: Urgroßvater) Zwar haben die Reformer einen Teil dieser Schnitzer inoffiziell wieder zurückgenommen, aber davon wissen die Verlage noch nichts. Die Getrenntschreibung breitet sich epidemisch aus: „Es klang alles miteinander Furcht erregend.“ (Astrid Lindgren: Rasmus und der Landstreicher. Oetinger) „Er sah plötzlich viel größer und sehr Ehrfurcht gebietend aus.“ (M. Ende: Wunschpunsch)

Ebenso ärgerlich und sogar für Kinder schon erkennbar ist der grammatische Fehler bei der neuen Großschreibung: „Oh, das tut mir Leid.“ (Norbert Blüm: Franka und Nonno. Riesenrad 2001) „Das tut uns allen wirklich sehr Leid.“ (Marianne Koch: Tief einatmen! Hanser) „so Leid es Lilli auch tut“ (Knister: Hexe Lilli und das wilde Indianerabenteuer. Arena) „Ich musste die Tränen zurückdrängen, so Leid taten sie mir“ (Ursula Isbel: Pferdeheimat im Hochland. Bertelsmann) „Die Partei, die Partei hat immer Recht“ (Schröder-Köpf/Brodersen) „Und so ganz Unrecht hatten sie damit nicht“ (Joachim Friedrich: 4 1/2 Freunde und das Geheimnis der siebten Gurke. Thienemann/Bertelsmann)

Dabei hat Konrad Duden persönlich die Sache schon 1876 klargestellt:

„Bei Ausdrücken wie ‘leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein; mir ist angst, wohl, wehe, not’ ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element nicht als Substantivum fungiert; man erkennt die nicht substantivische Natur jenes Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt ‘er (...) hat ganz recht, hat vollständig unrecht’ u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von Adjektiven, zeigt, daß man EINEN verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem substantivischen Objekt vor sich hat.“ (Die Zukunftsorthographie. Leipzig)

Unseren Reformern scheint dieses Grundwissen abhanden gekommen zu sein.

Korrekt, aber nicht gut

Am einfachsten war es, all jene Kommas zu tilgen, die nach der Neuregelung nicht mehr stehen müssen, aber durchaus noch stehen dürfen und in den allermeisten Fällen um der Lesbarkeit willen auch stehen sollten: „Sie haben einen Hohen Rat einberufen und der hat entschieden geheime Botschafter in alle Himmelsrichtungen zu schicken.“ (M. Ende: Wunschpunsch) „Wir treffen uns gegen fünf Uhr bei ihr um alles wegen heute Nacht zu besprechen.“ (Steinhöfel: Beschützer der Diebe) „Natürlich hörte ich trotzdem nicht auf die Hälfte meines Taschengeldes für Anti-Aknemittel auszugeben.“ „Ich bekam plötzlich Angst mit ihr alleine zu sein und schlug ihnen vor doch einfach mal hochzugehen. Daniel würde sich bestimmt freuen sie zu sehen.“ (Christian Bieniek: Immer cool bleiben. Arena)

Was längst zu einem neuen Wort mit neuer Bedeutung verschmolzen war, nimmt die Rechtschreibreform künstlich wieder auseinander: „Er warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu.“ (Blobel: Die Neue) „Sie warf mir einen viel sagenden Blick zu. (...) Tanja sah mich viel sagend an.“ (Zimmermann/Zimmermann: Mathe, Stress und Liebeskummer. Thienemann) Die lächerliche Aufspaltung von „sogenannt“ ist ja auch in Zeitungen allgegenwärtig und braucht nicht belegt zu werden.

Mit Michael Ende ist der undankbare Verlag besonders grob umgesprungen. Der Verfasser wußte doch wohl, warum er schrieb: „Aus Nichts schöpfst du immerfort Geld, und mit Geld kann man Alles machen.“ Daraus wird in der Neubearbeitung: „Aus nichts schöpfst du immerfort Geld und mit Geld kann man alles machen.“ Die Banalisierung hat Methode: „wer brunnenvergiftet“ wird zu „wer Brunnen vergiftet“, der Eigenname „Sankt Sylvester“ zu „Sankt Silvester“. Die altkluge Belehrung der Reformer, „behende“ komme eigentlich von „Hand“ und sei daher mit ä zu schreiben, wird ebenfalls befolgt: „Irrwitzer eilte davon und Tyrannja folgte ihm mit überraschender Behändigkeit.“ Die archaisierende Schreibweise legt irreführenderweise den Gedanken nahe, beim Davoneilen spielten die Hände eine nennenswerte Rolle. In anderen Fällen wirkt die etymologische Klügelei noch aufdringlicher: „Ich schnäuzte in mein Taschentuch.“ (Boie: Kerle mieten)

Wer zigtausend derartige Fehler gesehen hat, muß zu der Einsicht kommen, daß mit einer objektiv minderwertigen Rechtschreibung keine hochwertigen Texte hervorgebracht werden können. Die solide oder gar prächtige Ausstattung mancher neuen Bücher, wie im Falle des Bestsellers von Doris Schröder-Köpf, läßt den Widersinn nur um so krasser hervortreten.

Auch wer keine Grammatikregeln aufsagen kann, hat doch ein Gespür für Wortarten und Zusammensetzungen. Die intuitive Sprachkenntnis, das sogenannte Sprachgefühl, wird durch systematische Einübung des Falschen unweigerlich zerrüttet. Dieser Schaden wiegt schwerer als die vergeudeten Milliarden.

Aber auch der nie berechnete materielle Schaden ist nicht gering zu veranschlagen: In ganz Deutschland bitten Leihbüchereien nun um Spenden für die angeblich dringend notwendige Auswechselung „veralteter“ Kinderbücher gegen reformierte. In einer mittleren Stadt wie Fürth wird der Umfang der Aktion auf 2000 Bände geschätzt, bei einem Anschaffungsetat von 130.000 DM für die gesamte Bibliothek keine Kleinigkeit. Nur wenige Verantwortliche haben bisher zur Kenntnis genommen, daß die Reform von 1996 schon wieder überholt ist. Die Reformkommission hat einen Teil jener Korrekturen, die ihr im Anschluß an die Mannheimer Anhörung (Januar 1998) untersagt worden waren, dennoch in die neuesten Wörterbücher von Duden und Bertelsmann eingeschleust. Es wäre aber ein arger Fehler, nun sogleich auf diese reformierte Reformschreibung umzusteigen, denn die nächste Welle von halbherzigen Rücknahmen wird gerade vorbereitet.

Linguistik-Server Essen (2002)

www.linse.uni-essen.de/linse/publikationen/rechtschreib_kinder_jugend.html
_____________________________________________________________

LINSE - Linguistik-Server Essen: Diskussionsforum
Diskussion über Sprache, Sprachwissenschaft und verwandte Themen

Zur Rücknahme der sogenannten Rechtschreibreform:
http://www.linse.uni-essen.de/phpBB2/viewtopic.php?p=7#7
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Manfred Riebe



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Beitrag: Donnerstag, 11. Nov. 2004 10:06    Titel: Die neue Rechtschreibung in den Schulen Antworten mit Zitat

Schulbücher

Viel sagende Blindschleiche
Die neue Rechtschreibung in den Schulen

Von Theodor Ickler

Es dürfte nur sehr wenige Lehrer geben, die das amtliche Regelwerk zur neuen Rechtschreibung in seiner ganzen Kompliziertheit studiert haben - was auch kaum zumutbar wäre. Die meisten Lehrer kennen wahrscheinlich stark vereinfachte Kurzfassungen, im Zweifel schlagen sie einfach im Wörterbuch nach. Daß es vom Duden inzwischen drei völlig verschiedene reformierte Auflagen gibt (1996, 2000 und 2004; dazu die immer noch gültige nichtreformierte von 1991), haben sie vielleicht gehört, aber in seinen Konsequenzen nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Dem entspricht ihre Korrekturpraxis. Alle diese Wörterbücher sind „gültig“, denn dazu genügt es laut Anweisung der Kultusminister, daß die Verlage sich auf die amtliche Neuregelung berufen. Wie weit sie diesen Regeln wirklich gerecht werden, ist niemals nachgeprüft worden. Das dürfte auch nicht leicht sein, denn die Regeln haben sich als äußerst schwerverständlich und auslegbar erwiesen.

Es ist bisher kein einziges Schulbuch bekannt geworden, das die Reform korrekt umsetzt. Man findet die gewohnten Übergeneralisierungen der neuen Getrenntschreibung. Wasseramseln, so erfahren wir aus einem Gymnasiallehrwerk, ernähren sich von „Wasser bewohnenden Insektenlarven“ („Natura. Biologie für Gymnasien 6“, Klett 1998 ). Nichtumgestelltes „sogenannt“, „rauh“, „zuviel“ steht neben hyperkorrektem „heiss“, „zusammennähen“, „zurückkommen“ („Kennzeichen C, 5. Klasse“, Auer 1997). Krasse Fehler kennzeichnen „Wort & Co. 5“ (Buchner 1997): „das“ und „dass“ werden verwechselt, die Anrede „Du“ ist groß geschrieben. In fast allen umgestellten Schulbüchern der ersten Generation ist „wiedersehen“ getrennt geschrieben - ein Irrtum, der aus dem unklaren Paragraphen 34 des neuen Regelwerks folgte und sich damals über alle Wörterbücher und die ganze Sprachgemeinschaft verbreitete. Noch schlimmer sind die „korrekten“, aber grammatisch falschen Umsetzungen der Reform: „Die Blindschleiche lächelte viel sagend“ („Überall ist Lesezeit 4“, Oldenbourg 1997), „. . . tat er ihr Leid“ („Verstehen und Gestalten 10“, Oldenbourg 1996).

Das Verschwinden der Kommas

Die Reihe ließe sich endlos fortsetzen. Die Schwierigkeiten der neuen Rechtschreibung sind so groß, daß ein bekannter Sprachbuch-Verfasser den Rat gibt, im Zweifel lieber eine andere Formulierung zu wählen (Gerhard Schoebe in „Verstehen und Gestalten 10“). Wie Lesestücke und Lektürehefte durch die zudem noch fehlerhaft angewandte Neuschreibung entstellt worden sind, ist oft genug gezeigt worden.

Was lernen die Schüler eigentlich von der neuen Rechtschreibung? Im Rechtschreibwortschatz der gesamten Grundschulzeit gibt es nach amtlichen Angaben nur 24 veränderte Wörter, allesamt wegen der s-Schreibung. Nach einer Übersicht des sächsischen Kultusministeriums handelt es sich um folgende Wortformen: 1. Klasse: „muss“; 2. Klasse: „fasst“, „lässt“; 3. Klasse: „biss“, „isst“, „misst“, „nass“, „passt“, „riss“, „vergiss“, „wusste“; 4. Klasse: „Fass“, „floss“, „Fluss“, „frisst“, „goss“, „Nuss“, „presst“, „schoss“, „Schuss“, „schloss“, „Schloss“, „Schluss“. (Hinzu kommt sicherlich „dass“.)

Von der Kommasetzung dürfte hauptsächlich der Eindruck zurückbleiben, dass man Kommas jetzt weitgehend weglassen kann - was die Schüler zwar schon immer gern getan haben, aber jetzt ist es „richtig“. Weder Lehrer noch Schüler wissen, daß die reformierte Kommasetzung ungemein kompliziert ist. In dem Sprachratgeber „Wahrig: Fehlerfreies und gutes Deutsch“ (Bertelsmann 2003) umfasst die Rechtschreibung 202 Seiten, davon gelten allein 56 Seiten der Kommasetzung.

Die Schüler dürften am Ende ihrer Schullaufbahn wissen, daß man die Tageszeiten nach Datumsangaben jetzt groß schreiben soll, auch wenn die Annahme von Substantiven in dieser Position nicht einleuchtet: „heute Morgen“. Die Anrede „du“ soll man auch in Briefen klein schreiben, weil in Duz-Beziehungen „keine besondere Ehrerbietung“ notwendig sei. Die meisten Zeitungen schreiben allerdings nach einem Beschluß der Nachrichtenagenturen jedes „Du“ groß, auch in Sprechblasen und Wortwitzen. Die veränderte Umlautschreibung („Stängel“, „Gämse“) und Fremdwortschreibung („Känguru“, „Nessessär“) kommen so selten vor, daß sie für die Schule so irrelevant sind wie der „Mopp“.

Die Sextaner lernen: „Alt: Aber, Atem, Eber, eben, Osten: Buchstaben so ganz allein, liebes Kind das darf nicht sein. Neu: A-ber, E-ber, e-ben, O-fen, U-fer: Vokale stehen auch allein, das finden sie besonders fein.“(„Sprachbuch 5“, Bayerischer Schulbuchverlag 1996) Da Schüler jedoch selten trennen, fällt diese „besonders feine“ Errungenschaft kaum ins Gewicht. Als weitaus wichtigste Neuerung bleibt also die Heysesche s-Schreibung („Kuss“ statt „Kuß“, „dass“ statt „daß“ etc.). Sie ist, wie die Praxis zeigt, sehr fehlerträchtig. Das hat schon nach den österreichischen Erfahrungen im 19. Jahrhundert dazu geführt, sie wieder fallenzulassen. Heute ist sie symbolisch aufgeladen, weil ihre Anwendung signalisiert, dass man die Rechtschreibreform nicht grundsätzlich ablehnt.

Der Autor ist Professor für deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Erlangen.

E-Mail-Adresse des zuständigen Ressorts:
karriere-online@sueddeutsche.de

Süddeutsche Zeitung Nr. 261, Mittwoch, den 10. November 2004 , Seite 17

www.sueddeutsche.de/jobkarriere/berufstudium/artikel/736/42694/
_________________________________

Anmerkung:

Hat die Online-Redaktion den Text teilweise in die ss-Schreibung verfälscht: dass 2x, umfasst? Aber man sieht auch: Daß es vom Duden, daß die Verlage, daß ein bekannter Sprachbuch-Verfasser, daß die reformierte, daß man die Tageszeiten, Beschluß der Nachrichtenagenturen, Beschluß der Nachrichtenagenturen.

Man weiß also nicht, ob Professor Ickler oder die SZ die Fehler bzw. die Beliebigkeitsschreibung produziert hat.

SZ-Online verwendet die häßlichen englischen Zollzeichen als Anführungszeichen. Ich habe sie in mitteleuropäische Anführungszeichen umgewandelt. Siehe dazu: Deutsche Anführungszeichen - www.vrs-ev.de/forum/viewtopic.php?p=404#404 -.

Im Text steht übrigens der Hinweis:
mehr zum Thema Forum: Rechtschreibung – die deutscheste aller Dampfschif(f)fahrten
www.sueddeutsche.de/app/service/forum/postlist.php?Board=Rechtschreibung
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